Maaza Mengiste: «Erschreckend viele Leute sind stolz auf Mussolini, aber niemand redet über Äthiopien»

Nr. 27 –

Das koloniale Erbe wirkt überall dort weiter, wo Geschichte verdrängt wird: Die Schriftstellerin Maaza Mengiste über die Rolle der Frauen im Kampf gegen den Faschismus und über falsche Denkmäler.

«Ich habe mich gefragt: Wo war die Schweiz zum Beispiel, während die europäischen Länder in Afrika einmarschierten? Warum ist das nicht Teil der Geschichte dieses Landes?» Maaza Mengiste in Zürich.

WOZ: Maaza Mengiste, Ihre beiden Romane kreisen jeweils um historisch entscheidende Momente in Äthiopien: Ihr neues Buch, «The Shadow King», spielt 1935, als das faschistische Italien Äthiopien eroberte und kolonialisierte, ihr Erstling, «Unter den Augen des Löwen», erzählt von der Revolution 1974, als Kaiser Haile Selassie gestürzt wurde. Warum haben Sie diese Jahre gewählt?
Maaza Mengiste: Ich habe mich schon seit jeher für die Revolution von 1974 interessiert, da sie das Leben vieler aus meiner Familie beeinflusst hat. Wie viele andere Äthiopierinnen und Äthiopier hat auch meine Familie wegen der Revolution ihr Land verlassen. Meine Eltern wollten aber nie darüber reden, was während der Revolution passiert war. Ich hatte Erinnerungen und bin mit vielen Fragen aufgewachsen, die aber niemand beantwortete. Sie waren die Motivation meiner Recherche.

Was für Fragen waren das?
Ich habe mich immer dafür interessiert, was uns Geschichte über uns selber erzählen kann. Die Fragen waren: Wie bin ich hierhergekommen? Wie bin ich so geworden, wie ich bin? Und allgemeiner: Wie sind wir die Menschen geworden, die wir sind? Warum ist unsere Gegenwart so, wie sie ist? Für meine Bücher schaute ich zurück in die Geschichte Äthiopiens, um diese Fragen zu beantworten.

Und was haben Sie herausgefunden?
Ich merkte schnell, dass Geschichte und Geschichtsschreibung ein umkämpftes Terrain sind. Wir denken noch immer, Geschichte sei, was in einem Geschichtsbuch steht, sie sei neutral und faktenbasiert. Wir sehen den alten Collegeprofessor vor uns, einen weissen, weisshaarigen, alten Mann. Und weil er so aussieht, wie er aussieht, und weil uns gesagt wird, dass wir Menschen, die aussehen wie er, vertrauen können, weil sie Autoritäten sind, glauben wir, dass das, was er erzählt, auch stimmt.

Aber Geschichte ist eine Serie von Narrativen, geschrieben von Menschen mit persönlichen Absichten und Tendenzen, sie machen Fehler, verschweigen Dinge … Deswegen ist Geschichte auch immer das, was weggelassen, verschwiegen und gelöscht wird. Als Autorin wollte ich all diese verschiedensten Puzzleteile suchen und zu einem Ganzen zusammensetzen.

Wie sah diese Recherche bei «The Shadow King», Ihrem neuen Roman, konkret aus?
Ich habe mit Überlebenden und mit Nachkommen von Zeitzeugen gesprochen und vor Ort sowie in verschiedenen Archiven recherchiert. Sehr schnell realisierte ich, dass die Archive bereits von den Faschisten zensuriert worden waren: die Artikel in den Zeitungen aus den dreissiger Jahren, die Telegramme, die Fotos, die damals gemacht wurden – alles. Hinzu kommt: Die Geschichte in den Archiven ist eine Geschichte, die von Männern für sich selber geschrieben wurde. Frauen kommen nur als Liebhaberinnen oder Koch- und Putzhilfe vor. Wir sehen den Krieg als etwas Männliches – und doch waren immer Frauen involviert. Frauen haben auch immer darüber geschrieben, seit Jahrhunderten, Jahrtausenden … Aber ihre Geschichten wurden kontinuierlich ausgelöscht.

In «The Shadow King» erzählen Sie von den Frauen, die 1935 als Soldatinnen gegen die italienischen Faschisten gekämpft haben. Eindrücklich schildern Sie, wie die Protagonistinnen Hirut und Aster als kämpfende Frauen Gewalt von allen Seiten ausgesetzt sind.
Das Erste, was der Feind beim Einmarsch in ein fremdes Territorium macht, ist, Frauen zu attackieren. Mit der Eroberung ihres Körpers wird auch der Feind erobert. In Äthiopien sprach nach 1935 niemand darüber, was passiert war, man sah jedoch all die Kinder, die halbe Italiener waren. Wie alle Soldatinnen müssen Hirut und Aster allerdings nicht nur den Feind auf der anderen Seite des Schlachtfelds fürchten, sondern auch die Soldaten aus der eigenen Truppe. Denn auch als Soldatinnen werden sie als Frauen und somit als zweitklassig behandelt. Sie führen also zusätzlich noch einen Kampf gegen das Patriarchat – und es geht immer um ihre Körper.

Tatsächlich gab es 1935 viele Soldatinnen in Äthiopien, über die man jedoch kaum etwas weiss.
Die Italiener reden bis heute nicht darüber, dass sie gegen Frauen kämpften und auf sie schossen – das würde nicht zu ihrem Selbstbild passen. Ausserdem wäre es eine Schande, dass sie den Krieg gegen Frauen verloren haben. Ich habe in keinem italienischen Archiv Fotos von Soldatinnen gefunden. Wenn keine Bilder von ihnen überliefert wurden, wie sollte man dann von ihnen erfahren? Die Italiener wollten nicht Kämpferinnen fotografieren, sondern nackte Frauen – die afrikanische Frau als sexualisiertes Objekt, das ist das Bild, das sie überlieferten.

Die Macht der Fotografie spielt in Ihrem Buch eine wichtige Rolle: Der Protagonist Ettore ist ein italienischer Soldat, der im Auftrag des faschistischen Generals den Krieg und die Ermordeten fotografiert.
Die Kamera ist eine Waffe, die – nicht nur, aber auch – im Krieg extrem wichtig ist: Wer über die Kamera verfügt, entscheidet, welche Bilder im kollektiven Gedächtnis bleiben. Seit jeher wurde die Kamera gegen die Menschen benutzt, die kolonialisiert wurden. Die Europäer fotografierten in Afrika nie, um zu zeigen, dass hier auch Menschen lebten. Es ging immer darum, die Andersartigkeit zu betonen. Übrigens ist es noch heute so: Der europäische Tourist macht Fotos von der afrikanischen Hütte, um zu zeigen, dass diese, verglichen mit seinem eigenen Haus, kein guter Ort zum Leben ist. Oder er umgibt sich mit einer Gruppe bunt angezogener Massai, um zu zeigen, dass er der Normale inmitten der andersartigen, der «Fremden» ist. Es geht immer darum, diesen Kontrast zu erzeugen. Dabei sagen diese Fotografien absolut nichts über die Afrikanerinnen und Afrikaner aus, sondern nur über die Europäerinnen und Europäer. Sie sagen: Schaut, ich bin ein Abenteurer, und ich bin einzigartig.

Im Grunde ist es immer noch so wie während der Kolonialzeit, als die Italiener in Äthiopien einmarschierten und Fotos von Äthiopierinnen und Äthiopiern als Trophäen nach Hause schickten. So, wie sie es mit Tiertrophäen machen würden, die sie auf einer Safari geschossen haben.

Diesen Kontrast zwischen «normal» und «fremd» findet man auch in den Schweizer Museen: Einerseits gibt es das Nationalmuseum und die historischen Museen, die die Schweizer Geschichte als eine Geschichte der Zivilisierung und der Entwicklung erzählen, und andererseits die ethnologischen Museen, wo das Leben der «wilden, fremden Völker» gezeigt wird, die sich, anders als wir, kaum entwickelt hätten. Haben Sie die Museen besichtigt, als Sie jetzt ein halbes Jahr in Zürich lebten?
Ich war im Nationalmuseum und war total fasziniert. Das Museum zeigt, wie die Schweiz erschaffen wurde, es ist eine kollektive Erinnerung, die da erzählt wird und über die eine Schweizer Identität konstruiert wird. Gleich zu Beginn der Ausstellung erfährt man, dass die Schweiz mehr Geld als alle anderen europäischen Länder gespart hat. Ich war neugierig, was in dieser nationalen Erzählung ausgelöscht wurde, und begann, auf die Daten zu schauen. Und ich fragte mich: Wo war die Schweiz zum Beispiel, während die europäischen Länder in Afrika einmarschierten? Warum ist das nicht Teil der Geschichte dieses Landes?

Die Schweiz hat sich lange auf den Standpunkt gestellt, dass sie keine koloniale Vergangenheit habe, weil sie keine eigenen Kolonien hatte. Erst seit wenigen Jahren gibt es Forschung dazu, die zeigt, dass die Schweiz sehr wohl ein koloniales Erbe hat.
Auch Italien hat sich lange geweigert, sich mit seiner kolonialen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Erst 1996 gab das offizielle Italien zu, dass es in Äthiopien Senfgas einsetzte!

Sie waren für Ihre Recherchen länger in Rom. Wie haben Sie die Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe in Italien erlebt?
Erschreckend viele Leute sind stolz auf Mussolini, aber niemand redet über Äthiopien. Die Rechte nicht, weil die Faschisten den Krieg schliesslich verloren hatten und die Kolonien abgeben mussten. Die anderen nicht, weil sie sich schämen, was Italien Schreckliches gemacht hat. Die Soldaten damals kamen aus dem Krieg zurück und redeten nicht darüber, was sie getan hatten. Bei meinen Recherchen fand ich heraus, dass Italien in Äthiopien, Somalia und Libyen Konzentrationslager errichtet hatte, wo Hunderttausende Kinder, Frauen und ältere Menschen umgebracht wurden. Niemand spricht darüber. Im Gegenteil, in Italien sagt man: «Wir waren ja gar nicht so schlimm wie die Franzosen und die Engländer. Ausserdem haben wir Strassen gebaut.» Aber diese Strassen ergeben gar keinen Sinn! Denn sie gehen nicht von einem Dorf zum anderen, sondern von einem Militärcamp zum nächsten. Nicht einmal die Strassen nützen etwas.

Auch hier geht es wieder darum, was in den Erzählungen weggelassen wird.
Genau. Ein weiteres Beispiel: Nach der Revolution in Äthiopien von 1974 tötete das Regime Menschen und liess die Leichen einfach auf den Strassen liegen, als Warnung an die Gegner. Als ich das einem italienischen Freund erzählte, meinte dieser, das habe Mussolini in den dreissiger Jahren dauernd gemacht, um die Antifaschisten einzuschüchtern. Doch man redet nicht darüber, weil man es nicht für möglich halten will, dass so etwas Schlimmes in Italien selber gemacht wurde – nicht etwa in Afrika. Und erst noch gegen die eigenen Leute. Es passt nicht ins Narrativ von Italien.

Doch wir müssen daran erinnert werden. Wir brauchen diese Lektionen aus der Vergangenheit! Wir dürfen es uns nicht bequem machen und denken, wir hätten das alles hinter uns und wir seien besser und weniger gewalttätig als früher. Wir haben unsere Lektion noch nicht gelernt, weil wir so viel vergessen haben.

Zurzeit bricht allerdings auch vieles auf, was über Jahrhunderte verschwiegen und verdrängt worden ist. Das zeigt sich etwa an den Diskussionen um Denkmäler zu Ehren umstrittener Persönlichkeiten, die viele Leute weghaben möchten.
Zum Beispiel in Mailand um die Statue von Indro Montanelli: Er war Journalist und Faschist. In den dreissiger Jahren kaufte er ein zwölfjähriges äthiopisches Mädchen, und in den sechziger Jahren sagte er dann in einem Interview, das sei keine Vergewaltigung gewesen, da es eine Afrikanerin und keine Italienerin gewesen sei. Denn als Afrikanerin sei sie wie ein kleines Tierchen. So. Das ist der Grund, warum die Menschen diese Statue stürzen wollen. Ich wurde von italienischen Journalisten gefragt, was man machen sollte.

Und was haben Sie geantwortet?
Ich sagte: «Stürzt dieses Denkmal! Stellt stattdessen eine Statue zu Ehren eines Antifaschisten oder einer Frau auf. Aber nicht von jemanden, der den Faschismus unterstützte.» In einer Diskussion fragte mich jemand, wie man denn noch die Geschichte kennen könne, wenn man die Statuen wegnehmen würde. Ich fragte zurück: «Wie viele Statuen von Hitler gibt es in Deutschland?» Man braucht keine Denkmäler, um Geschichte zu verstehen! Und ganz ehrlich: Warum errichtet man dann, wenn schon, keine Denkmäler zu Ehren von Menschen, die gegen die Sklaverei und den Sklavenhandel kämpften?

Im italienischen Dorf Affile wurde noch 2012 ein Monument für General Rodolfo Graziani errichtet. Er war für den Senfgaseinsatz in Äthiopien verantwortlich und hat Tausende von Menschen auf dem Gewissen.
Ja, er war ein Nazi! In Äthiopien wird er «Der Schlächter» genannt. Auch in Libyen hat er gewütet. Ich war so schockiert darüber, dass man ihm ein Monument baute. Zum Glück gab es grosse Proteste dagegen.

Das Monument wurde später auch für illegal erklärt, der verantwortliche Bürgermeister und zwei Mitstreiter wurden 2017 zu Gefängnisstrafen verurteilt.
Aber auch hier ist sie wieder, die Geschichte, die aus einer männlichen, weissen Perspektive erzählt wird. Und diese Perspektive ist stets eine der Stärke, der Macht, der Überlegenheit. Wenn ein Mann Karriere gemacht hat und ganz oben ist, spielt es keine Rolle mehr, wie viele Leben er zerstört hat. Die Leute schauen nur, wo er steht: ganz oben.

Bei der Black-Lives-Matter-Bewegung geht es auch um Deutungshoheit und darum, die Erzählperspektive zu erweitern: People of Color wollen endlich gehört werden.
Wenn du die Geschichte eines Landes beherrschst, kannst du das Land beherrschen. Das sehen wir in den USA, wo Donald Trump damit Wahlkampf macht. Das Narrativ ist: Die Schwarzen sind faul und dumm und die Asiaten stecken uns mit Viren an. Die Leute glauben es. Und dann Trumps Slogan «Make America great again». Für viele Leute war Amerika gar nie «great». Er weckt Nostalgie für etwas, was gar nie existiert hat. Mir macht das Angst. Und doch leben wir in hoffnungsvollen Zeiten: Die Black-Lives-Matter-Proteste fühlen sich anders an. Ich denke, ein Grund dafür ist, dass die Menschen wegen des Coronavirus so viel Zeit in ihren Wohnungen verbracht und nachgedacht haben. Sie kamen zum Schluss, dass die Welt eine bessere sein muss, wenn sie wieder nach draussen gehen. Die Leute sagten sich: Fangen wir mit den Dingen an, die uns am meisten töten. Zum Beispiel eben die Polizeibrutalität. Wenn wir hier etwas ändern können, können wir das System und die Gesellschaft ändern.

Auch in der Schweiz gab es Proteste, waren Sie dabei?
Ja, und es war wundervoll. Der Umzug in Zürich ging von der schicken Bahnhofstrasse in die Langstrasse. Es war eindrücklich zu sehen, wie die Menschen mit Migrationshintergrund aus ihren Shops rauskamen, um zu klatschen und auf Töpfe zu schlagen, als wir «Black lives matter» riefen. All die Menschen aus den unterschiedlichsten Communitys, die seit Jahren hier sind und sich nicht wahrgenommen fühlen. Dieser Moment liess sie sichtbar werden und wissen, dass sie nicht alleine sind.

In der Schweiz ist gerade wieder eine Diskussion um den umstrittenen alten Namen für den Schokokuss entflammt. Haben Sie die Debatte mitbekommen?
O ja, und es überrascht mich, dass die Leute diesen Namen unbedingt behalten möchten. Warum? Welchen Unterschied macht es für sie, wenn man das Wort nicht mehr sagen würde? Jemand meinte, dieser Name sei Tradition, man habe dazu immer so gesagt. Aber es gibt so viele Dinge, die Tradition sind und die falsch sind. Ausserdem wandeln sich Traditionen. Häufig kommt das Argument, man könne Dinge, die nach einem Standard von früher entstanden seien, nicht mit den Standards von heute verurteilen. Doch die Frage ist: Wessen Standards wurden in der Vergangenheit denn gebraucht? Und überhaupt: Warum will jemand den Kopf einer Schwarzen Person essen? Was soll daran attraktiv sein? Der Name dieser Süssigkeit stammt aus einer Zeit, als Schwarze gekauft und verkauft wurden, wie Nahrungsmittel, wie Tiere. Er stammt aus einer Zeit, als Schwarze behandelt wurden, als ob sie keine Menschen, sondern Statuen, Trophäen wären. Die Debatte ist so ermüdend. Behaltet eure Schokolade, und ändert den Namen. Ich weiss nicht, wie gross und hitzig die Debatte ist …

… ziemlich hitzig …
… aber wenn die Schweizerinnen und Schweizer diesen Namen als Schweizer Tradition unbedingt behalten wollen: Was sagt das über die Schweiz und ihre Vorstellung von «race» aus? Und was sagt uns dieses Wort über die Verstrickungen der Schweiz mit dem Kolonialismus? Das Wort ist ein Relikt aus einer rassistischen, kolonialen Ära. Ich glaube, die Angst der Leute, die das Wort verteidigen, ist die: Wenn wir das ändern müssen, wie weit wird es dann noch gehen? Aber es muss doch irgendwo anfangen. Ein paar Dinge sind einfacher zu ändern als andere. Und diese Namensänderung scheint dann doch eine relativ einfache Sache zu sein.

Autorin und Professorin

Maaza Mengiste kam 1971 in Addis Abeba zur Welt. Nach dem Ausbruch der Revolution verliess ihre Familie 1975 Äthiopien. Mengiste lebte in Nigeria, Kenia und schliesslich in den USA. Heute ist sie als Gastprofessorin für Creative Writing an der City University of New York und an der Princeton University tätig. Sie schreibt regelmässig für die «New York Times», «The Guardian» und «Lettre International».

Auf Einladung des Zürcher Literaturhauses und der Stiftung PWG lebte sie zuletzt bis Ende Juni ein halbes Jahr als Writer in Residence in Zürich.

«The Shadow King» : Haile Selassie hört Verdi

Äthiopien, 1935: Nach dem Tod seiner Eltern kommt das Mädchen Hirut als Gratisarbeitskraft in den Haushalt von Aster und deren Ehemann Kidane, der als Offizier in der Armee von Haile Selassie dient. Hier ist Hirut den sexuellen Übergriffen des Hausherrn ausgesetzt, aber auch Asters eifersüchtigen Gewaltausbrüchen. Als Kidane mit seinen Männern in den Krieg gegen die Faschisten zieht, ausgerüstet mit uralten Gewehren und kaum mehr als drei Kugeln pro Waffe, gründet Aster eine Frauentruppe und zieht mit den Männern mit – zuerst zum Ärger von Kidane, der die Frauen nicht dabeihaben will. Doch schliesslich merkt er, dass er sie im Kampf gut brauchen kann.

In ihrem neuen, erst auf Englisch erhältlichen Roman, «The Shadow King», erzählt Maaza Mengiste die Geschichte dieser Soldatinnen und der Gewalt, die sie im täglichen Kampf ums Überleben erfahren. Sie verknüpft diesen Erzählstrang mit jenem des Soldaten Ettore, eines jüdischen Italieners, der in Äthiopien im Auftrag des Generals den Krieg fotografisch dokumentiert und dabei auf Hirut trifft. Der dritte Strang ist aus der Perspektive von Haile Selassie erzählt, dem letzten Kaiser von Abessinien: Der zeitweilig entmachtete Herrscher schaut zu, wie sein Land erobert wird, und hört immer wieder Giuseppe Verdis Oper «Aida». Darin verliebt sich die verschleppte äthiopische Königstochter Aida in ihren ägyptischen Geiselnehmer.

«Ich fragte mich: Wie kann dieses Mädchen sich in ihren Feind verlieben, ihre eigenen Leute betrügen und dann mit diesem Mann sterben?», sagt die Autorin im Gespräch. Maaza Mengiste ist überzeugt, dass die Italiener, die 1935 in Äthiopien einmarschierten, die Oper kannten: «Und ich fragte mich, wie das ihr Verständnis von dem, was im Krieg möglich ist, geformt hat.» Da sie die Rezeption dieser Oper aus der Sicht eines Äthiopiers beschreiben wollte, habe sie erfunden, dass Haile Selassie diese hörte.

Bereits ihr Roman «Unter den Augen des Löwen» (2013) war teilweise aus der Sicht von Haile Selassie erzählt, lange nach dessen Rückkehr an die Macht: Verhaftet und verraten von den eigenen Leuten, schaut er zu, wie 1974 die Revolution ausbricht, bis er schliesslich ermordet wird. Schonungslos schildert Mengiste hier die Brutalität der Revolution, wie Nachbarn sich gegenseitig bespitzeln, Familien auseinandergerissen werden und Freunde einander umbringen.

Silvia Süess

Maaza Mengiste: «The Shadow King». Roman. Canongate Books. Edinburgh 2019. 438 Seiten. 37 Franken.

Maaza Mengiste: «Unter den Augen des Löwen». Roman. Aus dem Amerikanischen von Andreas Jandl. Wunderhorn Verlag. Heidelberg 2013. 315 Seiten. 20 Franken (E-Book).