Kommentar von Wolf-Dieter Vogel: Gemordet wird jetzt noch gezielter

Nr. 41 –

Das Massaker von Guerrero ist kein Einzelfall. Für einmal ist jedoch die Verschleierungstaktik der mexikanischen Regierung nicht aufgegangen.

Schockierend, schmerzhaft und inakzeptabel sei der Vorfall, verkündete der mexikanische Präsident Enrique Peña Nieto, nachdem am Wochenende nahe der Stadt Iguala mehrere Massengräber gefunden worden waren. Für die Hinterbliebenen des Massakers an mindestens 28 Studenten im südmexikanischen Bundesstaat Guerrero muss das Bedauern des Staatschefs wie Hohn geklungen haben.

Denn zu diesem Zeitpunkt hatten die Angehörigen schon über eine Woche nach 43 jungen Männern gesucht, die seit einem Angriff von PolizistInnen und Mafiosi Ende September verschwunden waren. Kein einziger hoher Regierungsvertreter war da gekommen, um mit den Müttern, Vätern und Geschwistern zu sprechen. Die Regierung habe schon wieder den «Weg der Straflosigkeit und des Verschleierns» eingeschlagen, kritisierte die Menschenrechtsorganisation Tlachinollan. Auch die Generalstaatsanwaltschaft reagierte zunächst nicht. Die Angehörigen selbst waren es, die ZeugInnen befragten und Fotos auswerteten. Ihre Proteste sorgten dafür, dass der blutige Vorfall nicht wie so viele Verbrechen in Guerrero in Vergessenheit geriet.

Was war geschehen? Am 27. September stoppten PolizistInnen in Iguala drei Busse, die von den Studenten der pädagogischen Fachschule Ayotzinapa «beschlagnahmt» worden waren, um nach einer Spendenaktion nach Hause zu kommen. Dann eröffneten die BeamtInnen das Feuer. Kurz darauf beschossen Maskierte einen weiteren Bus sowie eine Ansammlung junger Studenten. Mindestens sechs Personen starben an diesem Tag. Von 43 Studenten fehlte jede Spur, bis ein Polizist und ein Killer der kriminellen Organisation Guerreros Unidos (Vereinigte Krieger) die Ermittler zu den Gräbern führten, in denen 28 Leichen lagen. Verkohlt und zerstückelt. Nach Aussagen der beiden Männer soll der Polizeichef Francisco Salgado Valladares die Festnahme der Studenten verfügt haben; die Hinrichtung sei von «El Chucky», dem sogenannten örtlichen Chef der Guerreros Unidos, angeordnet worden. Fünfzehn Studenten werden noch vermisst.

Dass die lokale Polizei und die Mafia in Guerrero gemeinsame Sache machen, ist nicht neu. Ein führender Politiker der Landesregierung, der anonym bleiben will, bestätigt gegenüber der WOZ, dass die meisten Rathäuser von Gruppen der organisierten Kriminalität kontrolliert werden. Daran änderte auch die Mobilisierung der Armee nichts, die der ehemalige Staatschef Felipe Calderón 2006 im Rahmen seines «Kriegs gegen die Mafia» in Gang gesetzt hatte: Das korrupte Geflecht von Kriminellen und PolitikerInnen blieb von der Präsenz der SoldatInnen unberührt. Nicht anders sieht es aus, seit Peña Nieto vor knapp zwei Jahren die Präsidentschaft übernahm. Weiterhin sterben täglich Menschen im «Drogenkrieg». Letztes Jahr wurden allein in Guerrero 2100 Menschen ermordet, und die Zahl der Verschwundenen nimmt zu: 2013 waren es 3000.

Geändert hat sich hingegen das Vorgehen der Kriminellen: Früher bekämpften sich die Banden vor allem untereinander; es ging um Transportrouten und Anbauflächen für Drogen. Inzwischen gehen sie immer stärker gegen die Bevölkerung vor. Gruppen wie die Vereinten Krieger sind mehr denn je in lokale Geschäfte wie den illegalen Holzschlag und den Eisenerzabbau eingebunden. Im Auftrag von korrupten PolitikerInnen und heimischen UnternehmerInnen greifen sie gezielt KritikerInnen an. In den letzten beiden Jahren wurden in Guerrero mindestens fünf Menschenrechtsaktivistinnen ermordet. Das deutet auf eine Paramilitarisierung hin, wie man sie aus Kolumbien kennt.

In dieser Entwicklung dürfte auch das Massaker begründet sein. Bislang ist nicht bekannt, warum El Chucky angeordnet hat, die jungen Männer zu massakrieren. Ausser Frage steht jedoch, dass die Ayotzinapa-Studenten den Mächtigen in der Region lästig sind. Gilt es, Indigene gegen ein Bergbauprojekt zu verteidigen, sind sie als Erste mit dabei. Werden linke AktivistInnen verhaftet, gehen sie auf die Strasse. Sie stammen aus einfachen Verhältnissen, durch die Ausbildung können sie in ihren Dörfern als Grundschullehrer arbeiten. Sie sehen sich in der Tradition der zahlreichen Aufständischen in der Geschichte Guerreros. Nicht zuletzt deshalb zeigte die Bundesregierung nie Interesse, Ayotzinapa zu erhalten; immer wieder gab es Versuche, die Ausbildungsstätte zu schliessen.

Wenn Peña Nieto nun BundespolizistInnen und zusätzlich SoldatInnen geschickt hat, wenn er nun lokale BeamtInnen entwaffnen liess, ist das vor allem der grossen internationalen Empörung über den Fall geschuldet. Sobald das Rampenlicht erlischt, wird sich in der Regierung niemand mehr dafür interessieren. 2011 erschossen PolizistInnen zwei Ayotzinapa-Studenten, bis heute sind die TäterInnen nicht strafrechtlich verfolgt worden. 246 geheime Gräber sind während Peña Nietos Amtszeit in Mexiko schon gefunden worden.

Der Krieg geht weiter. Für die Menschen im verarmten Bundesland heisst das: noch mehr Tote, noch mehr Verschwundene, noch mehr Angst vor den Uniformierten und Kriminellen, die längst das Strassenbild vieler Dörfer dominieren. Auf Hilfe von aussen werden sie dann wieder vergeblich warten.