Klimagerechtigkeit: Die systemische Katastrophe

Nr. 9 –

Der Weltklimarat legt jetzt wissenschaftlich dar, was Klimaaktivist:innen schon lange sagen: Die Folgen der Erhitzung treffen jene am härtesten, die am wenigsten dazu beitragen. Und er zeigt auf, wo im Wechselspiel zwischen menschlichem Handeln, Wetterextremen und Artensterben der Hebel anzusetzen ist.

Uno-Generalsekretär António Guterres wählte am Montag anlässlich der Veröffentlichung des neuen Teilberichts des Weltklimarats (IPCC) drastische Worte: «Verzögerung ist Tod.» Denn in fast unerträglicher Deutlichkeit zeigt die Tausende Seiten lange Publikation auf, dass sich die Klimakrise noch schneller verschärft als in früheren Berichten angenommen.

Je genauer und umfangreicher das Klima und die Konsequenzen von dessen Erhitzung also erforscht werden, desto dramatischer sind die Erkenntnisse. Bereits seien unumkehrbare Auswirkungen eingetreten: Manche «natürliche und menschliche Systeme» – also Gesellschaften und Naturräume an Land, im Wasser, an Küsten – wurden schon über die Grenzen ihrer Anpassungsfähigkeit hinaus strapaziert. Anderes ist unaufhaltsam auf dem Weg an diesen Punkt, etwa aufgrund schmelzender Gletscher oder auftauenden Permafrosts.

Statt nackten Zahlen und Prognosen widmet sich der neue Teilbericht vor allem systemischen Zusammenhängen: Detailreich beleuchtet er die komplexen Wechselwirkungen zwischen menschlichem Handeln, der Klimaerhitzung, lokalen Ökosystemen und der weltweiten Biodiversität. In seinen bisher dringlichsten Worten verweist der IPCC darauf, wie eng die Klimakrise verknüpft ist mit dem Artensterben – wie auch mit der globalen Ungleichheit. Annähernd die Hälfte der Weltbevölkerung ist den Folgen der Klimaerhitzung praktisch ohne Schutz ausgeliefert. Ein grosser Teil der Tierarten ebenso. Der Überlebenskampf betroffener Gemeinschaften, die Klima- und die Biodiversitätskrise: Sie alle befeuern sich gegenseitig.

Was der Bericht ebenfalls explizit aufzeigt: In überdurchschnittlichem Ausmass werden jene Menschen von den Folgen der Klimaerhitzung getroffen, die am wenigsten Schuld daran tragen – angetrieben unter anderem von «Mustern intersektionaler sozio-ökonomischer Entwicklungen», «Marginalisierung» und «historischen und anhaltenden Mustern von Ungerechtigkeit wie Kolonialisierung». Was Klimaaktivist:innen weltweit schon lange und mit wachsender Verzweiflung bekunden, unterstreicht nun also auch der neuste Klimabericht – verfasst von über 1000 Natur- und Sozialwissenschaftler:innen, basierend auf 34 000 Studien, einstimmig anerkannt von 195 Staaten.

Wo sich viel bewegen lässt

Wo also den Hebel ansetzen, um den Klimawandel wirksam zu bekämpfen? Dort, wo die Hebelwirkung möglichst gross ist – etwa in den Städten. Sie sind global für rund siebzig Prozent der Treibhausgasemissionen verantwortlich und damit Treiber der Klimaerhitzung. Bis ins Jahr 2050 sollen fast siebzig Prozent der Menschen in urbanen Gebieten leben, also nochmals bis zu 2,5 Milliarden mehr als heute. Gleichzeitig ist die urbane Bevölkerung disproportional stark vom Klimawandel betroffen, etwa durch Hitzestress und schlechte Luftqualität. Auch das Wasser wird in den Städten zunehmend knapp – oder immer wieder zu viel, weil in Küstenstädten das steigende Meer und anderswo Starkregen und Stürme die Strassen fluten. Stromausfälle, Transportunterbrüche, verseuchtes Trinkwasser und überforderte Gesundheitseinrichtungen sind die Konsequenz.

Und einmal mehr sind es die Menschen im Globalen Süden, die überproportional leiden. In Afrika etwa leben südlich der Sahara drei Viertel der urbanen Bevölkerung in informellen Siedlungen ohne Infrastruktur, die oft in Gefahrenzonen gebaut sind. Gerade dort sind wirksame und vergleichsweise kostengünstige Gegenmassnahmen möglich, die sogar noch weit über die Städte hinaus positive Veränderungen versprechen. Dazu zählen vor allem naturbasierte Anpassungen wie Pärke mit Wasserflächen, Baumalleen, begrünte Dächer und Fassaden, die nicht nur Kühlung, sondern auch Erholungsräume bieten. Schützt und pflegt man Ökosysteme wie etwa Mangrovenwälder im Umfeld von Küstenstädten, mindern diese Überschwemmungsgefahren und fördern die Biodiversität.

Bloss fliessen Investitionen bislang kaum in informelle Siedlungen, wie der IPCC-Bericht kritisiert. Stattdessen dominieren bislang markt- und profitgetriebene Finanzierungsmodelle, die ökologische und soziale Aspekte ausblenden und so zu Fehlanpassungen führen. Dies verstärke Armut und Ungleichheit weiter. Mit seinem neuen Fokus auf «Klimagerechtigkeit» zeigt der Bericht auch mit praktischen Beispielen auf, wie eine Zusammenarbeit mit bislang marginalisierten Gruppen – etwa indigenen Gemeinschaften, Frauen und Jugendlichen – zu nachhaltigen Verbesserungen und zu einer Ermächtigung der Betroffenen führt. In der westafrikanischen Küstenstadt Freetown in Sierra Leone etwa sammelten die Bewohner:innen einer informellen Siedlung zusammen mit NGOs und einem Forschungsinstitut Daten zu den klimatischen Gefahrenzonen und dokumentierten diese auf einer digitalisierten Karte. Darauf basierend legten sie Bauverbotszonen fest und bauten Entwässerungskanäle.

Ökosysteme schützen und aufbauen

Noch immer fehlt es auf politischer Ebene aber an Willen und vor allem an Geld. An der letzten Klimakonferenz im November 2021 einigte man sich auf gerade mal vierzig Milliarden US-Dollar an jährlichen Klimahilfen für speziell Betroffene. Ein fast zehnmal höheres Budget wäre nötig. So spitzt sich die Lage weiter zu, auf Kosten der ärmeren Hälfte der Weltbevölkerung. Ginge es nach dem IPCC, sollten alle Individuen und Staaten wie auch die verschiedenen Generationen die Folgen der Klimaerhitzung gemeinsam tragen und stoppen. Nur: Wie genau soll das funktionieren?

Wenig überraschend gehört zu den wirksamsten und machbarsten Massnahmen die Abkehr von fossilen Brennstoffen hin zu erneuerbaren Energieträgern. Daneben stehen, wie am Beispiel der Städte deutlich wird, auch «naturbezogene Lösungen» im Fokus: Zu den wichtigsten Antworten auf die Klimaerhitzung gehören demnach Investitionen in die Natur. Das lässt sich am Beispiel einer nachhaltigen Pflege der Wälder aufzeigen. Mit Schutzzonen, Aufforstungen und der Förderung der Biodiversität können sie widerstandsfähiger gemacht werden gegen Dürreperioden, Extremwetter oder grossflächige Buschfeuer. Gleichzeitig lässt sich so eine zentrale Ressource für den Menschen erhalten: Etwa 800 Millionen Menschen leben in oder in unmittelbarer Nähe von tropischen Regenwäldern und brauchen diese als Lebensraum und Nahrungsquelle. Zusätzlich übernimmt der Wald eine immense Schutzfunktion, indem er Küstenerosion, Erdrutsche oder Lawinen verhindert.

Der Schutz und der Wiederaufbau grosser Ökosysteme stehen im Zentrum des neuen IPCC-Berichts. Einerseits deshalb, weil die Wirksamkeit und auch die Umsetzbarkeit entsprechender Massnahmen wissenschaftlich bewiesen sind. Viel weniger erfolgversprechend ist es, auf meist noch nicht ausgereifte Technologien zu vertrauen, die bereits ausgestossene Treibhausgase aus der Atmosphäre entfernen sollen. Andererseits aber auch deshalb, weil viele Ökosysteme bald eine kritische Grenze erreichen. Das bedeutet im schlimmsten Fall, dass sie die Klimaerhitzung sogar zusätzlich vorantreiben: Jüngste Studien zeigen, dass Dürren, Buschfeuer und die intensive Abholzung grosser Wälder dazu führen, dass sie insgesamt mehr CO2 abgeben, als sie aufnehmen können.

Das Fenster für wirksame Anpassungen, um die Klimakatastrophe zu bremsen, schliesst sich jäh. Nicht viel mehr als zehn Jahre Zeit geben uns die Wissenschaftler:innen noch.