AKW-Rückbau: Eine Premiere mit vielen Ungewissheiten

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Der Rückbau des AKW Mühleberg läuft seit einem Monat. Ein Strahlenschutzexperte bemängelt das aktuelle Überwachungsdispositiv, die zuständigen Behörden wiegeln ab. Was ist dran am Vorwurf?

Vogelgezwitscher, Bäume und eine Spaziergängerin mit Hund: Die Bilder und der Tonfall des animierten Videos auf der Website des Berner Energieunternehmens BKW könnten gut ein Wellnessresort anpreisen. Tatsächlich aber geht es um den Anfang dieses Jahres begonnenen Rückbau des AKW Mühleberg.

Fünfzehn Jahre wird dieser Rückbau dauern, rund drei Milliarden Franken sollen die Stilllegung sowie die Entsorgung des radioaktiven Abfalls gemäss BKW insgesamt kosten. Der Atommüll – 3000 Tonnen werden es am Ende sein – wird ins Zwischenlager in Würenlingen im Kanton Aargau gebracht. Dort wird er dann so lange bleiben, bis in der Schweiz ein geologisches Tiefenlager für die langfristige Lagerung gebaut sein wird. Die für den Rückbau verantwortliche BKW beteuert, dass sie die Kosten «vollumfänglich selbst tragen» würde. Ab 2034 soll das AKW-Areal im Dorf neu genutzt werden – «industriell oder naturnah», wie es im Video heisst.

Fehlende Basismesswerte

«Die BKW hat für die Stilllegung und den Abbau von Mühleberg Broschüren und eine informative Website gestaltet. Da wird nichts versteckt, sondern stolz gezeigt», schrieb das Onlinemedium «Republik» im Juni 2019 und führte den Mühleberg-Rückbau als positives Transparenzbeispiel auf.

Der unabhängige Strahlenschutzexperte Marco Bähler sieht den Rückbau kritischer – auch weil es sich um eine Premiere in der Schweiz handle und daher besondere Umsicht geboten sei. In Bählers Fokus steht insbesondere die Überwachung der radioaktiven Emissionen, die beim Rückbau anfallen. Konkret kritisiert er, dass das Überwachungsdispositiv der Messstationen rund um das AKW Mühleberg im Vorfeld des Rückbaus und während der nun angelaufenen ersten Phase bisher nicht ausgeweitet worden sei. «Das Bundesamt für Gesundheit unterhält eine Messstation in Fribourg, die radioaktive Stoffe in der Luft misst. Diese Messstation hätte längst, wie vorgesehen, in die Nähe von Mühleberg verlagert werden müssen», sagt Bähler.

In unmittelbarer Nähe zum AKW in Mühleberg stehen derzeit nur Messnetze, die zwar einen Teil der radioaktiven Abgaben erkennen können, im Gegensatz zur BAG-Messstation aber keine detaillierten Messungen der Umgebungsluft liefern. «Vielmehr fungieren sie als eine Art Alarmsystem für grössere Ereignisse», kritisiert Bähler.

Der Physiklaborant beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Strahlenmessungen und führt mit eigenen Geräten regelmässig Immissionsuntersuchungen rund um die AKWs aus. Mithilfe von ausgelegten Vaselineplatten kann er zum Beispiel radioaktive Staubablagerungen feststellen. Bähler kämpft aber auch für die Offenlegung der AKW-Emissions-Überwachungsdaten. Die gesetzlich vorgeschriebenen Emissionsmessungen der fünf Schweizer AKWs fallen in die Verantwortung des Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorats (Ensi) sowie des Bundesamts für Gesundheit (BAG).

2012 wollte Bähler wissen, wie viele radioaktive Stoffe ein AKW während der Revision über den Kamin in die Luft ablässt. Diese Daten liegen vor, die Schweizer AKWs übermitteln sie im Zehnminutentakt an das Ensi. Doch die Behörde verweigert die Herausgabe. Ihre Begründung: Die Daten lägen nicht in einer Form vor, aus der man ein Dokument erstellen könne. Mittlerweile – nach einem Urteil des Bundesgerichts – muss das Ensi die Abluftdaten öffentlich publizieren. In der Praxis geschieht das jedoch mit einer Verzögerung von mehreren Wochen. «Das ist ein Teilerfolg», sagt Bähler, «aber wirklich transparent ist die Entsorgung radioaktiver Abfälle via Abluftkamin erst, wenn das Ensi die Daten in Echtzeit öffentlich zugänglich macht.»

Die BKW ordnet an

Marco Bähler ist mit seiner Kritik am aktuellen Emissions-Überwachungsdispositiv von Mühleberg nicht allein. Auch Martin Walter, Vorstandsmitglied der Schweizer Sektion der ÄrztInnen für soziale Verantwortung und zur Verhütung eines Atomkrieges (IPPNW), hält die Umplatzierung und umgehende Inbetriebnahme der BAG-Messstation von Fribourg nach Mühleberg für dringlich: «Wir müssten Basismessungen vor Eröffnung des Reaktors und vor der Entladung der Brennelemente zur Verfügung haben. Fehlen solche Basismesswerte, kann man die während der Abbauarbeiten gemessenen Werte kaum interpretieren. Ich begreife nicht, dass das BAG die Verlegung der Messanlage nicht früher als vorgesehen vorgenommen hat», sagt Walter.

Das Ensi, das gesetzlich für die Sicherheitsaufsicht des AKW-Rückbaus verantwortlich ist, gibt Entwarnung: «Das AKW Mühleberg befindet sich derzeit noch nicht in der eigentlichen Rückbauphase.» Aktuell werde der technische Nachbetrieb etabliert. Konkret laufe im Reaktorgebäude gerade die Demontage der Abdecksteine, die in kleinere Blöcke zersägt werden, um sie anschliessend transportieren und dekontaminieren zu können. «Der Reaktordruckbehälter bleibt bis Ende März geschlossen», versichert das Ensi.

Vor diesem Hintergrund sei das aktuelle Überwachungsdispositiv gerechtfertigt. Grundsätzlich sei es zielführend, so das Ensi, «dass die Betreiberin BKW allfällige Änderungen der Umgebungsüberwachung je nach Rückbaufortschritt separat beantrage». Es werde diese Anträge in Zusammenarbeit mit dem BAG beurteilen und gegebenenfalls im Folgejahr ins Probenahme- und Messprogramm für das AKW einfliessen lassen.

Das BAG wiederum bestätigt auf Anfrage, dass die Verlegung seiner Messstationen für radioaktive Stoffe in der Umgebungsluft von Fribourg in die direkte Nähe des AKW Mühleberg Ende Februar abgeschlossen sein wird. Ebenfalls versichert das Bundesamt für Gesundheit, dass die Messungen ab der Inbetriebnahme am neuen Standort in Echtzeit veröffentlicht würden.

Bähler beruhigt diese Rückmeldung sowie die Verlegung der Messstationen nur teilweise: «Die Öffnung des Reaktordruckbehälters ist ein sensibler Moment. Es ist erwiesen, dass es dabei oft zu erhöhten Abgaben von radioaktiven Stoffen kommt. Es ist gut, dass zu diesem Zeitpunkt die BAG-Messstation bereits vor Ort installiert ist.» Fragwürdig sei für ihn aber, weshalb das Überwachungsdispositiv in unmittelbarer Nähe zum AKW Mühleberg erst so spät ausgebaut wurde – zumal es sich um eine Arbeit handelt, die hierzulande zum allerersten Mal ausgeführt wird.

Problematisch findet Bähler zudem, dass die AKW-Betreiberin BKW allfällige Änderungen der Umgebungsüberwachung selber anordnen dürfen soll: «Eine verantwortungsvolle Aufsicht muss eventuell nötige Änderungen der Überwachung in eigener Verantwortung vorausschauend veranlassen können. Der Grenzschutz kann auch nicht erwarten, dass zum Beispiel Schmuggler neue Routen im Voraus bekannt geben.»