Justiz: Der Rassismus der anderen

Nr. 27 –

Der Fall des bekanntesten Jugendstraftäters der Schweiz muss neu aufgerollt werden. Was aber würde ein unabhängiges Gremium entscheiden, wenn es nicht Brians Taten beurteilen müsste – sondern die Behörden und ihre Vertreter:innen? Anklagepunkt: Institutioneller Rassismus.

Illustration: Ein Junge ist auf einer Spielplatz-Schaukel gefesselt von den Schaukel-Ketten

Die Zirkusschule Nido del Lupo im Bündner Bergdorf Alvaneu ist einer der Orte, an denen diese Geschichte eine andere Wendung hätte nehmen können. Heute leben in der sozialpädagogischen Institution Jugendliche mit psychischen Problemen, früher nahm Sozialarbeiter Fabio Botta auch «Systemsprenger» auf – «Problemjugendliche». Botta, ein Mann mit hervortretenden, leicht traurigen Augen, versucht in seinem Büro zu rekapitulieren, wie das damals vor dreizehn Jahren war: «Brian wollte, aber er konnte nicht. Das ist selten. Wenn wir abbrechen, dann meist, weil die Jugendlichen auf die Kurve gehen. Er hat es probiert, er war da.»

Die Geschichte, die ihn bis heute beschäftigt, beginnt für Botta am 21. September 2009. An jenem Tag holt er den damals Vierzehnjährigen im Gefängnis Horgen ab. Ein «Kasten» sei Brian gewesen, aber mit einer zurückhaltenden, schüchternen Seite. Gegenüber anderen Jugendlichen habe er sich aufgespielt, «er musste sich ständig produzieren, immer etwas mischeln, konnte sich in der Gruppe nicht integrieren, war dominant». Er habe aber auch einen zugänglichen, freundlichen jungen Mann kennengelernt, der sich anfangs auch in der Schule sehr engagierte. Aber sein Muster sei schwierig gewesen, «er hatte starke Aggressionen und immer wieder Rückfälle in dieses Verhalten».

Brian, der von der Zürcher Jugendanwaltschaft schon damals als Intensivtäter gehandelt wird, muss als einziger Jugendlicher am Wochenende in der Zirkusschule bleiben. Mit der Zeit, so Botta, habe seine Motivation nachgelassen, er habe wieder zu kiffen begonnen und einen immer stärkeren Drang nach Zürich gehabt, sei aber stets wieder zurückgekehrt.

Die «Blick»-Kampagne und ihre Folgen

Anfang Januar 2010 steigt Brian mit einem Kollegen aus der Institution in einen Bus nach Chur. Es gibt eine verbale Auseinandersetzung mit einem anderen Jugendlichen. Dann: ein Faustschlag. Botta erinnert sich nicht mehr, wer von den beiden im Bus zugeschlagen hat, vielleicht sei die Sache auch nie richtig geklärt worden, «weil die Eltern des Opfers keine Anzeige machten». Für Brian bedeutet der Vorfall eine Zäsur, er muss die Zirkusschule verlassen. Die Zeit davor schildert Botta als diffus eskalierend: «Brian hat hier keine Verwüstungen hinterlassen. Aber er hat Jugendliche und Betreuer:innen bedroht; mit der Zeit herrschte eine angstvolle Stimmung im Haus. Er war einfach nicht mehr tragbar.»

Die Vorkommnisse in der Zirkusschule sind eine Wiederholung des immer gleichen Drehbuchs. Es lässt sich aus den Akten ablesen. Immer wieder attestieren Lehrerinnen und Betreuer dem hyperaktiven und intelligenten Kind auch positive Eigenschaften: Freundlichkeit, Humor, Aufgewecktheit. Daneben, wie ohne Verbindung zu diesem Kind, steht die zweite Schilderung: die des Unkontrollierbaren, Untragbaren.

Illustration: Jugendlicher welcher in einer Gefängniszelle am Boden liegt

Das Kind Brian hat unvermittelte Gewaltausbrüche, die meist sehr rasch zum Ausschluss aus Schulen oder offenen Institutionen führen. Die Zirkusschule ist eine der letzten Stationen vor Brians gravierender Tat. Anderthalb Jahre später wird der Fünfzehnjährige einem jungen Mann ein Messer in den Rücken rammen. Das Drama nimmt seinen Lauf: Brian wird nach einer «Blick»-Kampagne zu «Carlos», dem bekanntesten Jugendstraftäter der Schweiz. Man müsste die Geschichte von «Carlos», der dieses Pseudonym inzwischen abgelegt hat, nicht ein weiteres Mal erzählen – wäre nicht eine zentrale Frage bislang ausgelassen worden: Welche Rolle spielt in diesem Fall Rassismus?

Nach fast dreieinhalb Jahren Isolationshaft im Hochsicherheitstrakt der Justizvollzugsanstalt Pöschwies sitzt der 26-Jährige seit Anfang 2022 im Untersuchungsgefängnis Zürich im normalen Vollzug. Jahrelang durfte er nur mit Handschellen und hinter Trennscheiben mit der Familie oder Journalist:innen sprechen; an diesem Maimorgen schüttelt er seinem Besuch die Hand. Brian sitzt längst nicht mehr wegen in Freiheit begangener Straftaten im Gefängnis, sondern wegen des erbitterten Kampfs, den er sich in Hochsicherheitshaft mit seinen Aufseher:innen lieferte.

Die Lockerung hat das Bundesgericht angeordnet. In einem zweiten Verdikt hob es das letztjährige Urteil des Zürcher Obergerichts auf, das Brian wegen eines ihm vorgeworfenen Angriffs auf einen Aufseher zu sechs Jahren und vier Monaten Haft verurteilt hatte. Nun muss das Obergericht den Fall neu verhandeln (vgl. «Der Prozess»). Das Bundesgericht ist bei der Urteilsaufhebung der Argumentation von Brians Anwälten gefolgt: Das Obergericht dürfe nicht isoliert über seine Taten in der Pöschwies urteilen, sondern müsse auch seine Vergangenheit berücksichtigen und beurteilen, ob er die Taten aus einer «Notstandssituation» heraus begangen habe.

Kaum ein Mensch hierzulande erinnert sich nicht an den muskulösen Schwarzen Körper auf dem «Blick-Cover». Brian war im August 2013 unter dem Pseudonym Carlos in einem SRF-Report über den scheidenden Jugendanwalt Hansueli Gürber aufgetreten, der für ihn nach seiner Messerattacke ein Sondersetting eingerichtet hatte. Der Film fiel mitten in eine hysterische Debatte über Jugendgewalt, «Ausländerkriminalität» und «Kuscheljustiz» – die fortan auf Brians Rücken ausgetragen wurde.

Brian hält im Gespräch Augenkontakt, er ist präsent. Da sitzt kein junger Mann, der in Isolationshaft komplett irre geworden wäre. Zwischen der Härte blitzt nach wie vor die Schüchternheit auf, die in den Berichten über seine Kindheit geschildert wird. Bisweilen auch Humor. «Stellen Sie sich vor, man hätte mich im Film Ueli getauft», sagt er irgendwann. «‹Ueli schlägt wieder zu› – das hätte einfach nicht funktioniert.»

Die Sicht der Schwester

Brians Mutter stammt aus Kamerun, mit ihren zwei älteren Kindern migriert sie in den frühen neunziger Jahren nach Paris, wo sie ein paar Jahre später Brians Vater kennenlernt, einen Zürcher Architekten. Brian wird in Paris geboren, drei Jahre lang pendelt der Vater hin und her, 1998 holt er die Familie zu sich nach Zürich, man zieht ins Seequartier Wollishofen, weisse Mittelschicht. Die Probleme beginnen früh. Brian ist ein forderndes, oft überbordendes Kind. Seine erste Kindergärtnerin weiss darauf keine andere Antwort, als die anderen Kinder über seinen Verbleib in der Klasse abstimmen zu lassen. Brian wird rausgewählt.

Während die Schweizer Öffentlichkeit ihren Blick auf den Schwarzen Jugendstraftäter nie reflektiert hat, ist dem Kind seine Hautfarbe immer bewusst. Heute spricht Brian über seine Kindheit mit einer Mischung aus Wut und der Unsicherheit eines jungen Mannes, der nie Vertrauen ins eigene Reden gefasst hat. Er verschluckt die Wörter, hält einmal inne und sagt, vielleicht sei er auch nicht der Richtige für eine solche Reflexion, «ich bin ja kein Unschuldslamm». Dann wieder Kampfmanier: «Du fühlst dich unwillkommen, das macht dich wütend, du bekommst Aggressionen. Die Wut lässt dich kämpfen, und dann kämpfst du bis am Ende.»

In einer Sommernacht im Juni 2006 brennt in Wollishofen ein Holzschuppen. Brian übernachtet an diesem Abend bei Freunden, zwei tamilischen Brüdern. Morgens um sechs taucht die Polizei auf, verhaftet Brian, er verbringt 24 Stunden im Erwachsenengefängnis auf dem Zürcher Kasernenareal. Der Zehnjährige hat schon drei Schulausschlüsse hinter sich und erste kleine Delikte begangen, nun wird ein Strafverfahren wegen Brandstiftung eröffnet. Er kommt für 48 Tage in ein geschlossenes Jugendheim in Untersuchungshaft. Brian hat den Brand nicht gelegt, die Jugendanwaltschaft wird ihm später eine kleine Entschädigung zusprechen. Brian erinnert sich gut an die Einvernahme: «Sie wollten unbedingt, dass ich die Sache zugebe, haben mich unter Druck gesetzt. Einer sagte: ‹Du solltest dahin zurückgehen, wo du herkommst.› Ich habe geweint und geschrien. Damals war ich noch nicht abgehärtet und stark.»

Brians ältere Halbschwester spricht bei einem Treffen am Bahnhof Oerlikon zum ersten Mal mit der Presse. Sie ist 39 Jahre alt, in der Pflege tätig, Mutter dreier Kinder. Marianne, die eigentlich anders heisst, sagt: «Die Schweiz ist ein rassistisches Land, wir haben das von Anfang an zu spüren bekommen.»

Das Ankommen der Familie ist schwierig. Die Mutter, die in Paris in einem grossen Familienverbund lebte und als Coiffeuse arbeitete, findet keinen Anschluss. Der Vater gerät mit seinem Architekturbüro in Schieflage. Die beiden älteren Kinder pubertieren. Marianne sagt: «Mit meinen Eltern habe ich oft gestritten. Es wurde oft laut. Das hat sich Brian vielleicht abgeschaut. Es gibt viele Ursachen dafür, wie alles gekommen ist. Aber der Rassismus ist am meisten schuld.»

Marianne erinnert sich, «als wäre es gestern gewesen», an die Freude über die Geburt des kleinen Bruders. In der Schweiz bringt sie ihn oft in die Krippe, sie selbst geht in dieser Zeit in die Integrationsklasse. «Damals hatte ich das Gefühl, wir kommen langsam an. Aber dann begann ich zu spüren, dass etwas falsch läuft.» Im Kindergarten sei Brian immer zum Schuldigen gemacht worden. «Es gab Streit, jemand zog ihn an den Haaren, er wehrte sich, dann war er der Schlimmste.» Nicht Brians Wutausbrüche seien zuerst gewesen, sondern die vielen kleinen Ungerechtigkeiten, die ihm widerfahren seien. Was es bedeutet, in der Schweiz Schwarz zu sein, weiss Marianne selbst. Als junges Mädchen habe sie im Sommer gern knappe Kleidung getragen. «Einer hat mir fünfzig Franken hingestreckt. Als ich mich schockiert abwandte, sagte er: ‹Komm schon, ihr schafft doch alle an der Langstrasse an.› Ein anderer raunte mir zu: ‹Lutsch mir einen.›»

In ihrem Beruf als Pflegefachfrau wird Marianne immer wieder für die Hilfskraft gehalten. Die Diktate ihrer Tochter korrigiert sie daheim nach, weil die Lehrerin deren Arbeit oft zu schlecht bewerte. Marianne sagt, auch sie kenne die Wut. Doch habe sie sich darauf verlegt, sich ein Stück vom schönen Leben zu erkämpfen. Was, wenn ein Schwarzes Kind seine Wut nicht zurücknimmt? «Das ist nicht erlaubt», sagt Marianne. Und wenn ein Schwarzes Kind zudem verhaltensauffällig ist, hyperaktiv, wild? «Man hat ihn nie wie ein kleines Kind behandelt, das Hilfe braucht, sondern immer schon als Täter.»

Brian, das Kind, das nacheinander aus den Schulen in Wollishofen, Thalwil und dem Schulinternat Heimgarten Bülach geschmissen wurde, kommt früh mit älteren Kindern in Kontakt, ist mit einer Gruppe unterwegs, die rebelliert: Schmierereien, Sachbeschädigungen, Pöbeleien. Immer wieder taucht die Polizei zu Hause auf, legt das Kind in Handschellen, nimmt es für ein paar Stunden auf den Posten. Brian sagt beim Gefängnisbesuch: Er habe zwar schon Dinge verbrochen, sei aber auch immer wieder falsch beschuldigt worden – aus der Gruppe heraus, von Quartierbewohner:innen. «Auf dem Posten hiess es dann: ‹Man hat dich zur Tatzeit am Tatort gesehen›, obwohl ich überhaupt nicht dort war.»

Mit der Falschbeschuldigung wegen Brandstiftung beginnt die Odyssee durch geschlossene Heime, Gefängnisse und Psychiatrien, für die sich die Behörden bis heute nie rechtfertigen mussten. Zwischen seinem 12. und 14. Geburtstag verbringt Brian 222 Tage in Einzelhaft, jeweils 23 Stunden in der Zelle, alles «vorsorgliche» Massnahmen, Begründung: Das Kind sei im Gruppensetting zu aggressiv.

Nach seiner Messertat im Juni 2011 und einem Suizidversuch wird Brian als Fünfzehnjähriger auf der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsspitals Zürich dreizehn Tage lang zwangsfixiert. Die verantwortlichen Ärzte, die das Zürcher Obergericht nach einer Klage wegen Freiheitsberaubung freigesprochen hat, reagieren nicht auf eine Anfrage. Auch die Jugendanwaltschaft gibt keine Auskunft darüber, wieso sie den zehnjährigen Jungen der Brandstiftung verdächtigt und in Untersuchungshaft gesteckt hatte. Die Aufbewahrungsfrist für diese Akten sei bei der Jugendanwaltschaft abgelaufen.* Der Jugendanwalt, der Brians erste Gefängnisaufenthalte angeordnet hat, beruft sich auf das Amtsgeheimnis.

Besuch beim damaligen Jugendanwalt

Von der Jugendanwaltschaft spricht nur Hansueli Gürber – der Mann mit Topffrisur und Ziegenbart, der 2013 schweizweit berühmt wurde, weil er im besagten SRF-Report seine Erfolge präsentieren wollte. In seinem Adliswiler Garten gackern Hühner, überquellende Aschenbecher, Asche auf dem Plastiktischtuch. Gürber geniesst das Pensioniertendasein. Die Frage nach Rassismus in der Jugendanwaltschaft hat ihm noch niemand gestellt. Gürber erzählt routiniert von den Tagen, über die die Journalist:innen meistens reden wollen. Er habe damals komplett unterschätzt, was der SRF-Report auslösen würde: «Ich hatte davor ein sehr gutes Verhältnis zu Journalist:innen, das war schmeichelhaft, davon liess ich mich einnehmen.»

Gürber erzählt vom Tag, als der «Blick» mit «Carlos» auf der Front erschien: «Sozialwahn! – Zürcher Jugend-Anwalt zahlt Messerstecher (17) Privatlehrer, 4½-Zimmer-Wohnung und Thaibox-Kurse. Kosten: 22 000 Fr. pro Monat». Vom Telefon, das danach ununterbrochen klingelte. Von der einsickernden Erkenntnis: «Das hast du verbockt, das war ein Riesenfehler.» Doch glaubte der Jurist zu Beginn noch, der Sturm würde vorüberziehen – das Setting, das er für Brian eingerichtet hatte, mit Boxtraining, enger Betreuung durch Sozialarbeiter, eigener Wohnung, ist nach der repressiven Abwärtsspirale die erste erfolgreiche Massnahme. Brian kooperiert, ist seit eineinhalb Jahren deliktfrei, hat aufgehört, Drogen zu konsumieren. Gürber glaubt daher, seine Vorgesetzten würden das Setting verteidigen. Bis zu dem Moment, als Oberjugendanwalt Marcel Riesen-Kupper der versammelten Presse erzählt, er sei «nicht im Detail» über das Sondersetting informiert gewesen – und Brian ins Gefängnis zurückverlegt.** Den Besuch bei seinem Schützling kurz drauf schildert Gürber als «ziemlich absurd». Er selbst, der Jugendanwalt, sei zerstört gewesen, «da hat mich Brian auch noch getröstet: ‹Ist nicht so schlimm, Herr Gürber.›»

Gürber war bei der Jugendanwaltschaft nicht von Anfang an für Brian zuständig, sein Fall landete etwa drei Jahre nach dem falschen Verdacht der Brandstiftung auf seinem Pult, «weil es vorher nicht gut gelaufen war». Den Akten zufolge bemühte sich die Jugendanwaltschaft unter Gürbers Fallführung verstärkt, eine andere Lösung zu finden als Einzelhaft: offene Institutionen, Pflegefamilie, die Zirkusschule. Gürber sagt: «Das Verrückte ist, dass er nicht der schwierigste Jugendliche war, den ich je hatte. Er war impulsiv, ja. Ich erinnere mich, dass wir einmal ein Gespräch mit ihm hatten und er plötzlich aufstand, einen Blumentopf nahm und diesen aus dem Fenster schmiss. Aber ich hatte immer das Gefühl, es funktioniert mit ihm, wenn man sich von solchen Dingen nicht beeindrucken lässt. Ich persönlich hatte es gut mit ihm.»

Herr Gürber, liess sich die Jugendanwaltschaft im Umgang mit Brian von rassistischen Stereotypen leiten? Er selbst sei sicher kein Rassist, sagt der Jurist. «Im Gegenteil, ich mag die Schwarzen.» Seinen Exkolleg:innen will er nichts unterstellen. Da sei vor allem viel Ratlosigkeit gewesen, Überforderung. Rassismus spiele in der Geschichte sicher eine Rolle, aber wohl eher vor dem Eingreifen der Jugendanwaltschaft. «Damals in Wollishofen kannte man ihn, das hatte sicher auch damit zu tun, dass er fast das einzige dunkelhäutige Kind war. Nach dem SRF-Film riefen mich Quartierbewohner an und sagten: ‹Den kenne ich.›»

Höchste Eskalationsstufe

Zum grössten Verrat seines Lebens, als ihn die Justiz aufgrund der Boulevardkampagne fallen liess, sagt Brian im Gefängnis: «Ich war das schwächste Glied in der Kette, also machten sich mich zum Opferlamm. Aber ich bin kein Opferlamm, ich bin ein Löwe, dafür kämpfe ich.» Und: «Ich habe damals gelernt, dass Gutsein nichts bringt.»

Immer wieder ist es das Bundesgericht, das die Zürcher Behörden zurückpfeift. Ein halbes Jahr nach Abbruch des Sondersettings müssen sie Brian aus dem Gefängnis entlassen. Nach fünf deliktfreien Jahren und einer weiteren Fehlbeschuldigung (Brian sitzt weitere fünf Monate in Isolationshaft) streckt er nach einem Konflikt einen Bekannten nieder, Kieferbruch – Brians zweite schwerere Tat in Freiheit. Im Erwachsenengefängnis: höchste Eskalationsstufe. Brian landet im Hochsicherheitstrakt. Bilder von ihm in Handschellen und Fussfesseln gehen durch die Medien. Der «Blick» schreibt: «Auch hinter Gittern ist niemand vor ihm sicher.»

Thomas Manhart ist seit drei Jahren pensioniert. Der ehemalige Leiter des Zürcher Amts für Justizvollzug fährt Auto, während er mit der WOZ spricht. Er sagt: «Rückblickend würde ich schon sagen, dass die harten Kampagnen einen Einfluss auf das Gefängnisregime hatten. Es spielte sich ja alles unter dem Eindruck der öffentlichen Empörung ab. Der Tenor war immer gewesen: ‹Was seid ihr für Weicheier.›» Brian sei aber auch ein singulärer Fall gewesen. «Ich habe kaum je einen Menschen mit so viel Widerstandskraft gesehen. Die meisten fügen sich irgendwann. Brian sagte: ‹Ich erkläre euch den Krieg.› Der Standard ist: Zuerst das Wohlverhalten, dann eine Lockerung – das hat bei ihm komplett versagt. Er wurde von Gefängnis zu Gefängnis geschoben, die Massnahmen wurden immer härter.»

Im Gefängnis in Pfäffikon ZH muss Brian Anfang 2017 fast drei Wochen auf dem nackten Boden der unterkühlten Zelle schlafen, nur mit einem Poncho bekleidet, ohne Unterwäsche. Er darf nicht duschen, sich tagelang nicht die Zähne putzen, trägt drei Wochen lang ununterbrochen Fussfesseln, der Hofgang wird ihm verweigert. Manhart sagt, dies sei ihm nicht rapportiert worden. Er wolle sich aber nicht freisprechen. «Das hätte nicht unter meinem Radar laufen dürfen.»

Das Bezirksgericht hat die Haftbedingungen in Pfäffikon mittlerweile als menschenunwürdig gewertet. Manhart veranlasst die Geschichte zum Nachdenken über das Verhältnis von System und Beamten. Wenn das System versage, müsse man dies an der Front ausbaden. Er habe grosses Verständnis für die Aufseher. «Auch sie hatten das monströse Bild, das von ‹Carlos› gezeichnet wurde, im Kopf; sie hatten Angst vor ihm.» In Pfäffikon hätten sie zudem Brians Gegenwehr, die durch die vorangegangenen Repressionen zusätzlich gesteigert war, abbekommen.

Noch unter Manharts Führung wurde im Hochsicherheitsgefängnis Pöschwies die Sicherheitszelle geplant, in der Brian für fast dreieinhalb Jahre verschwinden sollte. Ihm sei die Zelle damals als gute Lösung erschienen, sagt Manhart. Wie ein Fortschritt, weil man für den Moment mehr Funktionalität geschaffen habe. Nach der Pensionierung aus der Distanz zu verfolgen, wie sich die Isolationshaft auf Jahre ausdehne, sei «schmerzhaft» gewesen: «Wir hätten früher aus der Repressionsspirale aussteigen sollen, Brian einen Vertrauensvorschuss geben und ihn aus der Sicherheitszelle entlassen müssen.»

Auf Brians «Gerechtigkeitswaage» liegen auf der einen Schale: Messerstiche, ein Faustschlag und die Aggressionen gegen Wärter:innen. Auf der anderen: Einzelhaft, die gemäss internationalen Abkommen in dieser Dauer nicht einmal bei Schwerstkriminellen erlaubt ist. Manhart erkennt im Strafvollzug «keine strukturelle Ungleichbehandlung zu Brians Ungunsten». Er sagt: «Er war auch ausserordentlich schwierig.» Klar, auch er glaube, dass die Hautfarbe in dieser Geschichte eine Rolle spiele, «aber im Justizvollzug darf das nicht passieren». Wobei er natürlich nicht für die Einstellung einzelner Angestellter garantieren könne. «Wir sind auch nur ein Spiegel der Gesellschaft.»

Kein Urteil über die Behörden

Beim zweiten Gefängnisbesuch zittern Brians Hände; er legt sie vor sich auf den Tisch, sagt: «Seltsam.» Der Häftling kommt gerade vom Boxtraining, in den Augen ein irrlichterndes Flackern. Wie muss sich das anfühlen, wenn man Leute so leicht einschüchtert? Hier im offenen Vollzug sei der Umgang mit ihm besser, sagt Brian. Die Beziehung zu den Aufseher:innen in der Pöschwies schildert er anders als gemeinhin dargestellt. In seinem Tagebuch berichtet er immer wieder von Übergriffen, Schlägen. Im Gespräch sagt er: «Ich hörte Dinge wie: ‹Du siehst aus wie ein Affe mit diesen Haaren.›»

Die USA haben George Floyd, Brian taugt kaum zur Symbolfigur. Er habe sich mit den Tausenden Menschen, die nach Floyds Tod auch in der Schweiz auf die Strasse gingen, trotzdem verbunden gefühlt, sagt er. «Es geht mir ja auch nicht nur um mich, ich will dazu beitragen, dass alle Schwarzen Menschen weniger Alltagsrassismus erfahren.»

Es ist Brians weisser Schweizer Vater, der immer weitere Prozesse führt, weil er unerschütterlich an die Gerechtigkeit des Schweizer Systems glaubt. Brians Schwester sagt: «Meine Mutter und ich haben diesen Glauben nicht, weil unsere Realität eine andere ist.» Die Geschichte, die sie erzählt, ist die einer grossen Schwester, die ihren Bruder nicht beschützen konnte. Immer wieder habe sie diesen Film im Kopf: «Brian kommt frei, und irgendjemand erschiesst ihn.» Sie habe ihm damals geraten, nicht im SRF-Film mitzumachen. «Ich sagte ihm: ‹Nachher kennen dich alle.›» Heute lebt sie mit dem Gefühl, «dass das alles nie ein Ende finden wird». Ihren Kindern habe sie geraten, nicht über Brian zu reden. «Obwohl ich ihnen doch einfach sagen möchte: ‹Schaut, das ist euer Onkel.› Ich würde so gerne einmal etwas Schönes mit ihm machen, irgendwo hinfahren. Aber wie kann er denn weitermachen, wenn er rauskommt? Er hat keine Schuldbildung. Alles, was er erlebt hat, arbeitet in seinem Kopf weiter.» Doch Brian habe einen starken Willen. «Vielleicht wird es ihm durch hartes Training und einen durchorganisierten Alltag gelingen, Fuss zu fassen.»

Wenn Fabio Botta zurückblickt, quält ihn manchmal die Frage, ob er mehr hätte machen können. Zumindest in seiner Institution aber hätten rassistische Stereotype keine Rolle gespielt, glaubt er. «In der Entstehungsgeschichte mag das anders gewesen sein, in Zürich konnte sich Brian schon damals kaum mehr frei bewegen, weil ihn alle auf dem Radar hatten.» Botta sagt auch: «Er hatte schon damals eine starke Weigerung, sich unterdrücken zu lassen, sicher nicht nur impulsiv, sondern auch aus einem Gerechtigkeitsgefühl. Druck bewirkte bei ihm immer das Gegenteil. Eigentlich ist es ja noch gut für eine Gesellschaft, wenn Menschen sich nicht anpassen wollen.»

Wie also würde das Urteil gegen die Schweizer Behörden in diesem Fall lauten? Diese Frage wird das Zürcher Obergericht nicht verhandeln.

Mitarbeit: Noëmi Landolt.

* Korrigendum vom 7. Juli 2022: In der Printversion sowie in der alten Onlineversion wird die Jugendanwaltschaft fälschlicherweise mit der Aussage zitiert, die Akten über die erste falsche Beschuldigung Brians seien verjährt und vernichtet.

** Korrigendum vom 7. Juli 2022: In der Printversion sowie in der alten Onlineversion steht fälschlicherweise, Marcel Riesen-Kupper habe nach der «Blick»-Kampagne behauptet, nichts vom Sondersetting gewusst zu haben.

Der Prozess

Das Zürcher Obergericht hat Brian im Juni 2021 zu sechs Jahren und vier Monaten Haft verurteilt. Nach Intervention des Bundesgerichts muss es den Fall neu verhandeln. Der Prozess war auf den 14. Juli angesagt, wurde wegen der zahlreichen Beweisanträge aber kurzfristig und ohne Bekanntgabe eines neuen Datums verschoben. Im Zentrum der Anklage steht ein Angriff auf einen Aufseher im Hochsicherheitstrakt der Justizvollzugsanstalt Pöschwies, über dessen Schwere die Schilderungen auseinandergehen.

Brians Anwälte kämpfen für seine Entlassung: Seine jahrelange Isolationshaft komme der Folter gleich, gegen die er sich mit seinen Aggressionen gewehrt habe. Der Vorwurf wird von Nils Melzer, dem ehemaligen Uno-Sonderberichterstatter für Folter, gestützt. Die Uno-Sonderdelegation für Menschen mit afrikanischem Hintergrund, die Brian Anfang Jahr besuchte, wertet den Fall als klares Beispiel für institutionellen Rassismus (siehe WOZ Nr. 20/2022 ).