Landwirtschaft in Europa: Sie suchten ArbeiterInnen, es kamen Menschen

Nr. 22 –

Italien, Deutschland und Portugal regularisieren illegale Arbeitskräfte, um den wirtschaftlichen Schaden wegen Corona zu begrenzen. Doch das bedeutet: Der Markt entscheidet, wer bleiben darf – und wer nicht.

Covid-19 macht sichtbar, wie viel systemrelevante Arbeit von MigrantInnen verrichtet wird: Das zeigt sich an den politischen Massnahmen, die zurzeit von verschiedenen EU-Staaten erlassen werden. Italien und Portugal wollen illegale Arbeitskräfte plötzlich temporär legalisieren, Deutschland will Asylsuchende – die unter normalen Umständen nicht arbeiten dürfen – nun arbeiten lassen.

So hat die italienische Landwirtschaftsministerin Teresa Bellanova ein umfangreiches Regularisierungsprogramm angekündigt. Es umfasst aber nur einen Artikel im 450 Seiten dicken «Decreto Rilancio», der rechtlichen Grundlage für das 55 Milliarden Euro schwere Hilfspaket, das die wirtschaftlichen Schäden der Krise mindern soll. Als Bellanova, ehemalige Landarbeiterin und Gewerkschafterin aus Apulien, das Programm der Presse vorstellte, sagte sie mit Tränen in den Augen: «Ab heute werden die Unsichtbaren weniger unsichtbar.»

Italien: Streik im ganzen Land

Viele Betroffene und linke Kreise lehnen die Massnahmen hingegen ab: «Das Programm möchte lediglich Arbeitskräfte regularisieren, aber nicht die Menschen dahinter», sagt Maurizio Coppola. Er ist Teil der linksradikalen Bewegung Potere al Popolo in Napoli und steht in regem Austausch mit migrantischen ArbeiterInnen. «Viele Leute fragen bei uns, wie sie sich mit dem neuen Dekret regularisieren lassen können», berichtet er. Sie befürchteten, dass – wie schon in der Vergangenheit – ein Schwarzmarkt rund um den Verkauf von Arbeitsverträgen entstehen wird.

Die Hauptkritik gegen das Regierungsprogramm ist, dass es sich nur auf bestimmte Wirtschaftssektoren beschränkt und Betroffene innerhalb von sechs Monaten einen gültigen Arbeitsvertrag vorlegen müssen, um eine Aufenthaltsbewilligung zu Arbeitszwecken zu erhalten. Die Halbjahresfrist fällt genau in die Zeitspanne der Erntesaison und ist deutlich kürzer als von den ArbeiterInnen gefordert. Aus Protest gegen die vom Markt diktierten und an zahlreiche zusätzliche Bedingungen geknüpften Regularisierungen riefen sie daher, gemeinsam mit der Basisgewerkschaft USB, am 21. Mai zu einem landesweiten Streik auf. Sie fordern bedingungslose Aufenthaltsbewilligungen für alle illegalisierten MigrantInnen, einen lebenssichernden Lohn und staatlich unterstützten Wohnraum für SaisonarbeiterInnen, die oftmals in ruralen Wellblechsiedlungen leben. «Im ganzen Land wurde gestreikt», sagt Coppola. «In Süditalien streikten fast hundert Prozent der Landwirtschaftsarbeiter. Zudem haben sich Migrantinnen und soziale Bewegungen aus den Städten mit den Arbeitenden in der Landwirtschaft solidarisiert.» Auch die Tageszeitung «La Repubblica» zeigte sich überrascht von der Mobilisierungskraft und davon, dass sich ArbeiterInnen aus Sizilien und Kalabrien über die Provinz Benevento und bis in die Präfektur von Reggio Calabria dem Streik anschlossen.

Ein Video aus Apulien zeigt einen Protestmarsch von der Siedlung Torretta Antonacci bis nach Foggia. Vor dem Ratshaus deponiert der bekannte italienisch-ivorische Gewerkschaftsaktivist Aboubakar Soumahoro Gemüse – eine symbolische Geste: Euer Essen ist abhängig von unserer Arbeit. Seitdem hat die USB weitere Streiks und Mobilisierungen angekündigt, sollte die Politik keine Antwort für alle Menschen finden – beim nächsten Mal sei aber das Parlament und nicht mehr die Präfektur das Ziel.

Deutschland: Auf die Spargelfelder!

Auch in Deutschland fragte niemand die Betroffenen: Verschiedene Stimmen aus der Politik forderten, dass Geflüchtete auf den Feldern die schätzungsweise 300 000 osteuropäischen ErntehelferInnen ersetzen sollen, die aufgrund der Coronamassnahmen nicht einreisen konnten. «Circa achtzig Prozent der landwirtschaftlichen Saisonarbeitskräfte kommen aus Rumänien und Polen», sagt Thomas Hentschel, Geschäftsführer des gewerkschaftsnahen Peco-Instituts in Berlin. «Durch die Entwicklung hin zu grossflächiger Landwirtschaft gibt es mittlerweile Betriebe, die mehrere Hundert Saisonarbeiter benötigen.»

Die Bundesagentur für Arbeit verfügte deshalb, dass im Zuge der Coronakrise Asylsuchende und Menschen aus Drittstaaten ohne entsprechende Bewilligung von Anfang April bis Ende Oktober 2020 in der Landwirtschaft arbeiten dürfen. Doch bislang wird diese Möglichkeit nur selten in Anspruch genommen: «Das Angebot ist unattraktiv», sagt Hentschel. «Die Geflüchteten dürften zwar arbeiten, aber dies hat keinen Einfluss auf ihren Asylprozess. Zudem leben sie oftmals weit entfernt von den Landwirtschaftsbetrieben.»

Generell gebe es in Deutschland im Verhältnis – anders als etwa in Spanien oder Italien – weniger illegale Beschäftigung, dafür aber mehr reguläre WanderarbeiterInnen, sagt der diplomierte Landschaftsgärtner. Diese Form der Arbeitsmigration macht es unwahrscheinlicher, dass Kämpfe um dauerhafte Regularisierungen entstehen.

Portugal: Aufenthaltsbewilligungen

Einen wiederum anderen Weg schlug Portugal ein. Die sozialdemokratische Regierung von Premierminister Antonio Costa verfügte Ende März, dass alle MigrantInnen und Asylsuchenden mit ausstehenden Bewilligungsanträgen einen bis zum 1. Juli gültigen Aufenthaltsstatus erhalten – und bis dahin wie normale BürgerInnen behandelt werden. Die Betroffenen erhalten so Zugang zum Gesundheitssystem, zu sozialen Dienstleistungen, zum Arbeits- und Wohnungsmarkt. Costas schnelle Reaktion erntete viel Applaus. Bemerkenswert ist, dass sich die Massnahmen nicht auf bestimmte Wirtschaftssektoren beschränken oder an andere Bedingungen geknüpft sind.

Dass es sich dabei jedoch nur um eine temporäre Massnahme handelt, ging in der positiven Berichterstattung mehrheitlich unter: Die Regelung gilt nur während des von der Regierung ausgerufenen Spezialregimes zur Bekämpfung der Pandemie. Was danach geschieht, ist weitgehend unklar. Angesichts der gesundheitlichen Risiken ist es begrüssenswert, wenn MigrantInnen durch vorübergehende Regularisierungen besseren Zugang zum Gesundheitssystem und zu legaler Arbeit haben. Doch auf lange Sicht ändert auch dies nichts an der prekären Situation illegalisierter Menschen.

Regularisierungen für Arbeitskräfte sind historisch nichts Aussergewöhnliches. In den letzten dreissig Jahren wurden europaweit insgesamt über fünf Millionen Menschen legalisiert, allein 2015 in Spanien waren es 570 000 MigrantInnen. Doch die meisten Regularisierungen sind eben kein humanitärer Akt, sondern ein marktwirtschaftliches Instrument, um die Nachfrage nach sogenannt gering qualifizierten ArbeiterInnen zu stillen.

Auch wenn sich die Massnahmen im Zuge der Coronakrise von Italien über Deutschland bis Portugal unterscheiden, die Stossrichtung bleibt dieselbe: MigrantInnen sind temporär willkommen – wer nicht einsetzbar ist, bleibt auf lange Sicht illegalisiert. Und jene, die einen legalen Status erhalten, arbeiten auch dann meist unter prekären Bedingungen und zu Niedrigstlöhnen – und das, obwohl sie für die Nahrungsmittelproduktion und das gesellschaftliche Überleben unentbehrlich sind.