Wasserkraft: Trittfest gegen den Staudamm

Nr. 47 –

Seit 35 Jahren engagiert sich Katharina von Steiger für Landschafts- und Naturschutz im Berner Oberland. Bei ihrem aktuellen Einsatz gegen einen 170-Meter-Staudamm am Triftsee fehlen der Alpinistin gewichtige Verbündete – dafür ist sie umso entschlossener.

«Die Landschaft hat nicht erst einen Wert, wenn ein Mensch sie sieht»: Katharina von Steiger vor der Triftschlucht.

Katharina von Steiger blickt sich um. Weder der See noch das Ende der schmalen Hängebrücke ist erkennbar. Der Triftsee, etwa hundert Meter unter ihren Füssen, ist im Nebel ebenso unsichtbar wie die Berge, die über ihm thronen. Als von Steiger in der Brückenmitte angelangt ist, lehnt sie sich an den Geländeseilen an. Sie tut das mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der sich andere aufs Sofa fläzen.

Von Steiger ist Alpinistin, Psychotherapeutin und Landschaftsschützerin. In gemütlicher Schieflage skizziert sie, wie hier in den letzten Jahrzehnten eine sensible – nun unsichtbare – Landschaft entstanden ist. Der Triftgletscher ist in diesen dreissig Jahren so stark geschmolzen, dass nun der neue See zum Wanderziel geworden ist. Noch in den neunziger Jahren reichte der Gletscher bis unter die heutige Brücke. «In den Siebzigern war der Gletscher bis vorne solide. Damals sind wir alle selbstverständlich übers Eis spaziert», erzählt die 62-Jährige aus Meiringen.

Dann gibt der Nebel doch noch ein Stück frei. Kurz ist der Überrest der Gletscherzunge am Hang zu erkennen, bevor sich die Schwaden so verschieben, dass der See zwischen den Brückenseilen auftaucht. Die Kraftwerke Oberhasli (KWO) wollen aus dem Triftsee einen Speichersee machen. Dort, wo heute die schmale Seilbrücke hängt, soll ein gut 170 Meter hoher Staudamm gebaut werden.

Geschwächte Opposition

Dass man für den AKW-Ausstieg Einbussen in der Landschaft hinnehmen muss, erscheint für viele als notwendiges Übel. Doch der Beitrag des neuen Speichersees zur Energiewende wäre gering; 0,21 Prozent der Schweizer Stromproduktion. Trotzdem ist es so gut wie sicher, dass der Berner Grossrat kommende Woche der Konzession zustimmt.

«Natürlich bin ich keine grundsätzliche Wasserkraftgegnerin», sagt von Steiger, nun wieder mit festem Boden unter den Füssen. Die Kritik ziele immer auf bestimmte Projekte. «Als 1986 ‹Grimsel West› bekannt wurde, war mir und vielen in der Region sofort klar, dass wir etwas tun müssen.» Seit über drei Jahrzehnten wehrt sich der Grimselverein, in dessen Vorstand von Steiger bis heute ist, gegen eine Erhöhung der Staumauer am Grimselsee durch die KWO. Der vergrösserte See würde einen Teil der geschützten Moorlandschaft in der Gegend unter Wasser setzen.

Zeitweise waren die LandschaftsschützerInnen im Haslital massiven Anfeindungen ausgesetzt. Doch es entwickelte sich auch eine internationale Bewegung von StaudammgegnerInnen, die den Grimselverein mit AktivistInnen vom Bündnerland bis zur Narmada-Talsperre in Indien vernetzte. Wichtiger Organisator dieser Bewegung – und ein Freund von von Steiger – war der inzwischen verstorbene Recherchejournalist und WOZ-Autor Jürg Frischknecht.

Gegen den Ausbau der Grimselstaumauer stehen die Naturschutzorganisationen bis heute geeint. Nicht so beim Triftsee. Dieser hat denn auch bei der KWO inzwischen Priorität. Die Pro Natura etwa hält die geplanten Kompensationen, darunter die «Schaffung von Auenlebensräumen» beim Gadmerwasser im Tal, für «akzeptabel». Auf Anfrage heisst es bei Pro Natura, dass man keine Chancen gesehen habe, den Triftstaudamm auf dem Rechtsweg zu verhindern. Das habe den Entscheid beeinflusst.

Der Triftsee liegt nicht in einem Schutzgebiet. Einsprachen sind so schwierig. Zudem hat die KWO 2012 das Gebiet des Sees, samt kaum berührter Landschaft darum herum, gekauft. Eine Aufnahme ins Schutzinventar ist gegen den Willen der Grundeigentümerschaft praktisch unmöglich.

Geringer Beitrag zur Energiewende

Trittfest und ausdauernd muss man für die Wanderung vom Gadmertal zum Triftsee und zurück sein. Auf dem Weg bergab, dem zweiten Teil des «Spaziergangs» (O-Ton von Steiger), lichtet sich der Nebel. Vor ein paar Wochen lag hier bereits einmal Schnee, deshalb leuchten die Grasbüschel an diesem Mittwoch goldbraun. Wie im Frühling. «Älb» nenne man das. Von Steiger geniesst den Anblick. Dann queren auch noch Gämsen den Bergwanderweg, vielleicht 200 Meter von uns entfernt. Um Menschen von der Sinnlosigkeit des KWO-Staudamms in der Trift zu überzeugen, müsse sie aber nicht mit allen wandern gehen. Es reiche, richtig zu rechnen.

«Wenn man in allen frei werdenden Gletschervorfeldern Staudämme baut, erreicht man maximal die siebenfache Leistung der Trift», zitiert von Steiger die Kalkulationen des Energieingenieurs und Anti-AKW-Aktivisten Heini Glauser. Die Schweiz bräuchte aber unglaubliche 65 Triftspeicherseen, um den wegfallenden Atomstrom im Winter auszugleichen. Für von Steiger ist deshalb klar: Projekte wie der Triftgletscher tragen kaum etwas zur Energiewende bei. Anstelle des Wasserkraftausbaus sei die Weiterentwicklung von Fotovoltaikenergie und deren Speicherung, etwa durch Power-to-Gas-Verfahren, vielversprechender. Die Alpen gibt es schliesslich nur einmal; sind sie verbaut, ist der Verlust unwiederbringlich. «Ob ein Kraftwerk rentabel ist, kann man berechnen – den Wert einer Landschaft nicht.»

Die KWO behaupte, das «Triftwasser», der Bach, sei in diesem Abschnitt vom Menschen schlecht einsehbar und eine Veränderung deshalb verkraftbar, sagt von Steiger. Diese Argumentation empört sie, ebenso wie der Versuch, die Zerstörung eines Gebiets mit Ersatzmassnahmen anderswo auszugleichen. «Die Natur ist nicht für den Menschen da. Die Landschaft hat nicht erst einen Wert, wenn ein Mensch sie sieht.»

Nein sagen statt anpassen

Gegen den Staudamm in der Trift engagiert sich neben dem Grimselverein die Gewässerschutzorganisation Aqua Viva. Die Mittel, die ihnen dabei zur Verfügung stehen, sind Überzeugungsarbeit, Einsprachen und ein Referendum. Von Steiger ist sich bewusst, dass es schwierig wird. «Bevor ich mich wehre, mache ich mir nicht Gedanken, wie realistisch ein Erfolg ist», sagt sie. Sogar wenn sie wisse, dass es chancenlos sei, würde sie nicht schweigend zustimmen. Dass das öffentliche Nein-Sagen an sich einen Wert hat, hat von Steiger etwa aus den Gedichten der feministischen Theologin Dorothee Sölle gezogen. Aus Sölles Texten dringt die Überzeugung, dass Freiheit nicht durch Anpassung an die Mehrheit erreicht wird. «bewahre uns vor der harmoniesucht /und den verbeugungen vor den grossen zahlen», heisst es in einem Sölle-Gebet, das dem Vaterunser angelehnt scheint. Politisiert hat sich von Steiger aber bereits am Gymnasium Interlaken, wo sie mit MitschülerInnen linke und feministische Texte diskutierte. Achtung vor der Natur habe sie schon immer verspürt; dass man die Verhältnisse nicht einfach hinnehmen soll, gaben ihr die Eltern mit.

Katharina von Steigers Haltung und ihre Konsequenz erinnern an den Klimastreik – aber sie oder der Grimselverein hätten noch nicht aktiv den Kontakt zu dessen AktivistInnen gesucht. «Ich bin den Jungen zutiefst dankbar. Ich finde ihre Mittel, den zivilen Ungehorsam, mehr als nur angemessen. Aber die Klimabewegung hat immer betont, dass sie sich nicht vereinnahmen lassen will.» Davor hat sie Respekt.

Nur mit Subventionen

Der Triftstaudamm ist das am weitesten fortgeschrittene neue Wasserkraftprojekt der Schweiz – trotzdem bleibt unklar, ob er je gebaut wird. Es brauche dazu Subventionen, heisst es auf Anfrage bei der BKW Energie AG. Gerechnet wird mit Beiträgen vom Bund und vom Kanton Bern in der Höhe von bis zu 200 Millionen Franken. Ausserdem müsse die «Wirtschaftlichkeit gegeben sein». Die BKW Energie AG ist die Hauptaktionärin der Betreiberfirma Kraftwerke Oberhasli (KWO). Weitere Anteile der KWO gehören der Stadt Zürich, den Industriellen Werken Basel und Energie Wasser Bern. Stimmt der Berner Grosse Rat dem Triftstaudamm zu, gilt dessen Konzession bis vorläufig 2042.

Nachtrag vom 2. Dezember 2020 : Für die wilde Landschaft

Der Unteraargletscher schmilzt. Doch die Landschaft, die er hinterlässt, hat eine ganz eigene Schönheit: Die junge Aare fliesst hier zwischen Kiesflächen, Tümpeln, Moos und Flechten durch eine Art Tundra, bis sie in den Grimselstausee mündet. Am Nordufer des Stausees liegt zudem eine geschützte Moorlandschaft.

Dürfen die Kraftwerke Oberhasli (KWO) die Staumauer erhöhen und einen Teil dieser Landschaft zerstören? Der Rechtsstreit darüber dauert schon Jahre. Das Bundesgericht hat nun eine Beschwerde der Umweltorganisationen Aqua Viva und Greina-Stiftung gutgeheissen. Es fordert den Berner Regierungsrat auf, die Sache neu zu beurteilen. Die Erweiterung des Stausees brauche eine Grundlage im kantonalen Richtplan, schreibt das Bundesgericht. Bisher fehle «jegliche Auseinandersetzung mit den dem Projekt entgegenstehenden Interessen des Natur- und Landschaftsschutzes». Und das Gletschervorfeld, potenziell eine Aue von nationaler Bedeutung, sei bisher nicht berücksichtigt worden.

Überraschend ist, dass sich das Bundesgericht auch zu einem zweiten Projekt der KWO äussert: zum geplanten Triftstausee. «Es wird zu entscheiden sein, ob ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Realisierung beider Projekte besteht oder ob nur eines davon oder keines zu verwirklichen ist.» Im Gegensatz zum Grimselgebiet ist die Trift noch nicht durch die Wasserkraftnutzung beeinträchtigt. Trotzdem steht sie nicht unter Schutz. Darum wehren sich die grossen Umweltverbände hier auch nicht gegen die Pläne. Nur Aqua Viva und der lokale Grimselverein sind hartnäckig dagegen. Der Berner Grosse Rat befürwortet das Projekt mit grosser Mehrheit und hätte in diesen Tagen die Konzession für das Kraftwerkprojekt erteilt; der Bundesgerichtsentscheid hat dies nun gestoppt.

«Wir sind froh über das Urteil», sagt Katharina von Steiger vom Grimselverein. Damit werde eine breite Debatte möglich. «Immer mehr Leute verstehen, dass wir einen Landschafts- und Wildnisnotstand haben, und Alternativen zu neuen Stauseen werden immer günstiger.» Um die letzten wilden Bäche zu schützen, propagiert der Grimselverein mehr Solaranlagen in Bauzonen und die Stromspeicherung mit Methoden wie Power to Gas.

Bettina Dyttrich