Katalanische Zweifel: Der Kater nach dem Rausch

Nr. 44 –

In Katalonien zeigen sich heute überall Enttäuschung und Spaltung. Gerade auch in der Linken. Ein politischer Stimmungsbericht.

Ein eigentümliches Gefühl beschleicht einen in den Häuserschluchten von Barcelona. Was ist Katalonien nun – Republik, Kolonie, Spanien, gar im Ausnahmezustand? Im gentrifizierten Szeneviertel Gràcia zieren flächendeckend katalanische Estelada-Flaggen die Häuserfronten, gemeinsam mit Transparenten, auf denen «Demokratie» oder simpel «Sí» steht – ein «Ja» zur Republik. An den Häuserwänden liest man auf Plakaten die Parole: «Ohne Ungehorsam gibt es keine Unabhängigkeit.» Doch nach intensivsten Wochen scheinen viele SeparatistInnen in Politik und Zivilgesellschaft enttäuscht und erschöpft zu sein.

Strategische Fehler

Was haben wir falsch gemacht? Das ist die Frage, die sich auch die Linken unter Kataloniens SeparatistInnen stellen müssen. Die Beantwortung fällt allerdings vielen schwer. Die CUP, die links-antikapitalistische «Kandidatur der Volkseinheit», macht es sich wohl zu einfach mit ihrer Forderung, die Sezession von Spanien nach dem umstrittenen Referendum vom 1. Oktober einfach durchzuziehen.

Aus der links-republikanischen Esquerra Republicana de Catalunya (ERC) ist indes Selbstkritik zu vernehmen. «Wir waren zu naiv», sagt Elisenda Paluzie, sichtbar bedrückt. Die renommierte Ökonomin vertritt die ERC im Wirtschaftsteam der separatistischen Wahlallianz «Gemeinsam für das Ja» (JxSí), zu der auch der Mitte-rechts-nationalistische Partido Demócrata Europeo Catalán (PDeCAT) gehört. Paluzie räumt strategische Fehler ein: «Uns ist es nicht gelungen, nach dem moralischen Sieg im Referendum politische Fakten zu schaffen.» Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärung seien die Mitglieder der Allianz erschöpft und selbst innerparteilich stark gespalten gewesen.

«Wir waren nicht gewappnet für die Reaktion Madrids, und wir haben zu viel Hoffnung in einen Dialog zwischen der EU und Spanien gesetzt», sagt die ehemalige Dekanin und Professorin an der Universität von Barcelona. Paluzie befürchtet, dass sich die katalanische Zivilgesellschaft nun nicht mehr so einfach mobilisieren lasse.

In flüssigem Zustand

An der Plaça Sant Jaume befindet sich der Sitz der Regionalregierung, die «Generalitat», und vis-à-vis das Rathaus. Eigentlich müssten hier Massen von UnabhängigkeitssympathisantInnen demonstrieren, doch es sind – neben einigen PolizistInnen – weit mehr Kamerateams zu sehen. Die zunehmenden Ängste – ein drohender EU- und Eurozonenaustritt, abwandernde Unternehmen – und die Zermürbungstaktik durch die Zentralregierung in Madrid zeigen Wirkung. Und auch das strafrechtliche Vorgehen gegen führende Mitglieder der von Madrid abgesetzten Regionalregierung. Ihnen drohen bis zu dreissig Jahre Haft wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder und «rebellischen Aufruhrs».

Das Regionalparlament liegt in der Nähe des Zoos und ist noch nicht verwaist. Ferran Civit wartet im Parlamentsklub von JxSí, für die er Abgeordneter ist, auf den abgesetzten Aussenminister für eine dringliche Besprechung. «Das parlamentarische Leben ist lahmgelegt, aber wir planen hier unsere Strategie für die kommenden Tage und Wochen», sagt Civit, der auch Mitglied des ERC-Präsidiums ist. «Katalonien ist noch keine konsolidierte unabhängige Republik. Aber auch keine Autonomieregion Spaniens mehr», meint der 39-Jährige, müde und unrasiert. Er sieht den jetzigen Zustand als «flüssig», gemäss dem Soziologen Zygmunt Bauman. «Die Republik, die muss sich erst verfestigen.» Spaniens Regierungschef Mariano Rajoy überschreite gerade «viele rote Linien, was Grundrechte betrifft», so Civit. «Die von Madrid ausgeübte Repression wird das politische Problem nicht lösen.»

Nach der Aufhebung der katalanischen Autonomie und der Auflösung der Regierung sowie des Parlaments leisten die separatistischen PolitikerInnen noch Widerstand gegen das Diktat Madrids. Doch der Regionalpremier Carles Puigdemont (PDeCAT) zeigt sich bereit, an den für den 21. Dezember angesetzten regionalen Neuwahlen teilzunehmen, sofern diese «demokratisch ablaufen». Das Damoklesschwert eines Parteienverbots hängt über den separatistischen Kräften. Und besonders in der separatistischen Linken ist man sich uneins darüber, ob und allenfalls wie man an den Wahlen teilnehmen will.

Die Katalanische Nationalversammlung (ANC), federführende Kraft der Unabhängigkeitsbewegung, plädiert für eine neuerliche Einheitsliste – unter anderem mit den ANC-Präsidenten Jordi Sànchez und Jordi Cuixart als Spitzenkandidaten. Beide sind derzeit im Madrider Soto-del-Real-Gefängnis inhaftiert und gelten unter den SeparatistInnen als politische Gefangene.

Ein hochrangiges Exmitglied der aufgelösten Regionalregierung Kataloniens, das anonym bleiben will, sagt gegenüber der WOZ: «Ein separatistisches Wahlbündnis ist vor allem eine Frage der Strategie.» Es gehe nicht um ideologisch-politische Diskussionen zwischen den Parteien, sondern darum, Vorteile bei der Sitzverteilung zu erreichen, aber auch auf ein Verbot vorbereitet zu sein. «Wenn Madrid eine separatistische Einheitsliste verböte, gäbe es für unsere Wähler keine Alternative ausser der Enthaltung, dem Boykott.»

Intervention von Podemos

Im separatistischen Lager ist die radikallinke CUP die Schlüsselpartei, sie hat sich am heftigsten für eine mehr als nur symbolische Unabhängigkeit eingesetzt. CUP-Sprecherin Mireia Boya Busquet betont: «Die von Madrid angesetzten Wahlen sind ein Staatsstreich.» Vorerst will sie sich nicht zu weiteren Schritten äussern. Erst am Sonntag stimmt die CUP-Vollversammlung darüber ab, ob man zum Urnengang antreten wird. Falls die CUP die Neuwahl boykottiert, wäre das eine erhebliche Schwächung des separatistischen Lagers.

Eine Spaltung droht indes auch andernorts, nämlich in der ECP («En Comú Podem», zu Deutsch: Gemeinsam können wir). Die mit der spanischen Podemos assoziierte Fraktion in Katalonien, die mit Ada Colau die Bürgermeisterin von Barcelona stellt, vereint in Sachen Unabhängigkeit Neutrale, Befürworter und Gegnerinnen. Podemos selbst vertritt klar die spanische Einheit. Mit der Initiative «Hablemos, Parlem» (Sprechen wir) – Demonstrationen von ganz in Weiss gekleideten Menschen ohne Flaggen – konnte die Partei im Konflikt ein Signal von kurzer Dauer setzen.

ECP-Chef Albano Dante Fachin kritisiert nun aber, Podemos-Chef Pablo Iglesias wolle «wie Rajoy in der Region intervenieren». Iglesias will bei der Neuwahl nämlich nicht Fachin, sondern den spanischen ECP-Parlamentarier Francesc Xavier Domènech Sampere als Listenersten sehen.

Den Generalsekretär des Partido Socialista in Katalonien kümmert das alles wenig. «Am 21. Dezember endet für die Katalanen eine Etappe des Scheiterns und der Frustration», verspricht Miquel Iceta Llorens. Seine sozialdemokratische Partei trug die Zwangsmassnahmen Madrids gegen die regionale Regierung und das Parlament mit. Und Iceta erzürnte am vergangenen Sonntag einmal mehr die SeparatistInnen, als er bei der Grossdemo für die spanische Einheit in Barcelona mit konservativen Parteigranden zum Selfie posierte, ganz nach dem Motto «Der Feind meines Feindes ist mein Freund». Mehrheitsfähig sind die unionistischen Kräfte gemäss aktuellen Umfragen dennoch nicht. Trotz ihrer Enttäuschung haben sich zuletzt noch mehr KatalanInnen für die Unabhängigkeit ausgesprochen.

Katalonien und seine Autonomie

1714: Im Spanischen Erbfolgekrieg unterstützt der katalanische Adel die Habsburger gegen den Bourbonen Philipp von Anjou. Dieser erobert am 11. September 1714 Barcelona und beendet als Philipp V. die katalanische Selbstverwaltung. Seit 1980 gilt der 11. September als katalanischer «Nationalfeiertag».

1932: In der Zweiten Republik wird Katalonien ein Autonomiestatut mit eigenem Parlament und eigener Regierung, der sogenannten Generalität, gewährt.

1936–1939: Während der Spanischen Republik steht Barcelona an der Spitze radikaler sozialer Umwälzungen.

1939: General Francisco Franco zerschlägt die Republik und hebt die katalanische Autonomie auf. Die Generalität existiert im Exil weiter.

1979: Nach der Franco-Diktatur erhält Katalonien wieder ein Autonomiestatut.

2006: Neues Autonomiestatut mit erweiterten Kompetenzen: Katalonien wird zur Nation erklärt, es soll ein eigenes Justizsystem aufgebaut und die katalanische Sprache vorrangig behandelt werden.

2010: Das spanische Verfassungsgericht erklärt auf Antrag der konservativen Partei vierzehn Artikel des Autonomiestatuts für ganz oder teilweise verfassungswidrig.

2014: Bei einem von der katalanischen Regionalregierung organisierten Referendum stimmen bei einer Stimmbeteiligung von etwa 35 Prozent 81 Prozent für die Unabhängigkeit.

1. Oktober 2017: Neues Unabhängigkeitsreferendum: Bei einer Stimmbeteiligung von 43 Prozent befürworten 92 Prozent die Unabhängigkeit.

10. Oktober 2017: Der katalanische Regierungschef Carles Puigdemont kündigt die Unabhängigkeit an, schiebt sie aber noch auf.

27. Oktober 2017: Das katalanische Parlament bekräftigt den Willen zur Unabhängigkeit.

30. Oktober 2017: Die spanische Zentralregierung setzt die Regionalregierung ab und löst das Regionalparlament auf.