Unruhen in Lateinamerika: Im Zweifelsfall feindlich gesinnt

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Lateinamerika ist 2019 zu einem heissen Halbkontinent geworden. Ein Überblick von Kolumbien bis Chile zeigt: Der typische Elitenstaat ist obsolet geworden.

In Venezuela sind Lebensmittel weiterhin knapp. Die Lage im Gesundheitswesen bleibt katastrophal, und noch immer verlassen die Menschen zu Tausenden das Land. Verglichen mit den Prognosen, gab es aber leichte Verbesserungen: Die Inflation erreichte nicht die vorausgesagten zwei Millionen, sondern sank auf ein paar Tausend Prozent. Die Ölförderung übersprang dank indischer Einkäufe die Grenze von einer Million Fass pro Tag. Zum Ende des Jahres 2019 geriet Venezuela deshalb fast schon in Vergessenheit; Präsident Nicolás Maduro hat die Sicherheitskräfte weiterhin im Griff, und wenn es überhaupt noch Proteste gibt, dann locken sie nur wenige auf die Strassen. Die Menschen kämpfen ums Überleben.

So dominierten zuletzt andere lateinamerikanische Länder die Schlagzeilen. In Chile reissen seit bald drei Monaten die Massenproteste nicht ab. Im Land mit der grössten Kluft zwischen Arm und Reich fordern die Menschen ein Ende der Hungerrenten, mehr Bildung, ein dem Reichtum des Landes angemessenes Gesundheitssystem und eine neue Verfassung. Die alte, noch unter Militärdiktator Augusto Pinochet geschrieben, hat das Land in ebendiese soziale Ungerechtigkeit geführt.

Korrupte Präsidenten

Im benachbarten Bolivien wurde im November der in einer umstrittenen Wahl im Amt bestätigte Präsident Evo Morales vom Militär und einer rassistischen Opposition ins Exil getrieben, obwohl er bereit war, das Wahlergebnis zu annullieren. Nun soll die Wahl am 3. Mai wiederholt werden. Dass sie fairer sein wird als die letzte, ist angesichts von Haftbefehlen gegen die Führungsriege der Morales-Partei MAS und der Repression der Sicherheitskräfte gegen deren AnhängerInnen zu bezweifeln.

In Peru hat der ehemalige Präsident Alan García im April Selbstmord begangen, weil er wegen seiner Verwicklung in den Korruptionsskandal um den brasilianischen Baukonzern Odebrecht verhaftet werden sollte. Zwei weitere ehemalige Präsidenten – Alejandro Toledo und Pedro Pablo Kuczynski – sitzen wegen dieses Skandals in Haft. Der amtierende Staatschef Martín Vizcarra, der nach dem Rücktritt von Kuczynski ohne Wahl Präsident geworden war, hat im September in einem Miniputsch das Parlament aufgelöst, weil es keines seiner Vorhaben absegnen wollte.

In Ecuador belagerten Indígenas nach der Streichung von Subventionen auf Treibstoff die Hauptstadt Quito, Präsident Lenín Moreno floh in die Hafenstadt Guayaquil. Jetzt wird verhandelt, aber ausgestanden ist das noch nicht. Und in Kolumbien fragten sich die Menschen angesichts der Proteste ringsum lange: Warum nicht auch wir? Probleme gibt es mehr als genug: den gescheiterten Friedensprozess zwischen der Regierung und der Guerilla der Farc, Hunderte Morde an Menschenrechtlerinnen und Gemeindeführern, neoliberale Pläne zur Erhöhung des Rentenalters bei gleichzeitiger Senkung der Löhne für jüngere Erwerbstätige, Steuerentlastung für KapitalistInnen. Jetzt gehen auch die KolumbianerInnen zu Hunderttausenden auf die Strasse und haben schon drei Tage Generalstreik hinter sich. Weitere Streiks sind angekündigt.

Im Sommer brannten im brasilianischen Amazonasregenwald so viele von GrossgrundbesitzerInnen gelegte Feuer, dass sich im 2000 Kilometer entfernten São Paulo der Himmel verdüsterte. UmweltschützerInnen werden ermordet, und der ultrarechte Präsident Jair Bolsonaro meint, das alles gehe die Welt nichts an. Lateinamerika ist über das Jahr 2019 zu einem heissen Halbkontinent geworden.

Der Staat als Privateigentum

So unterschiedlich die Unruheländer auch sein mögen, im Grunde geht es überall um dasselbe: Das Modell eines Elitenstaats, mit dem Lateinamerika in den 200 Jahren seiner Unabhängigkeit von europäischen Kolonialmächten im Wesentlichen regiert wurde, ist obsolet geworden. Von den erfolgreichen Kriegen im 19. Jahrhundert gegen die europäischen Kolonialmächte hat nicht die Bevölkerung profitiert, sondern eine kleine europastämmige Oligarchie, die sich von den Mutterländern gegängelt fühlte. Diese Elite pflegte zwar den damals üblichen republikanischen Diskurs der Französischen Revolution. Aber sie setzte sich aus Sklavenhaltern, Grossgrundbesitzerinnen und HandelsmonopolistInnen zusammen und wollte, dass das auch so bleibt. Nur eben ohne Steuern und Abgaben an die Kolonialmacht.

Diese Elite gibt es noch immer. Sie verteilt die Spitzenposten in Regierung, Justiz und Verwaltung in einem überschaubaren Kreis von Familien. Auch wenn im Lauf des 20. Jahrhunderts überall das allgemeine Wahlrecht eingeführt wurde, haben die meisten Leute längst begriffen: Diese Kreise haben mit ihnen nichts zu tun – und sind ihnen im Zweifelsfall feindlich gesinnt. Erwartet wird nichts, auch nicht von Wahlen. Eine Beteiligung gegen fünfzig Prozent wird schon als Erfolg gefeiert, zwischen zwanzig und dreissig Prozent sind eher üblich. Die Zusammensetzung der Elite hat sich in stärker industrialisierten Ländern wie Chile mit der Zeit verändert, die GrossgrundbesitzerInnen wurden durch Minenbesitzer und Bankerinnen ersetzt. Ihre Mentalität aber ist dieselbe: Sie begreifen ihre Länder als Privateigentum.

Dieses Staatsmodell wird von der Mehrheit nicht mehr akzeptiert. Und die Regierenden mauern sich ein. Vizcarra in Peru zeigte sich in seiner Not genauso im Kreis von Generälen wie Moreno in Ecuador. Das weckt Erinnerungen an die Zeit, in der Militärs im Dienste der Eliten den Halbkontinent unter der Knute hielten. Die Botschaft: Wir können auch anders. Chiles Präsident Sebastián Piñera und Boliviens selbsternannte Übergangspräsidentin Jeanine Áñez schickten gleich SoldatInnen mit Schiessbefehl auf die Strasse.

Zurück an die Macht

In Bolivien geht es der Elite nicht um die Verteidigung ihrer Privilegien, sondern um deren Rückeroberung. Die Macht wurde ihr vor vierzehn Jahren von Evo Morales, einem Indígena aus der armen Bevölkerung, auf demokratischem Weg entrissen. Nun nutzte sie das Chaos einer vom selben Morales verpfuschten Wahl, um wie einst die spanischen Eroberer mit einer riesigen Bibel zurück in den Präsidentenpalast zu marschieren. Dort sei, so Áñez, nie wieder Platz für Indígenas und ihren «satanistischen Kult» um die Mutter Erde.

Ein vergleichbarer Versuch findet auch in Venezuela statt. Der selbsternannte Präsident Juan Guaidó, Vertreter der kleinen elitistischen Rechtspartei Voluntad Popular, will seit einem Jahr mit der Hilfe der USA die Macht zurückerobern, die Linkspopulist Hugo Chávez der Oligarchie 1999 entrissen hatte. Die USA haben längst alle Sanktionen und Wirtschaftsangriffe unterhalb einer direkten Militärintervention ausgespielt, aber das Regime des ideenlosen und immer autoritäreren Chávez-Nachfolgers Maduro sitzt nach wie vor fest im Sattel. Guaidó hat im vergangenen Jahr viel versprochen und nichts geliefert, sein politisches Ende ist absehbar. Sein Anspruch, «rechtmässiger Präsident» von Venezuela zu sein, gründete auf seinem Amt als Parlamentspräsident: Der müsse einspringen, wenn es keinen rechtmässig gewählten Präsidenten gebe. Seit dem vergangenen Sonntag nun gibt es nach einem chaotischen Tag mit Rangeleien vor dem Parlament zwei Präsidenten dieses Gremiums: Im Plenarsaal wurde der dissidente Oppositionspolitiker Luis Parra vereidigt, Guaidó liess sich derweil in der Redaktion der regierungskritischen Zeitung «El Nacional» von seinen AnhängerInnen im Amt bestätigen. Der Machtkampf in Venezuela ist 2020 noch eine Spur absurder geworden.