Literatur: Auch ein Lied kann Heimat sein

Nr. 6 –

Die Autorin und Schauspielerin Emine Sevgi Özdamar blickt in ihrem neuen Roman auf ihre Wanderjahre zurück. Das wirkt stellenweise wie eine Abrechnung, erzählt aber auch vom brüchigen Glück im Exil.

Stets bleibt ihr bewusst, wie prekär ihre Existenz ist: Die deutsch-türkische Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar. Foto: Heike Steinweg, Suhrkamp Verlag

«Ich bin die Putzfrau. Wenn ich hier nicht putze, was soll ich denn sonst tun? In meinem Land war ich Ophelia.» So beginnt ein Monolog, den Emine Sevgi Özdamar 1982 schrieb, als sie am Schauspielhaus Bochum als Schauspielerin, Dramaturgin und Hausautorin engagiert war. Eigentlich hatte sie nicht vor, Schriftstellerin zu werden. Aber mit den Theater- und Filmrollen, die man ihr in Deutschland angeboten hatte, war es nicht weit her: Mehrfach spielte sie tatsächlich eine türkische Putzfrau.

In ihrem neuen Roman, «Ein von Schatten begrenzter Raum», blickt die deutsch-türkische Autorin auf ihren künstlerischen Werdegang zurück. Mit neunzehn Jahren verliess sie einst zum ersten Mal ihre Heimat. Aus Neugier schloss sie sich 1965 den Auswander:innen nach Deutschland an und arbeitete in Berlin in einer Röhrenfabrik. Nach ihrer Rückkehr in die Türkei wurde sie Schauspielerin, bis 1971 ein Militärputsch der linken Kulturszene ein Ende bereitete. Ein Regisseur, mit dem Özdamar gearbeitet hatte, kam ins Gefängnis, er war Brechtianer. «Das Grosse bleibt gross nicht, und klein nicht das Kleine / Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag», heisst es bei Bertolt Brecht. Für die Theaterleute war das ein Trost, in den Augen der Machthaber aber schon subversiv.

Als Özdamar 1976 abermals nach Deutschland aufbrach, suchte sie in Ostberlin den Kontakt zu Theaterschaffenden, die Brechts Erbe pflegten. Der Schweizer Regisseur Benno Besson holte sie an die Volksbühne und drei Jahre später auch nach Frankreich, als er dort Brechts «Kaukasischen Kreidekreis» inszenierte. Besson schätzte ihre – wie er meinte: naive – Genialität. Vielleicht waren es zu Beginn die sprachlichen Hürden, die Özdamar zu ihrer speziellen Art der kreativen Mitarbeit brachten: Für die Regiekonzeption bastelte sie Puppen (zu besichtigen in einem Museum in Avignon), bei den Proben zeichnete sie intensiv. Als sie später in Bochum für eine «Woyzeck»-Inszenierung ihr ganzes Zimmer mit Collagen tapezierte, gefielen diese dem Intendanten Claus Peymann so gut, dass er das Zimmer im Theaterfoyer nachbauen liess.

Nicht ernst genommen

«Ein von Schatten begrenzter Raum» ist ein autobiografischer Künstler:innenroman, der fiktionale und surreale Elemente enthält. Krähen, Moskitos und Wände belästigen die Ich-Erzählerin mit bösen Prophezeiungen, die sie aber nicht davon abhalten, nach Europa aufzubrechen. Und zu Beginn lässt Özdamar eine verlassene orthodoxe Kirche zu Wort kommen: An der türkischen Küste gegenüber der Insel Lesbos gelegen, erzählt die Kirche vom brutalen «Bevölkerungsaustausch» zwischen Griech:innen und Türk:innen im Jahr 1923.

Als Autorin blickt die 75-Jährige auf drei Theaterstücke und sechs Romane zurück, Letztere sind in zwölf Sprachen übersetzt. Als ihr 1991 der Ingeborg-Bachmann-Preis für einen Ausschnitt aus ihrem ersten Roman verliehen wurde, war die Überraschung gross. Der Titel ist beinahe ein Gedicht: «Das Leben ist eine Karawanserei / hat zwei Türen / aus einer kam ich rein / aus der anderen ging ich raus». In ihrer fantasievollen und poetischen Sprache beschwor Özdamar darin die Welt ihrer Kindheit herauf. Es war damals das erste Mal, dass eine Person, deren Muttersprache nicht Deutsch war, in Klagenfurt ausgezeichnet wurde, und nicht alle Kritiker:innen nahmen die Preisträgerin wirklich ernst.

Schatten, die sich mit Leben füllen

Gegen die Zuschreibung als Exotin oder als schreibende Gastarbeiterin wehrte sich Özdamar lange Jahre mit Humor. Ihr neuer Roman ist ernster, stellenweise wirkt er wie eine Abrechnung – von einer «Gewaltidentität» ist an einer Stelle die Rede. Vor allem aber ist «Ein von Schatten begrenzter Raum» ein Exilroman. Denn so glücklich die Protagonistin in Europa unter Theaterleuten ist – stets bleibt ihr doch bewusst, wie prekär ihre Existenz ist. Sie reist mit einem abgelaufenen Tourist:innenvisum herum, von Engagement zu Engagement, von einer Mitwohngelegenheit zur nächsten. Eigentlich, so schreibt sie, könnten Emigrant:innen nicht sagen: Ich wohne in Paris. Sie müssten sagen: Ich wohne in Besson, weil sie bei diesem Menschen eine Heimat gefunden haben. Oder in einem Lied von Edith Piaf, im Lächeln eines Unbekannten, oder: Ich wohne in den Schatten, die sich mit Leben erfüllen.

Die Schatten der politischen Situation in der Türkei erreichen auch die Menschen im Exil. Sie hören von ihren Angehörigen am Telefon die neusten Schreckensmeldungen, trauern über die Opfer von Polizeigewalt und sprechen über den Genozid an den Armenier:innen in den Jahren 1915 und 1916, der in der Türkei ein Tabu ist. Das alles drückt auf die Stimmung, auch wenn in Westeuropa «die Hölle eine Pause machte» – eine wiederkehrende Wendung, mit der Özdamar die Aufbruchsstimmung in den siebziger und achtziger Jahren beschreibt.

Offener als in ihren anderen Büchern thematisiert Emine Sevgi Özdamar hier auch ihre Verletzungen und ihre Ängste. Als ihre Romanheldin nach Jahren im Exil wieder in die Türkei einreisen will, verlässt sie der Mut. Stattdessen fährt sie nach Lesbos und blickt hinüber, auf ihre frühere Heimat.

Emine Sevgi Özdamar: Ein von Schatten begrenzter Raum. Roman. Suhrkamp Verlag. Berlin 2021. 763 Seiten. 40 Franken