Kost und Logis: Gibt es überhaupt noch ein Wir?

Nr. 6 –

Ruth Wysseier wünscht sich einen neuen Algorithmus

Der Zug wird langsamer, dann hält er auf offener Strecke, irgendwo zwischen Yverdon und Neuenburg. Wir, zu dritt im Speisewagen, achten uns kaum, diskutieren über die neuste Umfrage zur SRG. Die Nacht bricht herein, draussen giesst es, Tropfen rinnen am Zugfenster herab. Karge Durchsagen, es riecht nach Elektrobrand.

Als wir eine knappe Stunde später auf dem winzigen Perron von Boudry aussteigen müssen, wird es richtig ungemütlich. Dicht gedrängt stehen wir in der gestrandeten Masse. Mehrmals fährt ein Zug vorbei, ohne uns aufzunehmen. Die Leute haben das Handy am Ohr, ändern ihre Pläne für den Abend. Sie sind empört, aggressiv, drängeln sich in Position, um sich einen Platz im Entlastungszug zu sichern.

Ein paar Tage später an der Eröffnung der Solothurner Filmtage: Bundespräsident Alain Berset, eben noch in Davos, spricht über Gemeinschaft und Zusammenhalt. Er zitiert aus der Präambel der Bundesverfassung: «… dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen». Eine schöne Einleitungsrede zum Film «Á l’École des Philosophes» von Fernand Melgar, der in Yverdon ein Jahr lang die Einschulung von fünf Kindern begleitet. Es sind Kinder mit happigen Beeinträchtigungen, eines redet nicht, eines schlägt und tritt und beisst, eines kann nicht allein sitzen – man schluckt leer und kann sich nicht vorstellen, wie das gehen soll. Dann beobachten wir die kompetente und geduldige Arbeit der Lehrerinnen, das wachsende Selbstvertrauen der Eltern, und schliesslich sehen wir Fortschritte, kleine Wunder und Momente des Glücks. Beim anschliessenden Apéro sind auch die beteiligten Lehrerinnen und Eltern anwesend. Es sind keine Fremden – ich fühle mich ihnen verbunden.

Wenn ich seither Onlinekommentare lese, scheint mir, sie seien von solch feindseligen Gestrandeten auf dem Perron in Boudry verfasst worden, von Leuten, die im kalten Regen stehen und an denen die hell erleuchteten geheizten Züge vorbeifahren, ohne sie mitzunehmen. Ich habe den Verdacht, dass dieses Boudry-Gefühl entsteht, wenn man in der falschen Bubble steckt. Oder dass die Algorithmen schuld sind. Von denen habe ich fatalerweise keine Ahnung, dabei analysieren sie unsere Verhaltensweisen und beeinflussen unser Denken und Handeln. In der TV-Serie «The Good Wife» erfuhr ich, dass sie rassistische Resultate produzieren können, nicht von sich aus, sondern weil Nerds sie mangelhaft programmieren. Suchmaschinenalgorithmen etwa lernen von ihren UserInnen, also ist entscheidend, wie sich diese Masse zusammensetzt.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich jemand freiwillig entscheidet für ein permanentes Gefühl von sozialer Vereinzelung und Aggressivität. Doch wenn dieses Gefühl massenhaft reproduziert und verstärkt wird, werden wir bald nicht mehr nur über die Zerschlagung der SRG abstimmen, sondern über einen neuen Präambeltext: «… dass das Wohl des Volkes sich misst an der Freiheit der Starken».

Ruth Wysseier ist Winzerin und WOZ-Redaktorin. Sie hat eine Nichte, die auch eine «École des Philosophes» besuchte.