Die andere Aussengrenze: Schaut auf den Kanal!

Nr. 6 –

Die Schlauchbootkatastrophe Ende November 2021, als 27 Menschen starben, brachte die Migrationskrise an der Küste Nordfrankreichs mit einem Mal in den Fokus. Ein Besuch zeigt: Weitere dramatische Unfälle könnten jederzeit wieder passieren.

  • Ein Startpunkt für die Passage von Frankreich nach England: Strand an der Baie de la Slack.
  • Mit letzter Kraft haben sie sich ans Ufer gerettet, nachdem ihr Boot gekentert ist: Eine Gruppe irakischer Kurden am 14. Januar auf der Regionalstrasse zwischen Wimereux und Fort d’Ambleteuse, rund 25 Kilometer südwestlich von Calais.
  • Spät erst trifft Hilfe für die Gekenterten ein: Ein Rettungswagen bringt Wärmedecken. Es ist knapp über null Grad kalt.
  • Pumpen, Motorenöl, Decken: Hinterlassenschaften einer Flüchtlingsgruppe in den Dünen von Slack.
  • Überfahrt misslungen: Zwei in Seenot geratene Flüchtende nach ihrer Rettung zurück auf der französischen Seite des Kanals.

«Was machen Sie in Frankreich?», fragt der Polizist vor dem Autofenster misstrauisch. Einer seiner beiden Kollegen leuchtet mit der Taschenlampe die Rücksitze ab. Wie aus dem Nichts war die Streife kurz vorher aufgetaucht, das Blaulicht im scharfen Kontrast zu den Strassen von Leffrinckoucke. In einer Januarnacht um kurz nach eins gleicht das Dorf nahe der belgischen Grenze einem Standbild. Ein Auto mit zwei Journalisten, das um diese Zeit Richtung Strand fährt, alarmiert die Polizei. Vor allem, weil die Tieffront der letzten Wochen abgezogen ist. Ruhiges Wetter ist vorausgesagt, glatte See. Zeit für Boote.

Am nächsten Morgen berichtet die Regionalzeitung «La Voix du Nord», im eben zu Ende gegangenen Jahr seien 1002 schiffbrüchige Geflüchtete an diesem Teil der Kanalküste gerettet worden. Die meisten waren mit Schlauchbooten unterwegs nach England, aber auch Kajaks, Tretboote und Windsurfbretter wurden schon eingesetzt. An der engsten Stelle bei Calais misst der Kanal gut dreissig Kilometer. Doch nicht nur dort legen Boote ab. Von der belgischen Grenze bis hinunter nach Le Touquet – eine Küstenlinie von rund 150 Kilometern – stechen sie in See, und manchmal selbst von noch weiter südlich gelegenen Stränden.

Im «Jungle» ausserhalb des Städtchens Grande-Synthe bei Dunkerque, einem Camp windschiefer Zelte, die sich stillgelegten Gleisen und einem Wäldchen entlangziehen, dreht sich eigentlich alles um Boote. Rund 200 Menschen haben hier, unweit des Hafens von Dunkerque, ihr Lager aufgeschlagen. Es ist das grösste Camp der Umgebung. Von einer nahen Brücke sind die blauen Plastikplanen ihrer Unterkünfte und der Rauch der Feuerstellen zwischen kahlen Laubbäumen zu erkennen.

Dokumentenschmuggler wider Willen

Viele hier haben Geschichten wie ein junger Kurde, der schon zweimal vergeblich versuchte, nach England überzusetzen. Beide Male funktionierte der Motor des Boots nicht. Wann er es wieder probieren werde? «Morgen Nacht, vielleicht», meint er. Die 2000 Pfund für die Überfahrt würden erst bezahlt, wenn man drüben sei. Im Unterschied zu den meisten Passagier:innen hat er einen Vorteil: Er kann schwimmen.

Ein paar Meter weiter hocken zwei Männer auf dem Boden, über Plastikteller gebeugt. Einer, ein Afghane, ist vor den Taliban geflohen. Seit deren Machtübernahme trifft man in den Camps wieder viele Afghan:innen an. Der Mann entschuldigt sich, er müsse nun schnell aufessen und könne sich nicht unterhalten. «Leute warten auf uns, wir haben es eilig, auf ein Boot zu kommen.» Konzentriert löffeln die beiden weiter. Wenn alles gut geht, ist dies ihre letzte Mahlzeit auf dem Kontinent.

Anna Richel koordiniert in Dunkerque die Aktivitäten der humanitären Organisation Utopia 56. Diese betreibt ein Notfalltelefon und informiert in einem Merkblatt über die Risiken der Kanalpassage. «Die meisten gehen von drei Stunden auf dem Boot aus. Aber es sind eher acht oder zehn. Wir erklären den Leuten, was zu tun ist, wenn der Motor ausfällt oder sie im Wasser landen.» Richel sieht eine gefährliche Entwicklung: «Seit der Havarie im November sucht ein Frontex-Flugzeug die Küste ab. Es gibt Pläne, Kameras an den Stränden zu montieren. So wächst die Abhängigkeit von Schleppern, die das Risiko längerer Routen eingehen. Und natürlich warten die Menschen unter diesen Umständen länger in den Camps.»

Eine Konsequenz ist, dass sich im Jungle von Grande-Synthe erste Strukturen bilden. Weit hinten, wo der Schienenstrang auf einen Industriekanal zuläuft, findet sich der Tisch, auf dem Hawri al-Hamawandi seine Ware ausgelegt hat. Wie die meisten hier ist er ein irakischer Kurde. Seit zwei Monaten lebt er im Camp. Nach England will er allerdings nicht. Er schlägt sich mit dem Verkauf von Mützen, Keksen und Handyladegeräten durch, die er in der einen Kilometer entfernten Mall ersteht.

Was Hamawandi wiederum mit vielen hier verbindet, ist seine Vorgeschichte: Jahrelang lebte er in den Niederlanden, dann wurde sein Asylantrag endgültig abgelehnt. «So geht das: Ein negativer Bescheid anderswo, und dann landen sie hier.» Tatsächlich trifft man am Kanal in den letzten Jahren mehr und mehr Menschen, die fliessend Deutsch oder Niederländisch sprechen. Das Bild von Grossbritannien als gelobtem Land bekommt damit eine Ergänzung: Auf der anderen Seite des Wassers liegt nicht nur ein Wunschziel, sondern oft auch die letzte Chance.

Später am Nachmittag werden auf den Schienen überall neue Feuer entzündet. Eben entluden Freiwillige gespendete Paletten von einem Lastwagen. Auch vor Azads Zelt steigt der Rauch hoch. Der zwanzigjährige Kurde, der seinen wirklichen Namen für sich behalten will, war vor kurzem noch Viehhirte im Iran. Eines Tages nahm er auf seinem Weg ein Paket mit, das er an einem anderen Ort jemandem übergeben sollte. Bei einer Kontrolle stellte sich heraus, dass darin Dokumente einer sozialdemokratischen Organisation waren.

«Meine Familie beschloss, dass ich weggehen muss», sagt Azad, der noch nicht lange im Camp ist. In England will er neu beginnen, als Bauarbeiter, Bäcker oder was sich halt findet. Nur auf ein Boot wird er nicht gehen. «Das lassen meine Eltern nicht zu. Ich bin hier, weil ich ein normales Leben will, nicht, um mein Leben aufs Spiel zu setzen.» Azad will sein Glück so probieren, wie es hier Generationen Geflüchteter vor ihm taten: mit einem Lkw.

Weniger lebensgefährlich ist diese Art der Kanalüberquerung nicht. Ertrinken ist der neue Tod an dieser Grenze. Der alte: ein Sturz vom Truck in die Tiefe oder Angefahrenwerden beim nächtlichen Überqueren der Autobahn. Im Gewerbegebiet Transmarck östlich von Calais starben seit September 2021 drei Migranten beim Versuch, auf einen Lkw zu gelangen. Kurz vor Weihnachten erlag ein gesundheitlich vorbelasteter portugiesischer Trucker, der Migranten von seinem Fahrzeug vertreiben wollte und von ihnen angegriffen wurde, einem Herzstillstand. Auch die nächtlichen Autobahnblockaden nehmen in diesem Winter zu. Wer sich Calais im Dunkeln nähert, wird auf orange blinkenden Schildern vor Gegenständen und Personen auf der Fahrbahn gewarnt. 

Jeden zweiten Tag geräumt

Besucht man das weitläufige Areal des «Calais Truck Stop» bei Tageslicht, fällt zunächst auf, wie öffentlich sich das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Migranten und Fahrern abspielt. Erstere stehen in kleinen Grüppchen an Strassenecken oder kauern auf Grasflächen. Letztere parkieren ihre Gefährte hinter Hochsicherheitszäunen, deren messerscharfe Klingen in der Sonne blitzen, und kommen nach der Rast genau von dort wieder hervor.

An das hermetische Zufahrtstor allerdings grenzt rechtwinklig ein etwas anfälligerer Zaun, in dessen Gitter ein Loch klafft. Eine Person, die dort offenbar gerade hindurchgekrochen ist, versteckt sich hinter einem Betonpoller. Nur die Spitze ihrer Kapuze schaut dahinter hervor. Ein Zaun wird höher gezogen, ein anderer bekommt dafür ein Loch: ein Bild, das den jahrzehntelangen Rhythmus der Transitmigration am Ärmelkanal ausdrückt – und ihre ganze brutale Sinnlosigkeit.

Hinter dem Loch erstreckt sich eine Brache, auf der hier und da Bäume und Sträucher stehen. Mitten darin liegt eine riesige Wasserpfütze, in der die Regenreste des Winters fast zu einem See geworden sind. Am anderen Ende stehen einige Dutzend der gleichen windschiefen Zelte wie in Grande-Synthe. Über dem Zaun, der das Camp von einer Bahnstrecke trennt, hängen Schlafsäcke, Decken und Kleider zum Trocknen. Ein paar Hundert Menschen wohnen hier, die ausnahmslos aus dem Sudan stammen. Weil sie kein Geld für Schmuggler haben, führt ihr Weg nach England über den Truck Stop hinter der Brache.

Die Sonne steht hoch über dem Pfützensee, als eine Kolonne von fünfzehn weissen Mannschaftswagen der Antiaufruhrpolizei CRS vor dem Camp hält. Kurz zuvor sammelten sie sich am Polizeihauptquartier in Calais. Mit Blaulicht preschten sie durch die Stadt auf die Autobahn mit ihren nicht enden wollenden Sicherheitszäunen und am östlichen Rand wieder hinunter, wo um Stadion und Krankenhaus herum die meisten der provisorischen Camps liegen.

Mindestens dreissig Polizist:innen in Kampfmontur, teils mit Maschinenpistolen, rücken nun auf die Brache vor. Anwesende Journalist:innen werden barsch hinter einen Erdwall verbannt, der das Gelände von einem Wohnviertel trennt. Der martialische Aufmarsch dient einem bemerkenswerten Zweck: Die Campbewohner:innen packen ihre paar Sachen und bewegen sie samt der Zelte ein paar Meter weiter. Das Ganze geschieht routiniert, und genau das ist es auch. «Wir machen das jeden zweiten Tag», ist der einzige Kommentar, der einem der CRS-Beamt:innen zu entlocken ist. Nach einer Weile bewegt sich der Robocop-Tross wieder zur Strasse. Sobald sie weg sind, werden die Zelte zurück an ihren Platz gestellt.

«Diese Räumungen finden alle 48 Stunden statt», erklärt Francesca, eine Koordinatorin der Freiwilligenorganisation Human Rights Observers (HRO), die sich nur mit Vornamen vorstellt. Im letzten Jahr dokumentierte HRO 1219 solcher Aktionen in Calais, wobei jede einzelne Aktion in jedem Camp als eine Räumung zählt. In Grande-Synthe waren es 57. «Weil es zwei verschiedene Gemeinden betrifft, gibt es einige Unterschiede: In Calais wissen wir, dass alle zwei Tage geräumt wird. In Grande-Synthe weiss man nie, wann es geschieht, also ist die Drohung alltäglich. Ausserdem werden hier die Besitztümer der Geflüchteten zerstört, in Calais aber nicht.»

An diesem Nachmittag ist Francesca ins «Warehouse» gekommen. Die grosse Lagerhalle in einem Industriegebiet unweit der Camps ist das logistische Herz aller Unterstützer:innenorganisationen am Kanal. Am Morgen musste sie in aller Frühe zu einer Räumung in Grande-Synthe. «Wir haben mindestens 149 zerstörte Zelte gezählt.» Die Dokumentation dieser Zustände wird immer schwieriger. «Die Polizei neigt dazu, die Perimeter grösser und grösser zu ziehen. Heute eskortierten sie uns weg. Meistens sind sie dabei aggressiv.»

Hinter diesem Vorgehen steckt ein Ansatz, der «zero fixation» genannt wird. Seit der grosse Jungle 2016 planiert wurde, wollen die Behörden sicherstellen, dass es in der Region für Transitmigrant:innen keine feste Infrastruktur mehr gibt. «Zu diesem Zweck wurden Waldstücke gerodet und 35 Kilometer Stacheldrahtzäune errichtet. Geflüchtete sind dadurch isolierter und sichtbarer, mehr humanitären Problemen ausgesetzt, und der Kontakt mit NGOs wird erschwert», analysiert Francesca. «Natürlich wissen die Behörden, dass sie so nichts lösen können. Es geht rein um Schikane.» Was sie wundert, ist das fehlende Bewusstsein der Öffentlichkeit: «Wir reden wenig darüber, was an der westlichen Aussengrenze geschieht.»

Fünfzig Leute auf einem Boot für zwölf

Jemand, der sehr wohl darüber redet, ist Gérard Barron. Der pensionierte Anwalt ist Präsident der freiwilligen Seenotretter SNSM in Boulogne, 35 Kilometer südwestlich von Calais. «2020 fuhren wir 16 Mal wegen Migrant:innen in Seenot raus, im letzten Jahr 53 Mal. 2020 retteten wir 49 Migranten, 2021 waren es 596», erzählt er. Auch im neuen Jahr gab es schon einige «shouts», so Barron vor der Rettungsstation im Hafen. Die Spaziergänger:innen an der Promenade, kreischende Möwen und Fischerboote bilden eine idyllische Szene, doch das, was dieser Haudegen der Seenotrettung zu berichten hat, lässt einen erschaudern.

«Die meisten Passagiere können nicht schwimmen. Sie sind in schlechter körperlicher Verfassung, haben nicht genug gegessen und tragen keine geeignete Kleidung. Der Typ Schlauchboot, der hier eingesetzt wird, ist für zwölf Personen zugelassen, aber wir finden manchmal fünfzig darauf vor. Um damit gegen die Strömung anzukommen, die hier oft sechs Knoten hat, bräuchte es einen Motor von 50 PS. Manche haben aber nur 25. Die Boote selbst sind in China zusammengeklebt worden. Ich würde kein Kind damit auf einen See lassen. Sie werden nach Polen oder Litauen geliefert und in Bussen hierhergebracht.»

In den Dunes de la Slack unweit des alten Seebads Wimereux findet man die Überbleibsel solcher Passagen. Zurückgelassene Kleidung und Decken liegen im Sand, steif vom Nachtfrost, Wasserflaschen, ein leerer Kanister, ein Blasebalg, eine Fusspumpe. Ein Behälter mit Motorradöl, einer mit «Zweitakt-Motoröl. Spitzenqualität Made in Germany». Die Polizist:innen, die kurz vor der Dämmerung am Strand die Dünen durchkämmen, kümmern die Gegenstände nicht.

Sobald es dunkel ist, patrouillieren mehrere Streifen oben auf der Strasse: Gendarmerie, nationale Polizei, die Grenzpolizei in Zivilautos. Von den Parkplätzen aus schwenken Scheinwerfer und Lichtkegel schwerer Taschenlampen über die Strände, Blaulicht flackert. Eine Drohne blinkt rot und grün in der Luft. Die kleine Gruppe, die gegen Mitternacht neben der Strasse auftaucht, haben sie übersehen. Es handelt sich um eine Frau mit ihrer vielleicht zweijährigen Tochter auf dem Arm und vier Männer, alle aus dem Iran, alle aus dem Jungle von Grande-Synthe. Sie sprechen kaum Englisch, doch die nassen Kleider sind ein deutliches Zeichen. Einer von ihnen gibt zu verstehen, dass sie von einem zu vollen Boot fielen und sich ans Ufer retten konnten.

Es dauert lange, bis die Ambulanz vor Ort ist. Gerade als alle in Thermofolie gehüllt sind und in ein Krankenhaus gebracht werden sollen, taucht aus einer Senke der Strasse eine zweite Gruppe auf. Die sieben Männer aus dem Irak und Afghanistan sind deutlich durchnässter als die ersten. Manche zittern vor Kälte. Einer von ihnen ist ein kleiner älterer Mann mit einem grauen Schnurrbart und sehr müden Augen unter seiner Kapuze. Auch sie werden nun in Thermofolie gehüllt und warten auf eine weitere Ambulanz.

Einer von ihnen berichtet, sie seien auf demselben Boot gewesen wie die erste Gruppe. Gegen vier oder fünf Uhr am Nachmittag seien sie in Grande-Synthe aufgebrochen, mit dem Zug in die Nähe von Boulogne gefahren und gegen neun Uhr abends in See gestochen. 45 bis 50 Menschen seien an Bord gewesen. Das Boot habe ein Problem gehabt, welches, kann er nicht sagen, doch offenbar sind noch deutlich mehr Menschen im Wasser gelandet als bisher angenommen. Einer der Ambulanzfahrer blickt sehr ernst und ruft sofort die Rettungszentrale an.

Die ersten Toten des Jahres

Am Morgen lässt sich in den Nachrichten nirgendwo etwas zum Schicksal der Schiffbrüchigen finden. Die Sorge vor einer weiteren Havarie mit vielen Todesopfern wächst, die erst wenige Stunden alten Bilder der Nacht machen sie umso dringlicher. Erst mittags erfährt eine NGO, es habe einen Rettungseinsatz mit Schiffen und Helikoptern gegeben. Er blieb ohne Ergebnis. Dann aber, kurz vor Sonnenaufgang, habe die Grenzpolizei 32 weitere Passagier:innen des Boots in den Dünen gefunden.  

Drei Tage später haben sich kurz nach Einbruch der Dunkelheit etwa hundert Menschen vor dem Richelieu-Park im Zentrum von Calais versammelt. Im Hintergrund klingt die Geschäftigkeit einer Einkaufsstrasse kurz nach Ladenschluss. Hier aber wird in Stille der beiden ersten Toten an dieser Grenze im neuen Jahr gedacht. Einer ertrank vor Berck-sur-Mer, der andere wurde in Transmarck von einem Lkw überfahren. Auf dem Boden stehen flackernde Teelichter um ein Banner herum. Darauf stehen, soweit bekannt, die Namen all jener, die den Versuch, den Kanal zu überqueren, mit dem Leben bezahlten. Mit jeder Nacht können neue Namen hinzukommen.

Ärmelkanal : Zwanzig Jahre repressive Elendsverwaltung

Die Transitmigration über den Ärmelkanal beschäftigt die Gegend um Calais seit den späten neunziger Jahren. Damals versuchten vor allem Geflüchtete aus dem Kosovo, nach England zu gelangen. Später wurden die «Jungles» in Wäldern und Dünen zum Spiegelbild der globalen Krisen von Afghanistan über den Irak und Syrien bis zum Horn von Afrika. Neben Calais hat sich Dunkerque zu einem Schwerpunkt entwickelt.

Die Geflüchteten belasten seither das Verhältnis der Regierungen in Paris und London. Das jahrelang chronisch überfüllte Rotkreuz-Camp in Sangatte wurde 2002 auf Druck aus London geschlossen. Grossbritannien sah darin trotz erbärmlicher Zustände einen Magneteffekt. Mit dem «Le Touquet»-Abkommen von 2003 wurden britische Grenzkontrollen auf die kontinentale Seite des Kanals verlegt.

Insgesamt hat London über hundert Millionen Pfund in technische und personelle Grenzaufrüstung samt kilometerlangen Zäunen investiert. In Ermanglung eines sicheren Weges, in Grossbritannien einen Asylantrag zu stellen, ist die klandestine Kanalpassage nur noch lebensgefährlicher geworden – und jene, die sie wagen, umso abhängiger von Schlepper:innen. 

Die Räumungen der Jungles 2009 und vor allem 2016 brachten Calais weltweit in die Schlagzeilen, bedeuteten aber keineswegs das Ende der Transitmigration. Die Behörden haben sich auf die repressive Verwaltung des Elends verlegt, wobei brutales Vorgehen der Polizei immer wieder Kritik von Menschenrechtsgruppen auslöst.

Lange waren Lkws das Verkehrsmittel, um ungesehen per Fähre oder Eurotunnel nach England zu gelangen. Seit 2018 nahmen klandestine Bootspassagen zu, die heute die meisten Überquerungsversuche ausmachen. 2020 kamen so 8500 Migrant:innen nach Grossbritannien, an Bord ihrer Boote oder der britischen Küstenwache, 2021 mehr als 28 000, weswegen London inzwischen unverhohlen mit Pushbacks droht. Letztes Jahr wurden 44 Tote oder Vermisste gemeldet, darunter 3 Kinder. Mindestens 27 Menschen starben allein bei einer Havarie am 24. November.

Tobias Müller

Recherchierfonds

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