Benafsha Efaf: «Niemand fragt nach den Frauen»

Nr. 46 –

Die Anwältin und Aktivistin Benafsha Efaf erzählt im Gespräch mit der WOZ von ihrer Flucht und davon, wie sich die Lage für Frauen in Afghanistan in den vergangenen Jahren entwickelt hat.

«Seit die Taliban die Macht übernommen haben, geniessen Aktivistinnen wie ich keinerlei Schutz mehr»: Anwältin Benafsha Efaf.

WOZ: Benafsha Efaf, Sie arbeiten seit 2010 für die NGO Women for Afghan Women (WAW) und setzen sich dabei für die Rechte der Frauen in Afghanistan ein. Nun mussten Sie selber flüchten und sind am 9. Oktober in der Schweiz angekommen. Wann haben Sie beschlossen, Ihre Heimat zu verlassen?
Benafsha Efaf: Ab dem Moment, in dem die Taliban die Macht übernommen haben, war klar, dass Aktivistinnen wie ich keinerlei Schutz mehr geniessen. Im September kamen Taliban in unsere Büros, durchsuchten alles und machten Fotos von den Auszeichnungen für unsere Arbeit. Anschliessend warfen sie diese auf den Boden und verbrannten sie. Ich erhielt Nachrichten auf mein Handy, in denen stand, es sei bekannt, dass ich die westliche Kultur in Afghanistan etabliert habe. Während der letzten Wochen vor unserer Flucht haben mein Mann, meine Tochter und ich ständig unseren Wohnort gewechselt. Aber die Taliban sind auch zum Haus meiner Eltern und an die Wohnorte meiner Geschwister gekommen, um uns zu suchen. Als ich Ende September einen Anruf erhielt, dass meine Familie und ich bei einem vom Radsportweltverband, von der Fifa und der israelischen Hilfsorganisation Israaid organisierten Evakuierungsflug dabei sein könnten, hatte ich zehn Minuten Zeit, um mich zu entscheiden – und habe dann zugestimmt.

Wie ging es weiter?
Der Flieger sollte in Tadschikistan starten, also mussten wir nach Kundus im Nordosten Afghanistans, um von da aus die Grenze zu überqueren. Wir waren rund 170 Personen, die in drei Bussen unterwegs waren. Darunter waren Sportler:innen, aber auch Menschenrechtsaktivist:innen wie mein Mann und ich. Die Taliban haben uns jedoch nicht über die Grenze gelassen, weshalb wir mitten in der Nacht umkehren und uns wieder verstecken mussten. Wenige Tage später erhielten wir erneut einen Anruf, und es wurde uns gesagt, dass wir eine Maschine aus Masar-e Scharif, einer anderen Stadt im Norden Afghanistans, nehmen könnten. Der Talib, der mir am Flughafen den Ausreisestempel gab, durchschaute mich. Er sagte: «Geh zur Hölle! Solange wir hier sind, darfst du nicht mehr nach Afghanistan zurückkehren!» Bis heute habe ich diese Stimme im Ohr.

Was war das für ein Gefühl, als die Maschine abhob?
Noch immer scheint mir alles wie ein Traum. Es ist schon schwierig, seine Heimat unter normalen Umständen zu verlassen. Ein Land zu deiner eigenen Sicherheit zu verlassen, obwohl die Frauen und Kinder dort deine Arbeit brauchen, ist noch schwieriger.

Als Anwältin haben Sie in der Vergangenheit vor allem Frauen vor Gericht vertreten. Wurden Sie schon vor dem Regimewechsel bedroht?
Mein Name steht seit 2021 auf der Todesliste der Taliban, wie mir der Mann einer Mandantin in einer Nachricht mitteilte, der selbst ein Talib ist. 2019 hatte ich den Fall seiner Ehefrau übernommen, die sich von ihm scheiden lassen wollte. Sie ging zur Polizei und meldete, dass ihr Partner sie misshandle und sie Schutz brauche. Es wurde ihr versprochen, sie in ein Frauenhaus zu bringen. Doch dann wurde sie an einem abgelegenen Ort in Kabul von vier Polizisten vergewaltigt und anschliessend zu uns gefahren.

Wie konnten Sie ihr helfen?
Nachdem die Frau mir erzählt hatte, was ihr widerfahren war, habe ich Anzeige erstattet. Von den Behörden kam der Vorschlag, dass sie geschieden werden und anschliessend einen der vier Beamten heiraten könne – aber das habe ich abgelehnt. Wir wollten Aufklärung. Drei Beamte sind geflohen, nur einer wurde verurteilt. Auch der Ehemann musste ins Gefängnis. Er wurde aber 2020 im Rahmen eines Amnestieabkommens, das während der Friedensgespräche zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung in Doha beschlossen wurde, aus der Haft entlassen.

Änderten die Friedensgespräche auch für Sie etwas?
Nein, die Bedrohungen gingen weiter. Die Taliban wussten alles über uns: wann meine Tochter zur Schule ging, welche Farben die Wände in unserem Haus oder in meinem Büro hatten. Ich hatte kein normales Leben mehr. Jeden Tag dachte ich, jemand könnte mich erschiessen oder meiner Familie etwas antun. Also ging ich nur noch einmal die Woche ins Büro und nahm immer andere Wege. Obwohl die Sicherheitsbehörden informiert waren, habe ich mich nicht sicher gefühlt, denn unsere Regierung wurde immer schwächer. Mir wurde damals schon geraten, das Land zu verlassen.

Sie sind dennoch geblieben.
Ja, weil wir in der Regierung Netzwerke wie das Ministerium für Frauenrechte hatten. Wenn ich damals gegangen wäre, dann hätte das auch andere Aktivist:innen entmutigt.

Sie waren bei WAW für 33 Frauenhäuser im ganzen Land verantwortlich. Wie hat Ihre Arbeit genau ausgesehen?
Zusätzlich zu den Frauenhäusern haben wir in den vergangenen Jahren sechs Zentren für Kinder eröffnet. Muss in Afghanistan eine Frau ins Gefängnis, gibt es keinerlei Unterstützung für ihre Kinder. Wenn es keine andere Lösung gibt, müssen diese mit ihren Müttern in Haft. Wir haben den Kindern ein Zuhause gegeben und Bildung ermöglicht, nach Stipendien im Ausland für sie gesucht. Diese Aktivitäten habe ich sehr geliebt, überhaupt liebe ich meine ganze Arbeit. Bei den Frauenhäusern hatten wir zwei unterschiedliche Anlaufstellen. Da waren einerseits Häuser, in denen Frauen lebten, die von Gewalt bedroht waren, und die sogenannten Durchgangshäuser. Diese waren für Frauen, die zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden waren. Weil das als grosse Schande gilt, werden sie von der Familie und der Gesellschaft verstossen. Deswegen haben wir sie bis zu ihrem Haftantritt aufgenommen. Und in weiteren Anlaufstellen haben wir Frauen untergebracht, die eine Scheidung hinter sich hatten.

Auch vor der Machtübernahme durch die Radikalislamisten galt Afghanistan als eines der gefährlichsten Länder der Welt für Frauen …
In den vergangenen zwanzig Jahren hatten wir grosse Fortschritte bei den Frauenrechten gemacht. Es wurden Gesetze unterzeichnet, die Gewaltverbrechen an Frauen unter Strafe stellten. In den Gerichten urteilten Richterinnen, wir hatten Ministerinnen. Auch wenn die Lage nach wie vor schwierig war, gab es doch Schritte in Richtung Gleichberechtigung.

Ihre Eltern haben Sie Jura studieren lassen – das war vermutlich keine Selbstverständlichkeit?
Meine Eltern haben mich immer unterstützt, aber natürlich ist das Leben einer Frau auch in liberalen Familien sehr schwer. Ich musste gegen Vorurteile kämpfen, Verwandte forderten mich auf, bei WAW zu kündigen. Nach der Verabschiedung des Gesetzes zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen stieg die Zahl der registrierten Verbrechen an Frauen. Daraufhin wurde ich von meinen Angehörigen beschuldigt, dafür mitverantwortlich zu sein. Ich habe versucht zu erklären, dass die Frauen in der Vergangenheit nicht über ihre Rechte informiert gewesen seien und dass wir landesweit – auch in sehr ländlichen Gegenden – in die Schulen, Universitäten, Krankenhäuser, Moscheen und Koranschulen gegangen sind, um die Menschen über ihre Rechte, aber auch über ihre Verantwortung aufzuklären. Deswegen stieg die Zahl der gemeldeten Fälle. Kritik und Hindernisse kamen aber natürlich aus breiten gesellschaftlichen Schichten. So haben etwa Konservative regelmässig das Gerücht gestreut, unsere Frauenhäuser seien in Wirklichkeit geheime Bordelle.

Sie wurden nicht nur von den Taliban und Konservativen unter Druck gesetzt, sondern auch von Anhängern des Islamischen Staats (IS) bespitzelt.
Ja, 2015 gab es einen spezifischen Vorfall. Damals kam ein junges Mädchen in eines unserer Frauenhäuser, das behauptete, vor seiner Familie, die es misshandelt habe, weggelaufen zu sein. Nach sechs Monaten gestand sie, dass sie vom IS zu uns geschickt worden war, um uns auszuspionieren, Bericht zu erstatten und der Gruppe bei der Planung eines Angriffs zu helfen. Das Mädchen fühlte sich wegen ihres Undercovereinsatzes schuldig. Ich habe mich anschliessend mehrfach mit ihrem Vater getroffen, der eines Tages tot an einem Baum aufgehängt gefunden wurde.

Nun wurden alle Frauenhäuser geschlossen. Was ist mit den Schutzsuchenden geschehen?
Sechs Monate vor dem Zusammenbruch der Regierung haben wir damit begonnen, die Frauen langsam wieder zurück in die Gesellschaft zu integrieren. Damals hatte sich schon abgezeichnet, dass es eine Machtübernahme geben könnte. Also haben wir verstärkt nach Jobs gesucht oder Wohnungen für sie gemietet. Es gibt aber auch Frauen, die zu ihren Familien zurückgegangen sind und immer noch von WAW betreut werden.

Wie könnte die internationale Gemeinschaft den afghanischen Frauen helfen?
Ich sehe keinerlei ernsthafte Bemühungen der internationalen Gemeinschaft, die Situation zu verbessern. Die Frauen werden zurückgelassen, niemand fragt nach ihnen. Vor drei Monaten hatten wir noch Politikerinnen, jetzt dürfen Frauen nicht einmal mehr ohne männliche Begleitung auf die Strasse. Die Taliban haben sich nicht verändert. Es wird anscheinend erwartet, dass wir Frauen Kompromisse in Bezug auf unsere Rechte machen, aber das werden wir nicht. Die internationale Gemeinschaft muss eine starke Haltung bei der Einhaltung der Frauenrechte einnehmen. Und Gesandte der Taliban sollten nicht als offizielle Vertreter des Landes anerkannt werden.

Haben Sie Hoffnung, dass sich die Situation in absehbarer Zeit verbessern könnte?
Ich glaube nicht, dass sich die Taliban lange an der Macht halten werden. Es fehlt ihnen an Akzeptanz im Land und innerhalb der internationalen Gemeinschaft und an der Expertise für eine Regierung. Aber klar ist: Solange die Taliban in Afghanistan herrschen, kann ich nicht zurück.

Benafsha Efaf (36) hat in Kabul Jura studiert. Die Organisation Women for Afghan Women (WAW), für die sie arbeitet, ist nach eigener Aussage die weltweit grösste NGO, die sich für Frauenrechte in Afghanistan einsetzt.