Selbstverwaltung: «Dann wirst du eingestampft»

Nr. 6 –

Zwei emblematische Kulturzentren in der Romandie, der «Pantographe» in Moutier und die «Usine» in Genf, sind unter Druck geraten. Mit zahlreichen Aktionen wird für die Alternativen im Kulturbereich gekämpft – und für das Modell der Selbstverwaltung.

Eine schweizweit einmalige Kunstfabrik mit internationaler Ausstrahlung: Dem «Pantographe» in Moutier droht die Schliessung. Foto: Gilles Strambini

Am 9. Januar zeigt sich auf dem Bahnhofsplatz der verschlafenen Kleinstadt Moutier im Berner Jura ein ungewohntes Bild. Die meisten der rund 250 DemonstrantInnen tragen eine gelbe Warnweste, beschriftet mit Slogans zur Unterstützung des «Pantographe», eines selbstverwalteten Kulturareals, dem auf Ende Februar die Räumung droht.

Der gelbe Zug macht sich auf den Weg zum Rathaus, um die rund 3000 Unterschriften einer Petition zum Erhalt des «Pantographe» zu übergeben. Vorneweg ein Punkpaukenensemble, das Blechfässer scheppern lässt, gleich dahinter, über die breite Strasse gespannt, ein Transparent mit nur einem Wort: «Pourquoi?»

Mehr mit wenig Geld

Dieses «Warum?» richtet sich an den Gemeinderat von Moutier. Denn die Behörden haben bis dahin nichts zur Rettung des «Pantographe» unternommen. Dabei hat das Kollektiv in einer ausgedienten Fabrik, der Usine Junker, etwas schweizweit Einmaliges auf die Beine gestellt, das nach bald zehnjährigem Bestehen über internationale Ausstrahlung verfügt. Hier können KünstlerInnen und andere Interessierte bei einer Mindestdauer von einer Woche unentgeltlich an ihren Projekten arbeiten. Von den NutzerInnen werden lediglich eine öffentliche Aufführung des Geschaffenen und Unterstützung im Haushalt auf den 1500 Quadratmetern erwartet. Für eine kreative Residenz sind weder ein Dossier noch Fördergelder nötig. «Die Wertschätzung des Savoir-faire jeder und jedes Einzelnen entspricht unserer Auffassung von Selbstverwaltung», erläutert Ondine Yaffi, eine der drei ständigen KoordinatorInnen des «Pantographe». «Wir möchten zeigen, dass man sehr viel mehr auch mit wenig Geld machen kann, nämlich mit den Fähigkeiten und der Verschiedenartigkeit der Menschen.» Als künstlerischer und sozialer Experimentierraum beherbergt der «Pantographe» pro Jahr vierzig Personen aus dem In- und Ausland.

Nach Yaffis Auffassung ist es paradoxerweise der Verzicht auf Subventionen, der einer angemessenen Anerkennung des «Pantographe» im Weg steht: «Alle rufen aus, dass die Kultur zu viel koste. Dann stellst du etwas zur Verfügung, das das künstlerische Schaffen weiterbringt, ohne dass Kosten anfallen, und du wirst eingestampft. Alle Strukturen, die anders funktionieren, werden geschlossen, oder sie institutionalisieren sich.»

Kultur – eine Privatsache?

Die Aufforderung des Maschinenherstellers Tornos SA, dem die Usine Junker gehört, das Gelände zu räumen, kam im Oktober 2015 unvermittelt. Noch 2013 hatte die ehemalige Direktion dem Kollektiv des «Pantographe» den Verkauf des Gebäudes mündlich zugesichert. Davon will die neue Direktion von Tornos in Moutier nun nichts mehr wissen. Wiederum stellt sich die Frage nach dem Warum. Das finanziell angeschlagene Unternehmen macht eine Rationalisierung seines Immobilienbestands und Eigenbedarf am Gebäude geltend. Dem folgt keine Präzisierung, was es mit dem heimatgeschützten, kaum umnutzbaren Gebäude vorhat. «Für jede andere Räumung wird eine Begründung angegeben», ärgert sich Yaffi vom «Pantographe». «Aber hier: nichts. Ihr werdet schon sehen, haben sie uns gesagt.» Hinsichtlich des Fortbestands des «Pantographe» zeigt die neue Direktion keinerlei Diskussionsbereitschaft.

Funkstille herrschte lange auch seitens des Gemeinderats von Moutier. Auf die Untätigkeit angesichts der drohenden Schliessung angesprochen, sagt Marcel Winistoerfer, zuständig für das Kulturressort: «Wir haben in letzter Zeit tatsächlich nicht versucht, mit den Verantwortlichen des ‹Pantographe› zu sprechen. Schliesslich handelt es sich um eine private Angelegenheit zwischen ihnen und Tornos. Wir haben den grössten Respekt vor Tornos mit seinen Hunderten von Arbeitsplätzen in Moutier.»

So verstrichen vier Monate nach der Ankündigung der Räumung, bis der Gemeinderat zusammen mit dem kantonalen Amt für Kultur und dem Rat des Berner Jura die beiden Parteien am 3. Februar gesondert anhörte. Die Empfänger der Petition kommen in ihrem Communiqué zum Schluss, dass die Positionen unvereinbar seien, und bieten dem «Pantographe» ihre «guten Dienste» bei der Suche nach einer anderweitigen Lösung an. Dies unter dem Vorbehalt, dass man einvernehmlich ein Auszugsdatum finde.

Der Fall der «Usine»

Anders als der «Pantographe» hat die «Usine» in Genf eine gewisse Institutionalisierung durchgemacht. Das Kulturzentrum am Rhoneufer ist aus der Stadt nicht mehr wegzudenken. An Wochenenden sind die Säle gerappelt voll, sodass gelegentlich Ausgangslustige abgewiesen werden müssen. Einzelne der achtzehn in der «Usine» untergebrachten Beteiligten, die von Konzertveranstaltern über das Kino Spoutnik bis zu einem Coiffeursalon reichen, erhalten Subventionen von der Stadt.

Geblieben ist von den Anfängen vor über 25 Jahren das Prinzip der Selbstverwaltung. Über allgemeine Belange im ehemaligen Fabrikgebäude können alle Beteiligten in wöchentlichen Sitzungen gleichberechtigt entscheiden. Hierarchien und alleinige Orientierung am Profit werden abgelehnt.

Durch ein neues Gesetz zu Getränkeausschank und Vergnügungen, das der Genfer Staatsrat Pierre Maudet, Vorsteher des Departements für Sicherheit und Wirtschaft (DSE), 2015 vorgelegt hatte, sah die «Usine» ihre solidarischen Grundsätze unterlaufen. Statt nur einer kollektiven Bewilligung für die fünf verschiedenen Bars wurden nun fünf Einzelbewilligungen eingefordert. Die «Usine» protestierte gegen den Eingriff in ihre Abläufe mit Streiks, einer Petition und einer nächtlichen Demonstration Ende Oktober. «Das Gesetz sieht Einzelverantwortliche vor», moniert Samantha Charbonnaz von der «Usine». «Das stellt für alle Assoziationen mit kollektiver Verwaltung in Genf ein Problem dar. Wir sollen wie Unternehmen mit einem Patron funktionieren.»

Der autoritär auftretende Staatsrat Maudet machte es zu seinem persönlichen Anliegen, die «Usine» in die Schranken zu weisen. Indem der Kanton androhte, der «Usine» für 2016 den Geldhahn zuzudrehen, und Beiträge des Westschweizer Lotteriefonds zur Instandstellung der Infrastruktur blockierte, folgte er der harten Linie Maudets. Auf die Frage, was das DSE mit dem Gesetz hinsichtlich der Selbstverwaltung bezwecke, lässt das Departement vernehmen: «Einmal mehr die Selbstverwaltung ins Zentrum der Debatte zu stellen, ist ein schlechter Grundsatz. Das neue Gesetz hat es der ‹Usine› erlaubt, sich dem gesetzlichen Rahmen anzupassen, ohne die Selbstverwaltung aufzugeben.»

Unter dem Druck der Sanktionen und dem Schock von drastischen Kürzungen der Stadt Genf im Kulturbereich hat die «Usine» an Silvester, dem letzten Tag vor Inkrafttreten des Gesetzes, in einen unfeierlichen Kompromiss eingewilligt. Fünf individuelle Unterschriften gewährleisteten vorübergehend den Barbetrieb, Ende Januar hat es dann doch eine Globalbewilligung der Stadt gegeben. Dieses Arrangement unterstellt die «Usine» noch stärker dem Goodwill der Stadtverwaltung, wie Samantha Charbonnaz beklagt. Zudem seien andere Kollektive in Genfs reger Subkultur davon ausgenommen und weiterhin den strengeren administrativen Auflagen ausgesetzt.

Die Abhängigkeiten der selbstverwalteten Modelle vom jeweiligen Umfeld treten anhand des «Pantographe» und der «Usine» offen zutage. Deren Verdienst ist es, mit ihren Protesten in der französischsprachigen Schweiz eine Diskussion über den Sinn der Selbstverwaltung im Bereich des kulturellen Schaffens in Gang gebracht zu haben. Die egalitäre Organisationsform fördert die soziale und künstlerische Offenheit und wirkt der Tendenz zur Normierung entgegen. Umso alarmierender, wenn das Unverständnis oder die Feindschaft einzelner politischer und unternehmerischer MachtträgerInnen das über Jahre hinweg Erlangte mit einem Schlag zunichtemachen kann.

Autonome Kulturzentren : Wo das Kollektiv blieb

Als am 30. Mai 1980 eine wütende Menge junger Menschen gegen den Sechzig-Millionen-Kredit für das Opernhaus demonstrierte und ein autonomes Jugendzentrum forderte, waren Selbstverwaltung und Selbstbestimmung zwei zentrale Anliegen. Eigentlich hatte das Zürcher Stimmvolk schon drei Jahre zuvor zugestimmt, in der Roten Fabrik ein autonomes Kulturzentrum zu eröffnen. Doch erst auf Druck der Proteste, die bald darauf auch in anderen Städten entbrannten, setzte der Zürcher Gemeinderat die Initiative in die Tat um.

Heute ist die Rote Fabrik ein etablierter Betrieb in der Zürcher Kulturszene, der von der Stadt mit etwas über zwei Millionen Franken jährlich subventioniert wird. Selbstverwaltet und basisdemokratisch organisiert ist sie noch immer – und ist deshalb bis heute ein Dorn im Auge bürgerlicher PolitikerInnen, die die Rote Fabrik am liebsten schliessen lassen würden.

Eine der ältesten selbstverwalteten Kulturinstitutionen der Schweiz ist das autonome Jugendzentrum in Biel. Fünf Jahre bevor in Zürich die Jugendlichen vor dem Opernhaus demonstrierten, wurde die «Coupole», der «Chessu», mit einem Gitarrenkonzert eröffnet. Dem Grundsatz, selbstverwaltet und offen für alle Bevölkerungsgruppen zu sein, bleibt man bis heute treu: Noch immer werden Grundsatzentscheide durch die Vollversammlung getroffen.

In Bern wiederum ist der politische Kampf des jetzigen Neonationalrats Erich Hess gegen das Kulturzentrum Reitschule legendär: Fünf Abstimmungen hat der SVPler gegen die Reitschule lanciert, fünfmal hat er verloren. Die Reitschule, 1987 besetzt, 2004 per Miet- und Leistungsvertrag als Kulturzentrum offiziell von der Stadt akzeptiert, ist Ausgangsort, politisches Zentrum, Kollektiv und WG und für viele BernerInnen die erste Adresse des hauptstädtischen Nachtlebens. Während Hess’ Angriffe jeweils abgeschmettert werden, hat die Stadt 2015 erstmals Sanktionsmöglichkeiten in den Leistungsvertrag aufgenommen: Sollte sich die Reitschule nicht an die Leistungsvereinbarung halten – wenn sie zum Beispiel Treffen mit der Stadt fern bleibt oder «menschenverachtende» Graffiti (auch gegen die Polizei) nicht entfernt –, kann die Stadt Subventionen kürzen.

Meret Michel