Toni Morrison: Wie ein Jazzstück mit sich abwechselnden Solostimmen

Nr. 18 –

Aus einer schwarzen Perspektive: In ihrem neuen Roman «Gott, hilf dem Kind» erzählt die Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison, was die Hautfarbe mit einem macht.

Toni Morrison, Nobelpreisträgerin. Foto: T. Greenfield-Sanders

«Ich kann nichts dafür. Mir könnt ihr nicht die Schuld geben. Ich hab’s nicht gemacht, und ich habe keine Ahnung, wie es passieren konnte. Kaum eine Stunde hat es gebraucht, nachdem sie sie zwischen meinen Schenkeln herausgezogen hatten, um zu merken, dass etwas nicht stimmte. Ganz und gar nicht stimmte.» Einmal mehr eröffnet Toni Morrison mit einem fulminanten Einstieg, der einen umschlingt und eintauchen lässt – bereit, sich treiben zu lassen, wohin auch immer die Strömung des Erzählflusses einen trägt. Mit einer Prosa, die im Englischen ungeheuer musikalisch ist, die ersten Sätze wie die ersten Takte eines Jazzstücks. Einiges davon rettet Thomas Piltz in seiner gelungenen Übersetzung von «Gott, hilf dem Kind» auch für deutschsprachige Ohren.

Und einmal mehr landet man mit den ersten Sätzen mitten im Thema, das die mittlerweile 86-jährige Literaturnobelpreisträgerin in jedem ihrer Romane auf unterschiedliche Weise variiert: dem Rassismus in der US-Gesellschaft – oder, präziser, der Hautfarbe und was sie mit einem macht, was sie historisch mit einem gemacht hat und wie das bis in die Gegenwart hinein fortwirkt. Erzählt aus einer schwarzen Perspektive, die im besten Sinn feministisch, weil emanzipatorisch ist: Sie ist stets mit den Frauen, ohne dadurch die schwarzen Männer zu verraten.

Zum Eisberg herangewachsen

So auch in «Gott, hilf dem Kind». Das Kind, das Sweetness zwischen den Schenkeln hervorgezogen wird, ist nämlich nicht einfach schwarz – es ist «mitternachtsschwarz, sudanesisch schwarz» und damit in den Augen der Mutter ein «Rückfall», hat sie selbst doch eine viel hellere Haut, ja, ihre eigene Mutter ist sogar als Weisse durchgegangen. «Manche von euch halten es wahrscheinlich für eine schlimme Sache, dass wir uns in Vereinen, Stadtvierteln und Gemeinden, unter Studentinnen und sogar als Schülerinnen in farbigen Schulen je nach der Tönung unserer Haut – je heller, desto besser – zusammenschliessen», wendet sich Sweetness direkt an die LeserInnen. «Aber wie sonst sollen wir uns einen Rest von Würde bewahren?»

Sweetness erträgt «das kleine Negerlein» an ihrer Brust nicht und zieht es ohne jede Zuneigung und ohne Körperkontakt auf, in der irrigen Überzeugung, es so stark zu machen für eine rassistische Welt. Vordergründig scheint diese Strategie aufzugehen. Ihre Tochter Bride überstrahlt ihren tiefschwarzen Makel nach aussen mit einer fast überirdischen Schönheit und Erfolg in der auf alles Äusserliche fixierten Kosmetikindustrie – was letztlich (und nicht zufällig) darauf beruht, dass sie sich ausschliesslich in Weiss kleidet. «Wenn sie da war, merkte man überhaupt nicht, wie schwarz sie war», so die Mutter stolz. Doch innerlich, psychisch, ist Bride nicht zum Fels in der Brandung, sondern zum Eisberg herangewachsen: kalt und sich von allem abschottend, was sie emotional erwärmen könnte. Bis zu jenem Moment, in dem sie ihr Freund Booker verlässt – jenem Moment, in dem sie die Bühne der Erzählung selbst betritt mit den Worten: «Ich habe Angst. Etwas Schlimmes passiert mit mir. Es kommt mir vor, als würde ich wegschmelzen. Ich kann es nicht erklären, aber ich weiss genau, wann es anfing. Es begann, nachdem er gesagt hatte: ‹Du bist nicht die Frau, die ich will.›»

Die Geschichte, die folgt, ist rasch erzählt: Bride macht sich auf, ihren Freund zu suchen, um zu erfahren, was dieser Satz bedeutet. Auf dieser Reise verwandelt sie sich in rätselhafter Weise zurück in das verängstigte, kleine Schulmädchen, das sie einst war – dramaturgisch begleitet von einem Autounfall samt gebrochenem Knöchel, der sie zwingt, wochenlang in der Hütte eines alternden Hippiepaars mit aufgelesenem Kind auszuharren –, bevor sie Booker tatsächlich aufspürt und sich die beiden in einem grossen kathartischen Akt gegenseitig ineinander wiedererkennen.

Unter der Oberfläche dieser Geschichte schwelen die Beschädigungen durch den am eigenen Leib erfahrenen Rassismus, die Bride und Booker in sich tragen. Wie Toni Morrison dabei die verschiedensten Themen narrativ immer wieder im Körper verdichtet, ist schlicht meisterhaft. Angefangen bei Brides physischer Verwandlung: Erst fehlen ihr die Schamhaare, sie verliert an Gewicht, die Hüften werden schmaler, dann setzt die Menstruation aus, und plötzlich ist auch ihr Busen auf zwei kleine Nippel geschrumpft. Verschwunden sind auch die Löcher in den Ohrläppchen – jene Löcher, die ihr die Mutter hat stechen lassen als Belohnung für ihre Zeugenaussage vor Gericht, die eine Lehrerin wegen pädophiler Handlungen mit Kindern für 25 Jahre hinter Gitter brachte.

Mit Hammer und Meissel

Kindsmisshandlungen – sie ziehen sich durch die Seiten des Buchs und prägen die individuellen Schicksale sämtlicher Figuren. Bookers älterer Bruder wird als Kind vom «nettesten Mann, den man sich vorstellen konnte», entführt, sexuell missbraucht, gefoltert und schliesslich getötet. Was Booker nicht verwindet: Seine Familie nimmt danach gewohnte Rituale wieder auf und blendet ihre Trauer aus. Bride beobachtet als kleines Mädchen, wie ihr Vermieter einen kleinen Buben im Hinterhof brutal vergewaltigt, wird von ihrer Mutter aber zum Schweigen verdonnert, damit sie nicht aus der Wohnung fliegen. Immer wird weggeschaut und verdrängt. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Kindsmissbrauch fungiert als Metapher für die Persistenz von Rassismus in einer Gesellschaft, die sich offiziell als «colorblind», als farbenblind, bezeichnet, um sich diesem Rassismus nicht stellen zu müssen.

Ja, «Gott, hilf dem Kind» spielt in der Gegenwart. Und aus den Zeilen des ungewöhnlich knapp gehaltenen Buchs spricht eine wachsende Dringlichkeit der Autorin. Wo sie sich in früheren Werken wie «Jazz» oder «Beloved» episch Zeit und Raum nahm, um ihre Figuren und deren Geschichten auszuloten, greift sie jetzt nach Hammer und Meissel, um die beiden Hauptfiguren Bride und Booker auszuarbeiten. Die weiteren Frauenstimmen im Buch – meist berichten sie aus der Ich-Perspektive – bleiben holzschnittartig. Ihre Rolle beschränkt sich darauf, einerseits die Protagonistin Bride und andererseits die um Rassismus kreisenden Unterströmungen aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten und plastischer zu machen.

Das ist keineswegs als literarischer Verlust zu werten, wie dies manche RezensentInnen andeuten. Im Gegenteil: Noch nie ist es Morrison gelungen, Prosa und Musik so eng miteinander zu verzahnen. «Gott, hilf dem Kind» liest sich wie ein Jazzstück mit sich abwechselnden Solostimmen, die ein grosses Thema variieren. Dass der titelgebende letzte Satz aus dem Mund von Sweetness, die ihrer Tochter damit zu ihrer Schwangerschaft gratuliert, eher wie ein Hilferuf denn wie ein frommer Wunsch klingt – wer könnte es ihr angesichts des noch immer virulenten Rassismus verdenken?

Toni Morrison: Gott, hilf dem Kind. Roman. Aus dem Englischen von Thomas Piltz. Rowohlt Verlag. Hamburg 2017. 204 Seiten. 29 Franken