Kino-Film «Ask Dr. Ruth»: Normal gibt es nicht beim Sex

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«Was für eine dumme Frage!» So hätte sie den Millionen von Menschen, die ihren Rat rund um Sex suchten, nie geantwortet. Dem Filmemacher hingegen wirft sie das an den Kopf – wenn auch erst im Abspann des Dokumentarfilms «Ask Dr. Ruth», als Reaktion auf die Frage, weshalb sie mit 89 Jahren eigentlich noch Bücher schreibe.

Ruth Westheimer, die quirlige, kleine Frau mit dem ausgeprägten deutsch-jiddischen Akzent, macht das prüde Amerika seit den frühen achtziger Jahren auf allen medialen Kanälen unsicher: mit Sexberatung, die direkt, ohne Umschweife und ohne moralischen Zeigefinger, dafür mit viel Humor und Empathie daherkommt. Ihre erste Radiosendung war auf Sonntag um Mitternacht angesetzt und wurde anfangs aufgezeichnet; vor ihrer TV-Show blendete der Sender eine Triggerwarnung ein. Aber das Publikum liebt sie bis heute für ihre Überzeugung, dass es beim Sex so etwas wie «normal» nicht gebe, dass dabei «Respekt nicht verhandelbar» sei – und für ihr Pochen auf ein Recht auf Abtreibung.

«In Rente gehen gibts für mich nicht», bemerkt sie im Film, zu Hause am Tisch sitzend, vor sich zwei Telefonapparate. «Ihr Aktivismus ist ihr Überlebensmodus», sagt Westheimers Sohn Joel irgendwann. Ein so bezeichnender wie berührender Satz. Ruth Westheimer, geboren 1928 in eine jüdisch-orthodoxe Familie in Deutschland, wurde 1938 von ihren Eltern mit einem Kinderzug in die Schweiz geschickt – ihr Vater starb 1942 in Auschwitz, die Spuren ihrer Mutter verlieren sich irgendwo in Polen.

Das erfährt sie im Archiv der Schoahgedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, die Kamera in Nahaufnahme auf ihr Gesicht fixiert. Es ist die gröbste in einer Reihe von Verletzungen der Intimsphäre und Würde in einem Film, der ohne erkennbaren ästhetischen Anspruch möglichst viele visuell verwertbare Details aus Westheimers Biografie aneinanderreiht.

Irgendwann wird Westheimer, die nach dem Krieg in der zionistischen Untergrundarmee als Scharfschützin kämpfte, in Israel zu einem Waffensammler in den Keller gelockt, wo ihr dieser eine rote Armeemütze von damals aufsetzt und sie ein altes Maschinengewehr zusammensetzen lässt. Bis sie sagt: «Das macht mich so traurig … es reicht jetzt!»

Ask Dr. Ruth. Regie: Ryan White. USA 2019