Nordirland: Religion trennt, Armut verbindet

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In Belfast droht der Brexit alte Wunden aufbrechen zu lassen. Doch viele junge Leute fühlen sich von den Politiker:innen immer weniger repräsentiert – sie versuchen, über die alten Gegensätze hinauszublicken und neue Identitäten zu finden.

  • Ein Wandgemälde zu Ehren eines probritischen Paramilitärs in Belfasts Shankill Estate. Stephen Donnan-Dalzell, der im Haus wohnt, kann mit diesem Kult nichts anfangen.
  • Auch in ­katholischen Vierteln erinnern Wandgemälde an den bewaffneten Konflikt: Bobby Sands, Mitglied der IRA, starb 1981 nach 66 Tagen Hungerstreik im Gefängnis.
  • Fahnenträger am Begräbnis eines Veteranen der britischen Armee.
  • Stramm loyalistisch auf­gewachsen: Doch mit seinem Coming-out kamen Stephen Donnan-Dalzell erste Zweifel.
  • Die Katholikin Amy Rafferty hat schon versucht, randalierende Jugendliche zu beruhigen.
  • Die loyalistische Lokal­politikerin Julie-Anne Corr-Johnston warb für den Brexit – heute bereut sie es.

Es ist ein sonniger Novembermorgen, im Osten von Belfast wird gerade ein Veteran der britischen Armee zu Grabe getragen. Bedächtig zieht der Trauerzug die Newtownards Road entlang, zuvorderst ein Dudelsackspieler, wie es der Brauch ist, dahinter folgen die sechs Sargträger. Union-Jack-Flaggen überall, manche Gäste sind in Uniform gekommen. Der Zug passiert die protestantische Kirche und geht vorbei an einer Mauer, auf der steht: «Freedom Corner».

Dies ist das Herz von East Belfast, wo die Schriftzüge an den Hauswänden dem probritischen Loyalismus huldigen. Während des bewaffneten Konflikts, der in Nordirland von den späten sechziger bis Mitte der neunziger Jahre tobte, der sogenannten Troubles, war dies eine Hochburg der protestantischen Unionist:innen. Der Verbleib Nordirlands im Vereinigten Königreich, also die Loyalität gegenüber der britischen Krone, war für die Menschen hier ein Ziel, das es mit Gewalt zu verteidigen galt.

Stephen Donnan-Dalzell ist in der loyalistischen Gemeinschaft von East Belfast aufgewachsen, er entstammt der protestantischen Arbeiterklasse. Seine früheste Erinnerung ist ein gewaltiger Knall, der das Haus erschüttern liess, dann ein Luftzug, Sprünge in den Fenstern der Nachbar:innen: ein Bombenanschlag der Irisch-Republikanischen Armee (IRA). Das war 1992, Donnan-Dalzell war damals vier Jahre alt. «Es ist eine recht typische Erinnerung für Leute in Nordirland», sagt er. Mittlerweile lebt er am anderen Ende der Stadt, im Shankill, das ebenso stramm loyalistisch ist wie die Strassen seiner Kindheit.

Keine rote Linie mehr

Shankill ist kein schmuckes Quartier. Überwachsene Trottoirs, Schmierereien an leer stehenden Gebäuden, hier und dort zerbrochenes Glas. «Warnung: Weil der Preis für Munition gestiegen ist, wird kein Warnschuss abgegeben», steht auf einem Schild über einer Haustür. Ein von Pathos triefendes Bild an einer Hauswand ehrt einen loyalistischen Paramilitär, der ein Dutzend katholische Zivilist:innen auf dem Gewissen hatte und im Jahr 2000 selbst gewaltsam zu Tode kam. In diesem Haus wohnt Donnan-Dalzell.

«Wenn man in einer solchen Gemeinschaft aufwächst, dann wird sie Teil der Identität», sagt der 33-Jährige. «Und so ist man auch eher bereit, die Haltungen dieser Gemeinschaft zu verteidigen.» Donnan-Dalzell trägt einen weissen Wollpullover und bunte Turnschuhe, an seiner Nase hängt ein kleiner silberner Ring. «Bis ich neunzehn war, hatte ich keinerlei Erfahrung mit republikanisch gesinnten oder katholischen Menschen. Meine Primarschule war praktisch ausschliesslich protestantisch.» Als Teenager identifizierte er sich stark mit dem Unionismus – so wie alle seine Altersgenossen. «Das änderte sich, als mir bewusst wurde, dass ich schwul bin. Die Democratic Unionist Party (DUP), die grösste unionistische Partei, ist sehr homophob. Und zum allerersten Mal stellte ich fest: Diese Leute stehen nicht auf meiner Seite.»

In der LGBT-Community von Belfast und an der Universität kam er erstmals in Kontakt mit Menschen, die andere politische Haltungen vertreten. «Ich hatte auf einmal Freundinnen und Freunde, die katholisch und republikanisch waren oder die aus der Mittelklasse stammten», sagt Donnan-Dalzell. «So hatte ich Gelegenheit, meine eigenen Überzeugungen zu hinterfragen. Seither habe ich viele Leute kennengelernt, die ganz unterschiedliche Meinungen haben, und meine eigenen Ansichten haben sich geändert.»

Donnan-Dalzell ist in dieser Hinsicht ein typischer Vertreter seiner Generation. Die politischen Repräsentant:innen des Unionismus, allen voran jene der DUP, sind bekannt für ihren bornierten Sozialkonservatismus und ihre Unfähigkeit zu politischen Kompromissen. Aber damit vermögen sie die protestantische Bevölkerung immer weniger zu repräsentieren. Bereits vor vier Jahren ergab eine Studie, dass Protestant:innen unter vierzig mit überwältigender Mehrheit das Abtreibungsrecht und die gleichgeschlechtliche Ehe befürworten. In Donnan-Dalzells Wohnzimmerfenster, das auf die Strasse geht, hängt eine Pride-Flagge, aber noch nie seien er oder sein Ehemann deswegen angefeindet worden, sagt er. Auch bei der konstitutionellen Frage sind junge Menschen aufgeschlossener: Viele bevorzugen zwar den Verbleib im Vereinigten Königreich, aber für sie ist Nordirlands Status als britische Provinz nicht jene «blutrote Linie», die er für die DUP darstellt. «Wir sind offener geworden, und die Leute haben wenig Interesse, sich gegenseitig mit Steinen zu bewerfen», sagt Donnan-Dalzell.

Dennoch ist in manchen Teilen der unionistischen Gemeinschaft eine tiefe Unzufriedenheit spürbar. Das ist zum einen der demografischen Entwicklung geschuldet. Als vor hundert Jahren die Republik Irland gegründet wurde, war im nun davon abgetrennten Norden der Insel die Mehrheit der Bevölkerung protestantisch-unionistisch – tatsächlich wurde die Grenze zur Republik damals bewusst so gezogen, dass die republikanischen Katholik:innen in der Minderheit blieben. Aber das hat sich seither geändert: Die republikanische Bevölkerung ist sukzessive gewachsen; gut möglich, dass sie bereits jetzt die Mehrheit stellt. Zeigen wird das die Auswertung des Zensus von letztem Jahr.

Dazu kommt das wachsende Gefühl, dass das politische Establishment – in Belfast wie auch in London – die Stimmen der jüngeren Protestant:innen ignoriert. Der Brexit-Deal, den Boris Johnson ausgehandelt hat, ist der offensichtlichste Affront. Seit Anfang dieses Jahres verläuft gemäss dem ergänzenden Nordirland-Protokoll eine Zollgrenze zwischen Nordirland und dem britischen Festland: So müssen viele Importfirmen zusätzliche Formulare ausfüllen, und an den Häfen finden Kontrollen statt. Der Handel über die dank dem Protokoll weiterhin offene Grenze zur Republik Irland ist hingegen reger als je zuvor: In den ersten neun Monaten 2021 ist das Handelsvolumen laut der Statistikbehörde in Dublin um 60 Prozent gestiegen. Auch wenn die konstitutionelle Frage jüngeren Leuten kaum schlaflose Nächte bereitet, empfinden Unionist:innen unter ihnen die wirtschaftliche Annäherung Nordirlands an die Republik dennoch als eine Bedrohung ihrer Identität – und als ein Indiz, dass sich die Regierung in London um ihre Bedenken foutiert.

Aus den falschen Gründen wütend

Im Frühjahr trugen manche Loyalist:innen ihre Wut auf die Strasse. Jugendliche aus loyalistischen Vierteln schmissen Steine auf die Polizei, ein Bus wurde in Brand gesteckt. Im November brach erneut Gewalt aus. In einer unionistisch geprägten Vorstadt von Belfast kaperten maskierte Männer einen Bus und fackelten ihn ab. Wenige Tage später waren im Westen von Belfast erneut Jungs aus beiden Gemeinschaften auf der Strasse. Sie bewarfen sich gegenseitig mit Steinen und attackierten die Polizei. Und am Wochenende danach stand in Nordbelfast erneut ein Bus in Flammen.

Liegt das allein am Brexit? «Bullshit», sagt Donnan-Dalzell. «Der Brexit beeinflusst den Alltag der Menschen hier viel weniger als soziale Probleme. Ich verstehe, dass die Leute frustriert sind – die Krawalle waren ein Ausbruch der Frustration, eine Art Ventil. Aber der tiefere Grund für ihre Verbitterung ist nicht der Brexit, den die unionistischen Politiker zum Sündenbock machen. Es ist Armut.» Donnan-Dalzell arbeitet in einem Obdachlosenheim, er kennt die Probleme der Menschen in seinem Viertel: Geldnot, fehlende Perspektiven, schlechte Ausbildung, schlechte Gesundheit. «In den 23 Jahren seit dem Friedensabkommen haben sich viele dieser Probleme verschlimmert. Und das Gleiche gilt für das katholische, republikanische Quartier der Falls Road, gleich nebenan», sagt er. Beide Stadtteile zählen zu den zehn ärmsten Bezirken in Nordirland, insbesondere bei der Kinderarmut und dem Bildungsniveau schneiden sie miserabel ab. «Die Leute auf beiden Seiten haben genau dieselben Probleme», sagt Donnan-Dalzell.

Wenn die unionistischen Politiker:innen stattdessen die alten politischen Differenzen und gesellschaftlichen Gegensätze in den Vordergrund stellen – und damit viele junge Leute anstacheln können –, hat das laut Donnan-Dalzell einen einfachen Grund: «Sie wollen verhindern, dass zwischen den Communitys eine Solidarität entsteht, um die soziale Misere gemeinsam zu bekämpfen. Wenn sie es schaffen, dass die Leute aus den falschen Gründen wütend sind, dann müssen sie sich nicht um die wirklichen Probleme kümmern.»

Auf die Frage, ob er sich noch immer als Unionisten verstehe, schweigt Donnan-Dalzell eine Weile. «Ich weiss es nicht mehr», sagt er schliesslich. «Ich kann mich weder dafür begeistern, dass wir die Union mit Grossbritannien beibehalten, noch für eine Vereinigung mit der Republik Irland. Denn wenn wir morgen ein Teil Irlands wären, würde sich nichts fundamental ändern.» Er bezeichnet sich als Sozialisten: Seine Priorität sei es, die Kluft zwischen Arm und Reich zu verkleinern. «Bis das geschieht, wird es keinen wirklichen Frieden geben. Denn der Konflikt ist zwar vorbei, aber wir haben keinen Frieden. Die Communitys trauen einander noch immer nicht ganz.»

«Warum werft ihr Steine auf sie?»

Um zur Falls Road zu gelangen, geht man vom Shankill zunächst entlang der riesigen Peace Wall, die die beiden Quartiere trennt. Das Tor auf dem Lanark Way ist heute frei passierbar, aber vor wenigen Tagen hatten sich hier Jugendliche aus beiden Communitys eine Strassenschlacht geliefert, Vermummte auf beiden Seiten bewarfen sich mit Steinen und Molotowcocktails. Auch bei den Krawallen im April war hier ein Brennpunkt. Amy Rafferty war mittendrin, auf der republikanischen Seite. Sie schmiss nichts, sondern redete auf die Beteiligten ein und versuchte, sie zur Heimkehr zu bewegen. «Es war seltsam», sagt sie. «Manche der Kids sagten mir, dass sie Freunde im Shankill haben. Ich fragte sie: ‹Aber warum in aller Welt werft ihr dann Steine auf sie?›»

Rafferty, 21 Jahre alt, spricht leise und wählt ihre Worte sorgfältig aus. Sie arbeitet bei der Organisation Trademark Belfast, einem politischen Bildungszentrum, das eng mit der irischen Arbeiter:innenbewegung verknüpft ist. Das Büro liegt gleich neben einem Durchgang in der «Friedensmauer», unweit der Falls Road. «In den Köpfen der Kids geht es nicht so sehr um die Politik. Manche sind gerade mal zwölf Jahre alt – sie verstehen die Komplexitäten des Nordirland-Protokolls überhaupt nicht. Sie sehen eine Rauferei und wollen mit dabei sein.» Auch wenn den Krawallen der politische Inhalt fehlt, spürt Rafferty doch ein hartnäckiges Misstrauen zwischen unionistischen und republikanischen Nordir:innen, das solchen Ereignissen eine Brisanz verleiht. «Es gibt in beiden Communitys noch immer viel Ignoranz und Missverständnisse», sagt sie.

Sie selbst ist im katholischen Westbelfast aufgewachsen – und machte die gleiche Erfahrung wie Donnan-Dalzell, nur umgekehrt. In der Kindheit und frühen Jugend hatte sie keinerlei Kontakt zu nichtkatholischen Menschen, und dann auf einmal, beim Eintritt ins Gymnasium mit sechzehn Jahren und bei den ersten Gesprächen mit unionistischen Protestant:innen, kam die Erkenntnis: «Wir sind alle genau gleich.» Was jedoch trotz aller Gemeinsamkeiten fehle, seien «schwierige Konversationen», sagt Rafferty. «Es gibt noch immer viele Erinnerungen an all das Leid während der ‹Troubles›, und die Generation unserer Eltern, die den Krieg erlebt hat, gibt sie weiter an uns.»

Aber statt dass man offen über die Gewalt während des Bürgerkriegs rede, über die Verantwortung auf beiden Seiten, über Opfer und Täter, bleibe es bei oberflächlichen Gesten. «Anlässe zwischen Schulen aus unterschiedlichen Communitys beschränken sich meist darauf, dass Unionisten die irische Flagge halten und Republikaner den Union Jack, und das war es auch schon.» Eine Wahrheits- und Versöhnungskommission nach dem Vorbild Südafrikas gibt es bislang nicht – obwohl sie viele Nordir:innen aus beiden Bevölkerungsteilen begrüssen würden: Zwischen 2017 und 2019 stieg die Zustimmung zu einer Versöhnungskommission laut einer Umfrage von rund 32 auf 46 Prozent. Die Weigerung der Politiker:innen, sich direkt und ohne Umschweife mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, sei ein Grund, weshalb die Gegensätze fortdauerten, sagt Rafferty. «Belfast ist noch immer eine geteilte Stadt.»

Ob sie manche loyalistischen Quartiere meide? «Oh Gott, ja, klar», antwortet Rafferty. «Ich würde vielleicht durch Shankill gehen, wenn ich in Begleitung bin oder wenn ich im Auto sitze. Aber niemals allein. Es gibt noch immer Leute, die voll von Hass sind.» Einige dieser Leute üben in den loyalistischen Vierteln auch heute noch Einfluss aus: Die paramilitärischen Gruppen sind zwar schon längst verboten, aber sie bestehen im Untergrund fort, manche sind in kriminelle Aktivitäten verwickelt. «Die Paramilitärs vermögen noch immer viele Leute einzuschüchtern», sagt Rafferty.

Die lesbische Loyalistin

In Nordbelfast, etwa zwei Kilometer vom Stadtzentrum entfernt, sitzt eine loyalistische Politikerin, die Rafferty zustimmen würde. Julie-Anne Corr-Johnston, 33 Jahre alt, ist keine typische Vertreterin ihrer Kaste, den Job als Lokalpolitikerin für die Ulster Unionist Party (UUP) macht sie nur in Teilzeit. Eigentlich ist sie Masseuse. Früher engagierte sie sich in einer Sozialstiftung, die LGBT-Menschen unterstützt, zudem hat sie in Nordbelfast mit behinderten Kindern gearbeitet. Sie lebt zusammen mit ihrer Ehefrau und ihren zwei Kindern im Quartier, in dem sie aufgewachsen ist. «Die Leute kennen mich hier. Wenn ich im Pub bin und gerade kein Geld dabeihabe, stehen auf einmal fünf Pints vor mir, spendiert von den anderen Gästen.» Das glaubt man ihr gern. Corr-Johnston ist eine aufgeweckte, zugängliche Frau, die keine Hemmungen hat, ihre Meinung zu sagen.

«Zweifellos haben wir ein Problem mit den Paramilitärs», sagt Corr-Johnston in ihrem Parteibüro, das an der Hauptstrasse zwischen einem Fitnessstudio und einem Schönheitssalon für Haustiere liegt. «Natürlich müssen diese Organisationen verschwinden – aber die Frage ist: Wohin gehen die Leute? Sie leben in unseren Communitys, sie sind unsere Nachbarn, ihre Kinder gehen in dieselbe Schule wie meine. Wir brauchen also einen Prozess, um sie zu rehabilitieren.» Corr-Johnston kennt viele Menschen, die früher in diesen Gruppen waren oder es noch immer sind: Bis im letzten Jahr war sie Mitglied der Progressive Unionist Party (PUP), dem politischen Arm der Ulster Volunteer Force (UVF), einer der grössten paramilitärischen Gruppen auf unionistischer Seite. Sie stieg 2012 in die Politik ein, als die Loyalist:innen wegen einer Flaggenkontroverse in Aufruhr waren: Der Gemeinderat von Belfast hatte entschieden, den Union Jack – Symbol der Einheit mit Grossbritannien – nicht mehr jeden Tag über dem Rathaus wehen zu lassen. Die Loyalist:innen waren stinksauer, wochenlange Krawalle folgten.

Corr-Johnston, damals Mitte zwanzig, besuchte viele politische Anlässe und kam ins Gespräch mit Politikern der PUP. Sie überlegte sich, der Partei beizutreten. «Meine Mutter sagte damals: ‹Auf keinen Fall wirst du das tun – das ist keine politische Partei, sondern die politische Vertretung der UVF.› Sie hatte wohl Angst, dass ich mit einem paramilitärischen Tattoo und einer Sturmmütze zurückkommen würde», sagt Corr-Johnston und grinst. Stattdessen sah sie an den Parteianlässen etwas anderes: «Wir sprachen über Wohnungsnot, über die Aufwertung dieses Quartiers, über Abfalleimer, über Probleme mit Ratten. Es war keine paramilitärische Organisation, sondern eine soziale Bewegung, die sich gegen wirtschaftliche Not einsetzte. Da lagen auch meine Interessen, also trat ich bei.» 2014 wurde Corr-Johnston zur Gemeinderätin gewählt, viele Jahre lang war sie aktiv in der PUP. 2016, als das EU-Referendum kam, engagierte sie sich für den Brexit, so wie viele unionistisch gesinnte Leute.

Das bereut sie heute. «Wir aus der Arbeiterklasse haben uns schon immer von Leuten vertreten lassen, die besser gebildet oder sozial besser gestellt sind», sagt Corr-Johnston. «Wir geben ihnen stets die Gelegenheit, unsere politische Stimme zu sein. Sie hingegen geben uns nicht die nötigen Informationen, damit wir selbst Entscheidungen treffen können. Genau dies war der Fall beim Brexit.» Sie bezieht sich vor allem auf die DUP, die einflussreichste unionistische Partei, die dem Brexit das Wort redete und versprach, dass er die britische Union retten werde. 2019 behaupteten die DUP-Politiker:innen steif und fest, dass der No-Deal-Brexit das Beste sei für Nordirland. «Ich war total dagegen», sagt Corr-Johnston. Sie befürchtete einerseits einen enormen wirtschaftlichen Schaden, der vor allem die Armen treffen würde. Und andererseits sah sie, dass der Brexit die Union nicht retten würde – sondern im Gegenteil eine Gefahr für den Zusammenhalt des Landes sein könnte. «Ich setzte mich für ein zweites Referendum ein, das People’s Vote», sagt sie; das führte schliesslich zum Bruch mit der PUP.

Vereinigtes Irland?

Eine überzeugte Loyalistin und Unionistin bleibt sie dennoch – aber sie differenziert: «Der Unionismus ist nicht Teil meiner persönlichen Identität, sondern meine politische Ideologie.» Sie habe die gleichen Ziele wie die Anhänger:innen eines vereinigten Irland: ein Ende der Armut, ein funktionierendes Gesundheitssystem, soziale Sicherung – «Gleichheit und materieller Wohlstand», fasst sie zusammen. Aber sie ist überzeugt, dass sich diese politischen Ideale im britischen Staatsverband am besten verwirklichen lassen. «Wir haben innerhalb der Union bereits die Strukturen, um diese Ziele zu erreichen. Wir sind sozusagen auf der Überholspur.»

Für Corr-Johnston ist dies der Kern eines progressiven Unionismus: «Ich messe den Erfolg der Union nicht am Wahlerfolg einer bestimmten Partei, sondern am sozioökonomischen Reichtum der Menschen, die in dieser Union leben», sagt sie. Diese Politik sah sie in der proeuropäischen und weniger dogmatischen UUP vertreten, besonders unter dem neuen Vorsitzenden Doug Beatty, und so trat sie im Sommer der Partei bei.

Freilich räumt sie ein, dass es mit der Tory-Regierung in London kaum Chancen gibt, dass die tiefen sozialen Probleme des Landes angegangen werden. Eine Labour-Regierung in Westminster hingegen fände sie «ideal», sagt Corr-Johnston. Sie hatte viel übrig für das progressive Wahlprogramm unter dem linken Parteivorsitzenden Jeremy Corbyn, wenn sie auch den Mann selbst wenig sympathisch fand.

Corr-Johnston ist überzeugt, dass dieser aufgeschlossene Unionismus, der über konfessionelle und ethnonationale Identitäten hinausblickt und sich auf die materielle Verbesserung der Lebensumstände konzentriert, die einzige Möglichkeit ist, der loyalistischen Arbeiter:innenklasse weiterhin eine Stimme zu verschaffen. «Denn die Zeiten der unionistischen Vorherrschaft sind schon lange vorbei.» Damit bezieht sie sich sowohl auf die erwähnte demografische Entwicklung in Nordirland als auch auf die Parteipolitik: 2022 finden Wahlen statt – und die republikanische Sinn Féin liegt nach derzeitigen Umfragen deutlich vor der DUP, die seit zwei Jahrzehnten dominant ist. «Die Debatte über ein vereinigtes Irland ist im Mainstream angekommen», sagt Corr-Johnston. «Wir können uns vor dieser Diskussion nicht drücken. Wir befürworten die Wiedervereinigung mit Irland zwar nicht, aber wir müssen einen Platz am Tisch haben, wenn darüber gesprochen wird, wie unsere Zukunft aussehen soll.»

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