Erdoğans Herausforderer: Der Wendehals

Nr. 17 –

Präsidentschaftskandidat Kemal Kılıçdaroğlu wird als die Hoffnung für einen politischen Neuanfang in der Türkei bejubelt – dabei schreckt er nicht vor Hetze zurück.

Es sind zwei bemerkenswerte Premieren – und ein kluger politischer Schachzug: In einem am vergangenen Dienstag veröffentlichten Video auf Twitter wirft der türkische Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu dem Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan Hetze gegen Kurd:innen vor. «Millionen Kurden werden derzeit wie Terroristen behandelt.»

Mit Blick auf die Präsidenten- und Parlamentswahlen am 14. Mai fügte er hinzu: Wenn immer Erdoğan sehe, «dass er die Wahlen verlieren wird», beginne er eine «kollektive Stigmatisierung der Kurden». Kurz zuvor hatte Kılıçdaroğlu angekündigt, bei einem Wahlsieg den seit 2016 inhaftierten früheren Vorsitzenden der prokurdischen HDP, Selahattin Demirtaş, freizulassen.

Am Mittwoch folgte der nächste Tabubruch: In einem wieder auf Twitter veröffentlichten Video hat Kılıçdaroğlu erstmals öffentlich seine Zugehörigkeit zum Alevitentum thematisiert. Es sei an der Zeit, dieses «sehr sensible» Thema anzusprechen, sagte er. «Ich bin Alevit, ich bin ein aufrichtiger Muslim», fügte er hinzu.

Bemerkenswert sind diese innerhalb weniger Stunden mehr als zehn Millionen Mal angeklickten Auftritte deswegen, weil sich Kılıçdaroğlu noch nie zuvor so eindeutig in der Kurd:innenfrage und bezüglich seiner eigenen kurdisch-alevitischen Herkunft positioniert hat – im Gegenteil: Kılıçdaroğlu sprach bislang aus taktischen Gründen kaum über diese Themen. Denn in der Türkei ist es für Minderheiten schwer, in Spitzenämter gewählt zu werden. Weil aber die rund fünfzehn Millionen Kurd:innen bei diesem Urnengang ausschlaggebend sein könnten, hat sich Kılıçdaroğlu nun für diese Aussagen entschieden. Die HDP hat keine eigenen Kandidat:innen aufgestellt. Das wird als Unterstützung für Kılıçdaroğlu gewertet – der den Kurd:innen jetzt auch etwas bieten muss.

Gegen das Imperium der Angst

Kılıçdaroğlu war bis zu seiner Pensionierung 1999 Generaldirektor der Sozialversicherungsanstalt SSK. Im Jahr 1994 wurde er von einer Zeitschrift zum «Bürokraten des Jahres» gewählt – eine Auszeichnung, die ihm bis heute anhaftet: Zu steif, zu wenig charismatisch, zu zögerlich, so lautet die gängige Kritik an ihm. Erst 1999 wechselte er in die Politik. Als CHP-Chef Deniz Baykal abtreten musste, übernahm Kılıçdaroğlu 2010 das Amt. «Wir werden das Imperium der Angst beenden», kündigte er damals an. Bisher ist er mit dem Versuch, Erdoğan abzulösen, notorisch gescheitert. Für die bevorstehenden Wahlen sagen Umfragen ein knappes Rennen voraus.

Kılıçdaroğlu wird als Anti-Erdogan gefeiert, als Brückenbauer bejubelt, der Korruption bekämpfe, statt selbst darin verwickelt zu sein. Der Sozialdemokrat ist tatsächlich in mancher Hinsicht eher ein Versöhner als ein Spalter, ernsthafte Korruptionsvorwürfe gegen ihn sind keine bekannt. Doch was in der Euphorie der Erdoğan-Gegner:innen übersehen wird: Kılıçdaroğlu scheut weder vor heiklen politischen Allianzen zurück – noch vor Hetze.

Das Oppositionsbündnis, das er anführt, besteht aus sechs sehr unterschiedlichen Parteien. Teil der Allianz, die die Herrschaft Erdoğans beenden möchte, ist auch Meral Akşener mit ihrer nationalistischen Iyi-Partei. Vor deren Gründung war Akşener Mitglied der rechtsextremen MHP, in den neunziger Jahren fiel sie als Innenministerin durch ihre harte antikurdische Politik auf. Sie war die treibende Kraft dahinter, dass die HDP jetzt nicht mit in das Bündnis aufgenommen wurde. Nur widerwillig unterstützt Akşener den Spitzenkandidaten Kılıçdaroğlu.

Schon 2014 ging Kılıçdaroğlus Partei ein Wahlbündnis mit der MHP ein. Die beiden Parteien einigten sich bei der Präsidentenwahl auf Ekmeleddin İhsanoğlu als Kandidaten, einen Nationalisten mit islamisch-konservativen Wurzeln. Die Nominierung verärgerte die säkulare Basis der CHP – und Erdoğan gewann die Wahl.

Der lange Marsch

Als Erdoğan im Sommer 2016 die vom Parlament beschlossene Aufhebung der Immunität von Abgeordneten ratifizierte, hatte er dabei auch die Unterstützung Kılıçdaroğlus. Dieser wollte damit der Kritik entgegentreten, er unterstütze die als Terrororganisation verbotene PKK, die laut der Regierung der HDP nahesteht. Die Massnahme betraf Hunderte Parlamentarier:innen, vor allem der HDP, aber auch CHP-Politiker:innen: So wurde dem ehemaligen Chefredaktor der «Hürriyet», dem CHP-Abgeordneten Enis Berberoğlu, die Immunität entzogen. Er wurde schliesslich zu 25 Jahren Haft wegen «Spionage» verurteilt.

Erst als es seinen Parteifreund traf, sah sich Kılıçdaroğlu zum Handeln bemüssigt: Aus Protest gegen Berberoğlus Festnahme marschierte er zu Fuss von Ankara die 400 Kilometer bis zum Istanbuler Gefängnis, in dem dieser einsass.

Kılıçdaroğlu schreckt im Wahlkampf auch nicht vor Fremdenfeindlichkeit zurück. Er macht die Schutzsuchenden mitverantwortlich für die Wirtschaftskrise. «Die Regierung gibt den Syrern das Geld, das sie den Türken geben sollte», sagte Kılıçdaroğlu in Richtung Erdoğan. Wird ihm Rassismus vorgeworfen, entgegnet er: «Die DNA der Türkei wird verändert.» Bei einem Wahlsieg, so hat er schon vor Jahren angekündigt, werde er alle Syrer:innen zurück ins benachbarte Bürgerkriegsland schaffen.