Kost und Logis: Schaut her, ein Kugelschreiber!

Nr. 42 –

Ruth Wysseier über einen hausgemachten Notstand

11 000 Stellen sind in der Pflege schon heute unbesetzt, bis ins Jahr 2030 würden sogar 65 000 zusätzliche Leute gebraucht, warnt die Gesundheitsbranche. Da sollte es einem doch etwas mulmig zumute werden, mitten in der Pandemie.

Zum Glück gibt es eine Pflegeinitiative, die mehr Kompetenzen, bessere Ausbildungsmöglichkeiten und Arbeitsbedingungen verlangt. Eingereicht wurde sie vor drei Jahren, und diesen Sommer hat das Parlament um einen Gegenvorschlag gefeilscht, der Ständerat hat die Nationalratsversion abgeschwächt, sie war ihm zu teuer. Höchstens 400 Millionen Franken sind dem Stöckli eine verbesserte Ausbildung und die Sicherung der Krankenpflege wert.

Wann wir darüber abstimmen, steht in den Sternen – schade, dass uns diese Vorlage nicht gleichzeitig mit den milliardenschweren Kampffliegern serviert wurde. Möchten Sie die Luft verteidigt sehen, oder wünschen Sie, dass jemand kommt, wenn Sie im Spitalbett die Klingel drücken?

Überraschend ist, dass die Pflegefachschulen in diesem Herbst geradezu überrannt wurden, weil viel mehr junge Leute eine Ausbildung begannen als sonst. Sie haben sich nicht nur für einen anstrengenden, sondern auch für einen ziemlich gefährlichen Beruf entschieden: Etwa jede zehnte Covid-19-Infektion weltweit betrifft das Pflegepersonal, wie der internationale Berufsverband ICN errechnet hat. Die Bilder, Berichte und Reportagen der letzten Monate haben offensichtlich nicht abschreckend gewirkt, im Gegenteil. Der Pflegeberuf zieht trotz Nacht- und Sonntagsarbeit, langer Schichten und mässiger Bezahlung die jungen Leute an. Denn im Frühling wurde eben auch sichtbar, wie gross der gesellschaftliche Nutzen und Wert dieses Berufs ist. Die Krisenbilder aus den Spitälern haben die verunsicherte Bevölkerung beeindruckt, die applaudierte und ergreifende Balkonkonzerte gab.

Über diese Wertschätzung hätte sich sicher auch Florence Nightingale gefreut, die Begründerin der modernen Krankenpflege, deren 200. Geburtstag heuer gefeiert wird. Das Timing ist perfekt, ausgerechnet das Covid-19-Jahr 2020 durfte die WHO zu Ehren Nightingales zum Jahr der Pflegefachpersonen und Hebammen ausrufen. Dass das Berner Inselspital den Angestellten deshalb einen Kugelschreiber schenkte, auf dem «We Care» eingraviert ist, kam bei der Basis jedoch ziemlich schlecht an, viele gaben das Geschenk postwendend zurück. Sie bräuchten mehr Lohn, mehr Personal und fairere Dienstzeiten, fanden sie.

Für die letzte Oktoberwoche ruft der Schweizer Pflegeberufsverband zu Protesten und Aktionen auf, um die Politik wachzurütteln. Ich bin sicher, dass die Bevölkerung, die ihnen im Frühling applaudierte, die Forderungen der Pflegefachleute noch so gern unterstützen wird. Hoffentlich brauchen wir sie bis dann nicht alle an unseren Spitalbetten.

Ruth Wysseier ist Winzerin am Bielersee.