Von oben herab: First things first

Nr. 3 –

Stefan Gärtner über die Bedürfnisse von Berner Kindern

Der englische Südseeschriftsteller W. Somerset Maugham würde wohl milde lächeln, aber für meine bescheidenen Verhältnisse bin ich tatsächlich ganz schön herumgekommen und lebe jetzt in der neunten Stadt meines Lebens. Das Erste, was mir zur badischen Kapitale Karlsruhe (2011–2015) einfällt, sind die Spielplätze. Nein, das stimmt nicht: Zuerst fällt mir der Tramfahrer ein, der meiner Frau und mir in der ortstypischen Patzigkeit zu verstehen gab, er könne nicht ewig warten, bis wir unseren scheiss Kinderwagen in die Bahn bugsiert hätten. Dann aber fallen mir gleich die fantastisch zahlreichen Spielplätze ein, und wer je daran gezweifelt hätte, dass das Leben eine dialektische Veranstaltung ist, hier wäre der Beweis.

Da, wo ich jetzt wohne, ist es nie weiter als 500 Meter bis zur nächsten Hauptverkehrsstrasse; in Karlsruhe war es nie weiter als 500 Meter bis zum nächsten, im Spitzenzustand befindlichen Spielplatz. In Karlsruhe, muss man wissen, sitzt das Bundesverfassungsgericht, und die ganze Stadt ist eine behäbige Mischung aus Beamtentum und südwestdeutscher Geschäftigkeit; sie ist, mit einem Wort, solvent, was man von W., im armen deutschen Westen gelegen, weiss Gott nicht behaupten kann. Hier gibt es zwar ebenfalls Spielplätze, aber eher verstreut, und vielleicht soll man fair sein und finden, nicht W. habe zu wenige, sondern Karlsruhe zu viele Spielplätze, denn ein bisschen lächerlich – und nämlich Ausweis von «Kindertümelei» (Christian Schultz-Gerstein) – war das ja schon oder eben konsequent, denn sozial benachteiligt und multiethnisch war unser Wohnviertel so wenig wie die ganze Stadt.

In Bern dagegen, dieser ganz ähnlichen Mischung aus Beamtentum und Gewerbefleiss, gibt es das sozial benachteiligte und multiethnische Untermattquartier, und da soll jetzt ein Spielplatz hin, weil es da keinen Spielplatz gibt. Das Problem ist, dass das Grundstück, ein Parkplatz, 3,7 Millionen Franken kostet, und drum stänkert die lokale SVP (laut «Blick») wider den «teuersten Spielplatz der Welt». Dagegen findet die SP, der Spielplatz und überhaupt Grünraum seien im Quartier «sehr wichtig». Bern, und auch das muss man wissen, hat 1,4 Milliarden Franken Schulden und «müsste sparen» («Blick»), was die Frage aufwirft, ob multiethnische Kinder tatsächlich Spielplätze brauchen. Die haben sie doch da, wo sie herkommen, auch nicht!

Eigentlich ist es ein handwerklicher Fehler, sich eine Pointe nicht bis zum Schluss aufzuheben, aber der teuerste Spielplatz der Welt ist immer der, den man nicht baut. Vor Jahren hat die deutsche Bertelsmann-Stiftung, eigentlich ein neoliberaler Lobbyverein, mal ausgerechnet, was es die Gesellschaft kosten wird, wenn sie sich nicht um das Mit- und das Vorankommen jener Kinder kümmert, um deren Mit- und Vorankommen sich sonst niemand kümmert, und kam auf die tolle Summe von 2,8 Billionen Euro. In Bern kostet der dringend benötigte Spielplatz vier Millionen Franken, und wärs nicht ein weiterer handwerklicher Fehler, Witze zu oft zu machen, müsste ich das jetzt mit den Kosten eines Abendbrots in der «Kronenhalle» ins Verhältnis setzen, wo allerdings niemand hingeht, dessen Kindern es an Grün- oder Spielflächen fehlt.

Das, was ist, ist ja angeblich alternativlos und besser nicht zu haben. Was ich nie recht verstehe, ist, warum die öffentliche Hand überhaupt Schulden machen muss; warum nicht alles so eingerichtet ist, dass selbstverständlich das Prinzip gilt: First things first. Also immer zuerst das, was der Mensch braucht, und wenn sich Spielplätze und 600-PS-Elektroautos nicht zugleich haben lassen, dann gibt es so viele Spielplätze, dass sich niemand ins Elektroauto setzen muss, um einen zu erreichen. Ich weiss, ich weiss: das Leichte, das so schwer zu machen ist. Aber manchmal ist es ganz leicht, damit anzufangen.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.

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