Verwahrung: Jede Strafe hat ein Ende

Nr. 44 –

Die Antifolterkommission äussert in einem eben publizierten Bericht über die Verwahrung von Menschen scharfe Kritik. Was muss sich ändern? Deutschland und die Niederlande machen es vor.

Gang mit offenen Zellentüren in der Justizvollzugsanstalt Solothurn
Die meisten Verwahrten bleiben auch nach Verbüssung ihrer Strafe zusammen mit anderen Gefangenen eingesperrt: Justizvollzugsanstalt Solothurn. Foto: Peter Klauzner, Keystone

Die Verwahrung in der Schweiz erfülle teilweise die grundlegenden menschenrechtlichen Standards nicht. Zu diesem Schluss kommt die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) in ihrem neusten Bericht zum Verwahrungsvollzug. Die Hauptkritik: Fast alle Verwahrten sind mit Strafgefangenen zusammen untergebracht und dem normalen Strafregime unterworfen. Das ist stossend, weil Verwahrte ihre Strafe bereits verbüsst haben.

Das sagen Verwahrte wie Peter Vogt schon lange (siehe WOZ Nr. 13/22), der Bericht der NKVF gibt ihm nun recht. Vogt beging mehrere schlimme Vergewaltigungen. Zum letzten Mal wurde er 1994 verhaftet und zu zehn Jahren Zuchthaus mit anschliessender Verwahrung verurteilt; das letzte Delikt bestreitet er bis heute. Unabhängig davon hat er die damals verhängte Strafe bereits vor achtzehn Jahren abgesessen. Seither ist er eingesperrt, weil man die Öffentlichkeit vor ihm schützen will – die Haft ist also rein präventiv.

«Man erkennt nicht immer, wer Bewohner ist und wer zum Personal gehört.»
Peter Braun, ehemaliger Direktor der Langzeiteinrichtung Pompestichting (NL)

Die meiste Zeit sass Vogt in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Bostadel, zusammen mit Gefangenen, die ihre Strafe verbüssen. Vor einem Jahr wurde er in die JVA Solothurn verlegt. Erneut wohnt er mit gewöhnlichen Strafgefangenen zusammen. Er beklagt sich über die rigiden Regeln. Er kann nur beschränkt Besuch empfangen, darf seinen Computer und seinen MP3-Player nicht benutzen – Ausgang wurde ihm auch keiner mehr gewährt. Alles Dinge, die im Bostadel möglich waren. Sein Alltag fühlt sich an, als sässe er sein erstes Jahr Strafe ab.

Für Aussenstehende ist oft schwer nachvollziehbar, warum Verwahrte Anspruch auf eine freiere Unterbringung haben sollten, schliesslich haben sie oft mehrere schwere Delikte begangen. Doch Freiheitsentzug ist die schärfste Sanktion, die der Rechtsstaat kennt. Gerichte sind dafür da, für eine begangene Tat eine angemessene Strafe auszusprechen. Mit Ausnahme der lebenslänglichen Strafe ist diese immer zeitlich begrenzt. Die Verwahrung, die eigentlich eine präventive Strafe ist – die vor der Begehung eines Delikts verhängt wird –, passt nicht in diese Logik. Das macht die Debatte vertrackt.

Das Abstandsgebot

In Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht sich dieser Frage annehmen müssen. Ein Gefangener, der unter dem Kürzel M. bekannt wurde, klagte durch alle Instanzen. Er war zuvor wegen Gewaltdelikten zu fünf Jahren Haft mit anschliessender Sicherungsverwahrung verurteilt worden.

2004 fällte das Verfassungsgericht aufgrund seiner Klage einen historischen Entscheid: Die unbefristete Verwahrung sei grundsätzlich rechtens. Aber so, wie sie umgesetzt werde, verstosse sie gegen die Verfassung. Der alles entscheidende Satz im Urteil: Es müsse «sichergestellt sein, dass ein Abstand zwischen dem allgemeinen Strafvollzug und dem Vollzug der Sicherungsverwahrung gewahrt bleibt». Daraus leitete sich das sogenannte «Abstandsgebot» ab, das besagt: Verwahrte dürfen nicht zusammen mit Strafgefangenen eingesperrt werden und haben hinter Gittern Anspruch auf ein möglichst normales Leben.

Nach diesem Urteil mussten die Bundesländer für Verwahrte separate Abteilungen einrichten. Wie zum Beispiel in der JVA Rosdorf bei Göttingen: Die Zellen gleichen kleinen Einzimmerwohnungen mit abgetrennter Dusche und Toilette. Eine Zelle umfasst 23 Quadratmeter. Hierzulande stehen Gefangenen nur etwa 7 Quadratmeter zur Verfügung, und das Klo befindet sich im selben Raum. In Rosdorf dürfen Verwahrte ihre Räume selber einrichten. In jeder Zelle steht eine kleine Box mit Fernseher und Telefon. Mit dem Telefon können die Verwahrten nach Belieben nach draussen telefonieren und können jederzeit Anrufe entgegennehmen. Sie müssen zwar die Nummern der JVA anmelden. Es würden aber grundsätzlich keine Nummern gesperrt, sagt JVA-Direktor Klaus-Dietrich Janke, ausser sie gehöre einem ehemaligen Opfer. Das Internet ist beschränkt zugänglich.

Verwahrte haben zudem Anspruch auf mindestens vier begleitete Ausgänge, auch jene, die als sehr gefährlich gelten. Sie werden unter den Kleidern dezent mit einer dünnen Kette gefesselt. Wird die Kette eng angelegt, kann die Person nur leicht gebückt gehen und nicht rennen. «Es geht darum, die Lebenstüchtigkeit des Sicherungsverwahrten zu erhalten», sagt Janke. «Er soll den Anschluss an die Gesellschaft nicht verlieren. Es ist wichtig, dass er die Entwicklungen draussen mitbekommt. Und er soll sich beim Einkaufen unter Menschen erproben – aber nicht mit Handschellen, das würde zu sehr auffallen. Da wäre er sofort stigmatisiert.» Keine Verkäuferin bediene entspannt einen Mann, der in Handschellen vor ihr stehe.

Was in Rosdorf heute Alltag ist, fordert die Antifolterkommission in etwa für die Schweiz. Dass dies noch nicht der Fall ist, liegt nicht an den Gefängnisdirektor:innen, diese würden das sofort mittragen. Es fehlen die Strukturen. Es gibt erst einige wenige Pilotprojekte, in denen das Abstandsgebot umgesetzt wird. Zum Beispiel in der JVA Solothurn, wo Peter Vogt lebt. Doch hat es dort nur sechs Plätze, die schon lange belegt sind. Heute gibt es schweizweit etwa 150 Verwahrte. Dass sie auf den normalen Abteilungen nicht mehr Freiheiten erhalten, ist nachvollziehbar: Die anderen Strafgefangenen würden die Sonderbehandlung nicht verstehen. Es käme zu massiven Spannungen.

Einwohnerinnen statt Insassen

Pompestichting im niederländischen Zeeland zeigt, dass man es noch besser machen kann. Die Einrichtung wurde für besonders gefährliche Straftäter:innen gebaut und ist eine sogenannte Longstay-Institution, wo viele am Ende einer langen Gefängniskarriere hinkommen. Peter Braun hat die Einrichtung aufgebaut und während vieler Jahre geleitet. «Wir nennen die Leute nicht Insassen oder Patienten, für uns sind es Einwohner – Leute, die zusammen in einem Dorf leben», fasst Braun die Philosophie von Pompestichting zusammen. Die Institution ist mit Zäunen statt Mauern gesichert – das ist Braun wichtig, damit die Menschen in die Weite blicken können. Die meisten Bewohner:innen bewegen sich innerhalb der Zäune frei. Hier wohnen Männer und Frauen. Obwohl auf knapp hundert Männer nur drei Frauen kämen, mache das keine Probleme, sagt Braun.

«Wir versuchen, auf Augenhöhe miteinander zu verkehren. Wenn möglich, versuchen wir, Entscheidungen gemeinsam zu fällen. Alle tragen individuelle Kleidung. Man erkennt nicht immer, wer Bewohner ist und wer zum Personal gehört», sagt Braun. Es werden auch keine Strafen verhängt. Kommt es zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung, würden danach Gespräche geführt: «Das heisst, es wird stundenlang über den Vorfall geredet; das mögen Einwohner nicht, die wollen ihre Ruhe. Grundsätzlich gilt hier: andere nicht berühren, nicht schlagen, niemanden beschimpfen – einfach normal miteinander umgehen wie in einer Familie. Wie in einer Familie können wir auch nicht auseinandergehen. Deshalb müssen wir bei Problemen so lange reden, bis es wieder in Ordnung ist.»

Das Modell ist auch günstiger. Ein Verwahrter in Pompestichting kostet pro Tag umgerechnet etwa 500 Franken, in der Schweiz sind es im Schnitt rund 1000.

Susan Boos hat kürzlich ein Buch zum Thema Verwahrung publiziert: «Auge um Auge. Die Grenzen des präventiven Strafens» (Rotpunktverlag, 2022). Informationen zu bevorstehenden Veranstaltungen zum Buch finden sich unter www.rotpunktverlag.ch/buecher/auge-um-auge.