Generalstreik in Frankreich : Showdown hinter Müllbergen

Nr. 11 –

Frankreichs Regierung will das Rentensystem reformieren – um jeden Preis. Mit dem unerbittlichen Vorgehen über die Köpfe der Streikenden hinweg riskiert Emmanuel Macron, die Spaltung der Gesellschaft und die Krise der Demokratie zu verschärfen.

Berge von Abfallsäcken türmen sich auf den Pariser Trottoirs. Selbst rund um den Élysée-Palast und das herrschaftliche Hôtel Matignon, den Regierungssitz, stinkt es nach Müll. Doch hinter den Mauern der Macht hält Frankreichs Premierministerin Élisabeth Borne eisern die Stellung, um im Auftrag Emmanuel Macrons in dieser Woche eine Reform durchzupeitschen, die noch immer von zwei Dritteln der Bevölkerung abgelehnt wird.

Um sich Gehör zu verschaffen, sind Hunderttausende Menschen in den letzten Wochen immer wieder auf die Strasse gegangen. Sie haben die Arbeit niedergelegt, haben Strassen, Raffinerien und Häfen blockiert, Schulen, Bibliotheken und Unternehmen bestreikt. Sie waren so zahlreich wie zuletzt in den neunziger Jahren, angetrieben von dem tief sitzenden Gefühl der Ungerechtigkeit, von der Wut auf einen Präsidenten, der auf stumm gestellt hat und alle (guten) Argumente für eine anders gestaltete Reform, basierend auf einer Umverteilung von oben nach unten, an sich abprallen lässt. Einen Präsidenten, der tief davon überzeugt ist, Frankreich müsse in einem globalisierten, kapitalistischen Wirtschaftssystem Sozialleistungen zurückschrauben, um zu bestehen, und der als grosser Reformer in die Geschichtsbücher eingehen will.

Kämpferisches Bewusstsein

Vielleicht mag es tatsächlich von aussen betrachtet so scheinen, als seien die reformresistenten Französ:innen zu verwöhnt, zu träge oder zu verblendet, um der Wahrheit ins Auge blicken zu wollen. Einer Wahrheit, die in einem neoliberal organisierten Wirtschaftssystem wohl oder übel auf sie zukommen wird: die Notwendigkeit, länger zu arbeiten, um die Rentenkassen nicht zu überlasten. Doch was sich in Frankreich dieser Tage – wieder einmal – abspielt, ist so grundlegend, dass es uns alle betrifft. Im Mutterland der universellen Menschenrechte herrscht schon lange ein besonderes Bewusstsein für hart erkämpfte soziale Errungenschaften. Ein Bewusstsein, das unser Verständnis von Solidarität geprägt hat. Doch es wäre naiv zu glauben, Frankreich habe das Versprechen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit jemals tatsächlich eingelöst. Die Pariser Eliten sind nach wie vor unantastbar, die Kluft zwischen Arm und Reich bleibt unübersehbar. Aber immerhin bringen die Menschen radikal ihr Unwohlsein gegen die Logik einer Marktwirtschaft zum Ausdruck, die sich immer weniger mit dem Adjektiv «sozial» beschreiben lässt.

So darf man den Protest in Frankreich denn auch nicht nur als Ablehnung von zwei zusätzlichen Jahren auf dem Arbeitsmarkt lesen (vgl. «Umstrittene Rentenreform» im Anschluss an diesen Text). Vielmehr geht es darum, dass die schwächsten Teile der Bevölkerung eine Mehrbelastung zugewiesen bekommen und gleichzeitig hart erkämpfte Rechte, zum Beispiel Kündigungsschutz, Arbeitslosen- oder eben Altersbezüge, beschnitten werden. Und noch etwas wird immer wieder betont: Gemessen an den Herausforderungen dieser Tage, ist das prognostizierte Loch in den Rentenkassen ein kleines Problem. So unterstrich der bekannte Wirtschaftswissenschaftler Jacques Attali am Montag im Nachrichtensender BFM TV: «Unserem Bildungssystem geht es schlecht, unser Gesundheitssystem ist eine Katastrophe, die Klimakrise drängt, der öffentliche Dienst liegt am Boden, die Institutionen müssten reformiert werden.» Kurzum: Präsident Macron hat die Rente zur Gretchenfrage erhoben, obwohl sie eigentlich nur ein Nebenschauplatz ist, eine kleine Baustelle im riesigen Reformstau.

Um jede Silbe gerungen

Nun also erleben wir genau auf dieser Baustelle Tage der Entscheidung. Doch entschieden wird eben nicht auf der Strasse oder gar in einem Volksentscheid, wie es zuletzt die Gewerkschaften gefordert haben. Entschieden wird im Senat und in der Nationalversammlung, wo tagelang um jede Silbe, jedes Detail des Gesetzestextes gerungen wurde. Denn eines will die Regierung von Emmanuel Macron unbedingt: die Reform durch eine Mehrheit in den zwei Kammern beschliessen und nicht durch den Artikel 49–3 der französischen Verfassung. Dieser Artikel erlaubt es der Regierung, unliebsame Gesetze an der Nationalversammlung vorbei zu beschliessen.

Seit den herben Verlusten bei den letzten Parlamentswahlen, bei denen Macron keine eigene Mehrheit erlangen konnte, griff die Regierung immer wieder auf diesen umstrittenen Trick zurück. Kritiker:innen sehen darin ein Zeichen einer tiefgreifenden Demokratiekrise, deren Ursachen schon Jahrzehnte zurückliegen und die bislang trotz vieler Versprechen nicht behoben werden konnte. Denn bei der Gründung der Fünften Republik 1958 wurde das Parlament auf Drängen von Charles de Gaulle bewusst zugunsten der Regierung und des Präsidenten geschwächt.

Wegen der schwachen Institutionen verlagern sich grosse gesellschaftliche Auseinandersetzungen oft auf die Strasse. So kritisierte etwa Laurent Berger, Generalsekretär des Demokratischen Gewerkschaftsbunds CFDT, in einem Interview in der Wochenzeitung «Journal du Dimanche» das Vorgehen der Regierung: «Dieses überhastete Verfahren bei einer Reform anzuwenden, die sich auf viele Millionen Menschen auswirken wird und die wir als ungerecht und handwerklich schlecht gemacht erachten, wäre ein wirklicher Schaden für die Demokratie. Dass am Ende der Artikel 49–3 angewandt werden soll, ist für mich unglaublich und auch gefährlich.»

Ein Hauch von Revolte

Die grosse Mobilisierung der letzten Wochen hat die Regierung überrascht, und so liegt in diesen Tagen ein Hauch von Revolte über dem Land. Protesterfahrene schwärmen vom breiten Spektrum der Demonstrant:innen über Berufsgruppen und Generationen hinweg. Doch was wird bleiben, wenn die Reform in wenigen Tagen, ob nun mit oder ohne parlamentarische Mehrheit, zur Realität wird? Wird man in Frankreich wirklich zum Normalbetrieb übergehen können und die über drei Millionen Demonstrant:innen vergessen machen? In der politischen Kristallkugel gibt es immer mehr Stimmen, die einen noch bedeutenderen Aufstand in einigen Monaten prophezeien. Eine Neuauflage der Gelbwestenbewegung, unter anderem Namen womöglich?

Der Soziologe Karel Yon formuliert gegenüber «Le Monde» folgende Prognose: «Eine solch lang anhaltende und intensive politische Protestbewegung stellt eine Hochphase dar, durch die das Engagement wachsen kann.» Er spricht von einer möglichen Wiederbelebung von gewerkschaftlichem Aktivismus, von einer Politisierung der Individuen. In jedem Fall aber werde die Bewegung ihre Spuren hinterlassen. Einerseits könnte sie den Gewerkschaften Zulauf bringen, andererseits aber auch zu politischer Enttäuschung, zu Wahlenthaltungen oder dem Wachsen der politischen Ränder führen.

Dass die Regierung im Fall der aktuellen Rentenreform die Gewerkschaften so vehement ausgeschlossen und den Dialog verweigert hat, schockiert auch deshalb, weil Macron vor Jahren versprochen hatte, die Politik für Akteur:innen zu öffnen, die bis anhin wenig teilhatten, weil er es anders machen wolle. Stattdessen erleben wir gerade, wie radikal vertikal durchregiert wird. Und so werden zwar irgendwann die Müllsäcke von den Strassen verschwinden, die Streikenden die Arbeit wiederaufnehmen, die Unternehmen weiterproduzieren und die Züge wieder rollen – doch die Wut auf und die Ablehnung von Macron werden noch lange nachhallen.

Umstrittene Rentenreform

Die geplante Rentenreform gilt als eines der zentralen Vorhaben von Emmanuel Macron: Sie sieht vor, das Rentenalter von 62 auf 64 Jahre anzuheben, und will die Zahl der verlangten Beitragsjahre für eine volle Rente erhöhen.

Dies stösst auf gewaltigen Widerstand in der Bevölkerung. Nicht zuletzt, weil für viele der tatsächliche Ruhestand schon heute später beginnt: Wer nicht lange genug in die Pensionskasse einzahlen konnte, arbeitet länger – denn Anspruch auf eine volle Rente hat man in diesem Fall erst mit 67 Jahren.

Die Regierung schickte die kontroverse Reform in einem beschleunigten Verfahren ins Parlament. Am Donnerstag, dem Erscheinungstag dieser WOZ, sollen beide Kammern – die Nationalversammlung und der Senat – über das Reformpaket abstimmen.