Afrikanisches Kunstschaffen: Wider die westliche Deutungshoheit

Nr. 4 –

Die Ausstellung «Fiktion Kongo» stellt erstmals Werke und Fotografien aus der Kolonialzeit Arbeiten von kongolesischen KünstlerInnen der Gegenwart gegenüber – und zeigt, wie diese sich künstlerisch mit der Vergangenheit auseinandersetzen.

Frappante Wiederaneignung afrikanischer Kunst: La demoiselle Pende 2 (Detail), 2013, von Aimé Mpane. Foto: Nomad Gallery

Im Mai 1938 reist Hans Himmelheber, deutscher Arzt und Kunstethnologe, in die belgische Kolonie Kongo. Als einer der ersten Europäer befragt er Kunstschaffende in den Regionen Kasaï und Katanga zu ihrem Schaffen und ihrer gesellschaftlichen Rolle und hält alles mit Fotos und in seinem akribisch geführten Tagebuch fest. Himmelheber (1908–2003) forscht aber nicht nur, er sammelt auch Kunstobjekte, um sie Schweizer Museen und internationalen Galerien zu verkaufen. Das Museum Rietberg besitzt seinen Nachlass sowie grosse Teile seiner Privatsammlung. Die Ausstellung «Fiktion Kongo» präsentiert jetzt Ergebnisse aus einem interdisziplinären Forschungsprojekt der Universität Zürich dazu.

Einmalige Sammlung

Ein kurzer Film mit Bildern der Reise von 1938 eröffnet die Ausstellung: Himmelheber in einer Hängematte, von einheimischen Männern getragen, wie es in der Kolonialzeit üblich war, dann mit einem Auto unterwegs. Dann: von Himmelheber erworbene Masken, auf dem Boden ausgelegt, zum Teil gleich dutzendweise. Das Unbehagen, das sich einstellt, ist beabsichtigt: Die Kuratorinnen Michaela Oberhofer und Nanina Guyer, die auch am Forschungsprojekt beteiligt sind, wollen einen einseitigen westlichen Blick vermeiden. Der renommierte Künstler Sammy Baloji (41), der in Brüssel und Lubumbashi lebt und arbeitet, vergleicht hier Himmelhebers «Kunstsammelreise» mit den damals üblichen Jagdreisen der KolonialistInnen mit möglichst vielen Trophäen. Und hat einem europäischen Jagdhorn afrikanische Ziernarben eingekerbt.

Zu Himmelhebers Sammlung gehören insgesamt über 750 äusserst kunstvolle Masken, Figuren und Gegenstände des täglichen Gebrauchs, 15 000 Fotografien – 1500 aus dem Kongo – samt umfangreichen Schlagwortkatalogen und Notizen auf den Kontaktabzügen sowie Tagebücher und Schriften. Das umfangreiche Material zeugt von der meisterhaften Ästhetik des künstlerischen Schaffens und ermöglicht Einblicke in die Herstellung der Kunstarbeiten und deren Gebrauch im Kongo unter belgischer Kolonialherrschaft. Es erlaubt auch Rückschlüsse darauf, wie Hans Himmelheber die Kunstobjekte erwarb, wie viel er dafür bezahlte, wie diese nach Europa transportiert wurden und in Museen und Galerien gelangten und wer zum Wissen über diese Gegenstände und ihre Bedeutung beitrug.

Schon die grosse Afrikakunstschau im Museum Rietberg 2014 hatte mit einer Besonderheit aufgewartet. Sie stellte zum ersten Mal die bis dahin fälschlicherweise als anonym geltenden Schöpfer der Kunstwerke vor und würdigte sie, allerdings ausschliesslich Männer (siehe WOZ Nr. 7/2014 ). Jetzt sind auch Künstlerinnen vertreten. Darüber hinaus konfrontieren die Kuratorinnen die Vergangenheit mit der Gegenwart, indem sie den historischen Kunstgegenständen aktuelle Arbeiten von vierzehn kongolesischen KünstlerInnen gegenüberstellen. Einige von ihnen, darunter Sammy Baloji, haben sie eingeladen, sich mit Himmelhebers Archiv auseinanderzusetzen. Die daraus resultierenden Werke sowie die Aussagen der KünstlerInnen über traditionelle Kunst, koloniale Geschichte, die Gegenwart und die Zukunft des Kongo, die in grossflächigen Videoprojektionen vorgeführt werden, sind ein wesentlicher Bestandteil der Ausstellung.

Wo Picasso sich inspirieren liess

Unter dem Titel «Power und Politik» sind sogenannte Kraftfiguren aus der Kasaï-Region ausgestellt: gewichtige Gestalten mit einschüchterndem Aussehen, die mit magischen Substanzen und Materialien aufgeladen wurden und so Krankheiten heilen, Unglück fernhalten oder böse Mächte – auch die KolonialistInnen – abweisen sollten. Mit neuster Technik machen die Kuratorinnen das Innenleben der Figuren sichtbar, weil die «Ladung» genauso wichtig für ihre Wirkkraft war wie ihr Äusseres. Dazu stellen sie ein Objekt des in Kinshasa lebenden Künstlers Hilaire Balu Kuyangiko  (27) aus: eine alte Kraftfigur, die mit Einzelteilen alter Taschenrechner, Handys sowie Uno-Spielzeugsoldaten bedeckt und mit einer chinesischen Panzerfaust ausgestattet ist – was sie mitten in die aktuellen Ressourcenkonflikte versetzt. Und sie lassen die KünstlerInnen zu Wort kommen. Sammy Baloji etwa stellt infrage, dass das Offenlegen des Innenlebens der Kraftfigur legitim sei. Überhaupt seien die Figuren im Museum «vollkommen dekontextualisiert und entladen».

Ein Höhepunkt der Ausstellung sind die Masken des in Kinshasa lebenden Künstlers Aimé Mpane (51). Er nimmt asymmetrische Masken der Pende, die Pablo Picasso als Inspiration für sein Bild «Les Demoiselles d’Avignon» von 1907 gedient hatten, als Vorlage für seine Masken aus bemalten Sperrholzplatten – eine frappierende Wiederaneignung afrikanischer Kunst.

Himmelheber fotografierte fast ausschliesslich fernab von städtischen Siedlungen und verbreitete dadurch das Bild eines von modernen Einflüssen unberührten Afrika. Wie sehr dieses Bild eine Fiktion ist, macht eine kleine Serie von Porträtaufnahmen des kongolesischen Fotografen Antoine Freitas augenfällig. Sie entstanden zur selben Zeit wie Himmelhebers Fotos, sind kreativ inszeniert und zeigen moderne junge Menschen – Welten entfernt von den traditionell gekleideten oder nackten DorfbewohnerInnen auf Himmelhebers Bildern. Für die kongolesischen KünstlerInnen aber, das macht die Ausstellung offenbar, bedeutet «Fiktion Kongo», der Deutungshoheit des Westens eine eigene, afrikanische Perspektive entgegenzusetzen, mit eigenen Werken, eigenem Denken, eigenen Visionen.

Die Ausstellung «Fiktion Kongo» im Museum Rietberg in Zürich dauert noch bis zum 15. März 2020.