Bildungspolitik: Das Misstrauen der LehrerInnen

Nr. 4 –

Sprechen überhaupt alle vom gleichen Text? Diese Frage stellt sich immer wieder, wenn vom Lehrplan 21 die Rede ist. So verschieden wird dieser erste Versuch eines einheitlichen Deutschschweizer Volksschullehrplans interpretiert.

Zeugt er von einem «zutiefst demokratischen Verständnis von Schule», wie Christine Flitner von der Gewerkschaft VPOD schreibt? Oder soll mit ihm «alles, was in der Schule gelernt wird, mess- und vergleichbar gemacht werden», wie die Lehrer Alain Pichard und Beat Kissling befürchten? Ist er eine rigide Anleitung oder eine offene Anregung?

Bestimmt haben schon die Pädagoginnen und Fachdidaktiker, die den Lehrplan 21 im Auftrag der Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) ausarbeiteten, nicht alle das Gleiche darunter verstanden. Genauso wird der Lehrplan bei der Umsetzung sehr verschieden interpretiert werden.

Für den grünen Berner Erziehungsdirektor Bernhard Pulver ist der Fall allerdings klar: «Der Lehrplan ist ein Kompass, kein Gesetzbuch, das man sklavisch umsetzen muss. Es droht keine Lehrplanpolizei.» Er wünsche sich Lehrerinnen und Lehrer, die auf sich vertrauten, verschiedene Unterrichtsformen ausprobierten, nicht nur nach Schema unterrichteten. «Die Lehrpersonen sind nicht Lehrplananwendungsmaschinen, sondern mündige Fachleute.»

Es wäre schön, wenn das alle Schulbehörden so sähen. Doch lange nicht überall werden die LehrerInnen so respektiert. Die Schule sei hierarchischer und bürokratischer geworden, kritisieren sie in vielen Kantonen. Sie fühlen sich übergangen, kontrolliert, nicht ernst genommen – von Schulleiterinnen, Schulinspektoraten, Vertretern der pädagogischen Hochschulen.

Da verbietet die Schulleitung einer Lehrerin, sich öffentlich politisch zu äussern, dort wird ein Schulleiter nur eingestellt, wenn er verspricht, sich über die LehrerInnen hinwegzusetzen. Viele spüren von oben vor allem eines: Misstrauen. Kein Wunder, dass sie selbst mit Misstrauen auf Reformen von oben reagieren. Ein Schulleiter, dem es um seine persönliche Macht geht, kann auch den Lehrplan 21 benutzen, um seine Untergebenen zu kontrollieren.

Einiges ist wirklich gut am neuen Lehrplan: Er gibt der Umwelt- und der politischen Bildung den Platz, die sie verdienen. Auch dass er in der Oberstufe die Themen Wirtschaft, Arbeit und Haushalt zu einem Fach zusammenfasst, ist erfreulich. Es stimmt, die Anforderungen sind hoch – aber dass die Bildung hohe Ziele steckt, ist nicht problematisch. Sondern dass die hohen Ziele letztlich der Selektion dienen. Das ist nicht neu und nicht die Schuld des Lehrplans 21.

Doch wie soll die Schule das alles umsetzen? Eine Schule, die überall sparen soll, in der immer weniger Zeit für das einzelne Kind bleibt? Die Oberstufenzeit ist für viele Jugendliche zu einer Zeit der Angst geworden: Angst, keine Lehrstelle zu finden, den Anforderungen des Lehrbetriebs nicht zu genügen, an der Gymiprüfung zu scheitern. Da bleibt kaum noch die Konzentration, um sich in die spannenden Themen zu vertiefen, die der Lehrplan vorsieht: die Französische Revolution, die Analyse von Figuren in literarischen Texten oder erneuerbare Energien.

Und die Angst wird immer jünger: In der Nordwestschweiz beginnen die schulübergreifenden «Checks» schon in der dritten Primarklasse – mit dem entsprechenden Druck auf die LehrerInnen, den Unterricht auf diese Tests auszurichten. Das sind viel grössere Gefahren für die humanistische Bildung als Begriffe wie «Kompetenzen» oder «Lernumgebungen» im Lehrplan. Checks und Sparmassnahmen: Dagegen sollten sich LehrerInnen und Linke wehren.

Denn um zu verhindern, dass er zum Kontrollinstrument wird, muss man nicht den Lehrplan 21 selbst bekämpfen, sondern sich für Strukturen und Behörden einsetzen, die die LehrerInnen stärken, damit sie den Unterricht selbstbewusst gestalten können. Damit sie als das respektiert werden, was sie sind: mündige Fachleute.