Kirill Serebrennikows «Leto»: Die Stimme einer Generation

Nr. 45 –

Bleiben in der Nähe auf Distanz: Wiktor Zoi mit Mentor Mike Naumenko. STILL: PROSA FILM

Er war die letzte Ikone der Sowjetzeit, und als er 1990 tödlich verunfallte, stand eine ganze Generation unter Schock: Wiktor Zoi von der Band Kino, Sänger, Filmstar, Galionsfigur des russischen Pop. Kirill Serebrennikows neuer Film «Leto» erzählt dessen Geschichte jetzt nicht auf dieses jähe Ende hin, sondern begleitet Zoi (gespielt von Teo Yoo) bei seinen Anfängen in Leningrad, wo er in dem sieben Jahre älteren Rockstar Mike Naumenko (Roman Bilyk) seinen Mentor findet.

Erfolgreicher Musiker protegiert junges Talent – da ist für gewöhnlich klar, wo das hinführt: Bald wird der Junge seinen Förderer überflügeln, Freundschaft sich in bittere Konkurrenz verwandeln. Wenn sich dann noch die Freundin des Älteren in den Protegé verliebt, ist auch das Eifersuchtsdrama vorprogrammiert. Doch nichts davon in «Leto». Serebrennikows Biopic über den grössten Popstar der Sowjetunion kommt ohne diese dramatischen Schablonen des Genres aus. Die beiden ungleichen Musiker bleiben auch in der Nähe auf Distanz, ihr Verhältnis ist imprägniert von einer gar nicht männerbündlerischen Grosszügigkeit, die sich auch durch die Liebe nicht trüben lässt.

Grandios, wie Serebrennikow sich zu Beginn Zeit nimmt, die beiden Männer am Strand zusammenzuführen, als Wiktor Zoi mit seinen Liedern zum ersten Mal Naumenko und dessen Entourage aufsucht. Es sind auch zwei Haltungen, die hier aufeinandertreffen: die triebhafte Lässigkeit des Rock ’n’ Roll und die spröde Melancholie des Postpunk. Immer wieder streut Serebrennikow dann Covers von westlichen Hits ein, in Musikclips, die quasi den sowjetischen Alltag transzendieren – eine Idee, die aber nur bei «Psycho Killer» von den Talking Heads wirklich zündet, als ein Rencontre mit der Staatsgewalt zu einer handgreiflichen Flucht aus der repressiven Routine ausartet.

Es müssen dann auch Songtexte staatlich geprüft werden, die zuständige Beamtin lässt sich sanft zu einer ideologisch korrekten Deutung überreden. Und als der Schlagzeuger in die Armee eingezogen wird, absolviert Wiktor Zoi seinen ersten grossen Auftritt halt mit Drumcomputer. Der Geist der neuen Musik reibt sich am alten sowjetischen Apparat: So fügt sich «Leto» zu einem Epochenbild in unendlich feinen Graustufen.

Ab 15. November 2018 im Kino.

Leto. Regie: Kirill Serebrennikow. Russland/Frankreich 2018