Asyl für AfghanInnen: Alles faule Ausreden

Nr. 34 –

Verzweifelte Eltern, die ihre Kinder den US-SoldatInnen übergeben, um sie in Sicherheit zu wissen; panische Menschen, die sich an Flugzeuge klammern, vor verschlossenen Flughafentoren ihre Papiere in die Luft recken; lokale HelferInnen, deren Namen auf den Evakuierungslisten nicht auftauchen, die in Kabuler Kellern ohne Aussicht auf Rettung ausharren: Wer dem Bundesrat die letzten Tage zuhörte, konnte leicht den Eindruck gewinnen, diese bitteren Szenen westlichen Versagens in Afghanistan seien nicht bis nach Bern gedrungen – so sehr waren die beiden FDP-MagistratInnen bei ihrer Pressekonferenz vergangene Woche bemüht, bloss nicht den Anschein von Handlungseifer zu erwecken. Statt von Menschlichkeit und Hilfe in einer offensichtlichen Notlage sprachen sie bloss von logistischen Schwierigkeiten und «Bedarfsanalysen», von «abwarten», «realistisch bleiben» und «Lage beobachten». So wortreich war unterlassene Hilfeleistung selten umschrieben worden.

Ähnlich faule Ausreden ertönten auch aus den Nachbarländern. Die scheinbar grösste Sorge in deutschen Politgesprächen vor der Bundestagswahl: dass sich der Flüchtlingssommer 2015 nicht wiederholen möge. In Frankreich warnten sie vor den Fliehenden als Sicherheitsgefahr, in Österreich kündigten sie neue Ausschaffungen an – wenn schon nicht nach Afghanistan selbst, dann wenigstens in die Nachbarländer. Der gegenwärtige Konsens auf dem Kontinent der angeblichen Werte: die Menschen um jeden Preis von Europa fernhalten, wenn es sein muss, auch mit Gewalt.

Neu ist die organisierte europäische Verantwortungslosigkeit nicht. Die Pushbacks in der Ägäis und auf dem Balkan, die Toten im Mittelmeer, die unmenschlichen Lager auf den griechischen Inseln und die prekären Zustände in Schweizer Asylzentren: Sie alle sind Ausdruck langjähriger Abschottungspolitik. Weil der Zugang nach Europa für die meisten Menschen versperrt ist, existiert das Asylrecht im Grunde nur noch auf dem Papier. Die Weigerung, die Konsequenzen des eigenen Handelns in Afghanistan zu tragen, ist dabei bloss eine weitere schändliche Episode.

Um die Schutzbedürftigen ausfindig zu machen, bedarf es übrigens keiner grossen Analyse, auch wenn Karin Keller-Sutter das dreist behauptet. Dazu genügt ein kurzer Blick auf die Landkarte. Der Iran, selbst von Wirtschaftskrise und Pandemie schwer getroffen, beherbergt Hunderttausende AfghanInnen. Ähnlich ist die Lage in Pakistan und der Türkei, Europas liebster Flüchtlingsabwehrhelferin. Weil die Taliban die Grenzen kontrollieren, schaffen es die meisten Fliehenden aber ohnehin nicht aus Afghanistan heraus. Wer also in den nächsten Tagen keinen Platz auf einem der Evakuierungsflüge bekommt, sitzt in der Falle und ist akut bedroht.

So sehr sich der Bundesrat auch hinter bürokratischen Ausflüchten verstecken mag: Wo ein politischer Wille vorhanden ist, da ist im wahrsten Sinn des Wortes auch ein Weg. Das zeigen die Forderungen von SP, Grünen und MenschenrechtlerInnen. Dem Beispiel Kanadas und Grossbritanniens folgend, könnte die Schweiz grosszügig Kontingente beschliessen – und zumindest Menschen aus Afghanistans Nachbarländern einfliegen. Um diesen Menschen Zuflucht zu bieten, haben diverse Städte ihre Unterstützung angeboten. Ebenso entscheidend wäre eine Uno-Flüchtlingskonferenz, um ein Resettlement-Programm aufzugleisen, wie es Migrationsrechtler Alberto Achermann fordert.

So einfach umsetzbar wie wichtig wäre zudem – das haben die Begegnungen mit jungen AfghanInnen gezeigt, die in Sorge um ihre Familien am Wochenende zahlreich in Schweizer Städten demonstrierten – ein sicherer Aufenthaltsstatus für jene, die bereits hier sind. Und ein möglichst rascher und unkomplizierter Familiennachzug. Der Flüchtlingssommer 2015, auf den später die grosse Abschottung folgte, war auch ein Sommer der Solidarität. Entzieht sich der Bundesrat weiterhin seiner Verantwortung, muss der Druck für eine baldige Lösung auf der Strasse erhöht werden. Nicht nur von den AfghanInnen, sondern von uns allen.