Griechenland wählt: «Wir sind eine ruinierte Generation»

Nr. 20 –

Hohe Arbeitslosigkeit, Polizeigewalt, das verheerende Zugunglück im März: Die Wut der griechischen Jugend auf die Regierung ist vor den Wahlen am Sonntag immens.

Demonstration nach der tödlichen Zugkatastrophe vom 1. März in Thessaloniki
Die grösste Protestbewegung seit der Finanzkrise: Nach der tödlichen Zugkatastrophe vom 1. März demonstrierten auch in Thessaloniki Tausende. Foto: Sakis Mitrolidis, Keystone

Er ist in Griechenland geboren und aufgewachsen, konnte jedoch eine deutsche Schule besuchen und in Deutschland Informatik studieren. «Damit kannst du in Deutschland ganz gut leben», sagt Argyris Georgiou. Trotzdem entschied er sich, nach Griechenland zurückzukehren. Zu sehr hat er Leute und Kultur vermisst, zu gross war sein Wunsch, im Land, in dem er sich zu Hause fühlt, zu leben – oder vielmehr zu überleben. Es ist der Ort, an dem er eigentlich glücklich sein könnte, sagt er. Eigentlich.

Georgiou sitzt im sozialen Zentrum Respiro di Liberta in Thessaloniki, umgeben von politischen Büchern und Magazinen. Der 26-Jährige und seine Freund:innen finanzieren den kleinen Polittreffpunkt mit einem selbstorganisierten Barbetrieb.

Seinen ersten Job bei einer Firma, die Apps entwickelt, hat Georgiou bereits nach einem Jahr wieder verloren. Nun will er es mit Saisonarbeit auf Kreta versuchen. Viele seiner ehemaligen Mitschüler:innen haben längst das Weite gesucht – als Hilfsköchin in Amsterdam oder Pfleger in Deutschland. «Für Leute, die in einem wohlhabenden, nordeuropäischen Land aufgewachsen sind», sagt Georgiou und dreht sich eine Zigarette, «ist es kaum vorstellbar, wie es sich anfühlt, in einem Land zweiter Klasse klarzukommen.»

Glückliche Erinnerungen der Eltern

Noch in den neunziger Jahren war Griechenland eine vielversprechende Zukunft prophezeit worden. Der Einzug in den Klub der Europäischen Union 1981 eröffnete damals den Aufschwung der Wirtschaft und die Entstehung einer neuen Mittelklasse. Wohnung, Auto, Fernsehen: Das ist die frühe Kindheit, die Argyris Georgiou, grosse Teile der Millennials und die Älteren der Generation Z in Erinnerung haben. Die Sommerurlaube im Ferienhaus auf Chalkidiki, der Halbinsel direkt um die Ecke von Thessaloniki – «das ist die glückliche Zeit, von der meine Eltern immer erzählen», sagt die 22-jährige Psychologiestudentin Maria Foteinou.

Georgiou und Foteinou erinnern sich hingegen eher an die schwierigste Zeit Griechenlands. Als vor ziemlich genau dreizehn Jahren Giorgos Papandreou, der damalige Premierminister, am 23. April 2010 vom malerischen Hafen der Insel Kastelorizo aus den Staatsbankrott proklamierte. Die Sonne schien, das Meer schimmerte, die weissen Inselhäuser strahlten – und Papandreous Botschaft lautete: Griechenland werde es nicht ohne die Hilfe der internationalen Partner schaffen, seinen Schuldenberg abzutragen.

Was folgte, hat sich in die allgemeine Erinnerung eingeprägt: Die Troika, bestehend aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds, übernahm das Kommando im hochverschuldeten Land und unterwarf es, in Kooperation mit den wechselnden Regierungen, einem drastischen Austeritätsdiktat. Für die Bevölkerung bedeutete das Spardiktat soziale Zertrümmerung – den Rückbau praktisch aller sozialen Errungenschaften, Prekarisierung und hohe Jugendarbeitslosigkeit. Von nun an gehörte die Lage in Griechenland ebenso wie jene in Portugal, Italien, Irland und Spanien, die alle zu den am stärksten von der Eurokrise betroffenen Staaten zählten, zu den Kollateralschäden einer jahrzehntelangen neoliberalen Politik im Rahmen der EU-Integration.

Was zählen Menschenleben?

Dem heutigen Premierminister und Chef der rechtskonservativen Partei Nea Dimokratia, Kyriakos Mitsotakis, bereitet im Hinblick auf die Wahlen am Sonntag die Jugend die grössten Sorgen. Mitsotakis habe sich in den vergangenen Jahren bei der Jugend richtig unbeliebt gemacht, erzählt Maria Foteinou. «Als er 2019 die Wahl gewann, schaffte er das Universitätsasyl ab, das seit Ende der Militärdiktatur 1974 galt, und machte den Weg für eine Campuspolizei frei.» Das Leben auf dem Unicampus, der sich in Thessaloniki inmitten der Stadt befindet, habe sich enorm verändert. «Alle von uns erlebten hier schon Polizeikontrollen und Tränengaseinsätze», sagt Foteinou. Sie sitzt auf einem begrünten Platz des Campus, umgeben von Fakultätsgebäuden. «Hier finden vor allem im Frühling und Sommer selbstorganisierte Konzerte statt. Aber diese sind leider seltener geworden, seitdem sie mehrmals von der Polizei angegriffen wurden.»

In der Pandemiezeit erreichte die Polizeipräsenz laut Argyris Georgiou ihren vorläufigen Höhepunkt: «Wir erlebten einen der härtesten Lockdowns Europas. Man durfte nur per SMS-Abmeldung das Haus verlassen.» Deswegen gründete er mit seinen Freund:innen vom sozialen Zentrum «Copwatch» – eine Initiative zur Dokumentation von Polizeigewalt. Mittlerweile hat sie auf Instagram über 40 000 Follower:innen.

Das entscheidende Ereignis war dann aber die tödliche Zugkatastrophe: In der Nacht zum 1. März kollidierte auf der Strecke Athen–Thessaloniki in Tempe, in der Nähe der Stadt Larisa, ein Passagier- mit einem Güterzug. 57 Menschen kamen ums Leben. Der Verkehrsminister musste daraufhin zwar zurücktreten, aber Regierungschef Mitsotakis machte letztlich einen «menschlichen Fehler» für den Unfall verantwortlich. Dabei hatten Expert:innen immer wieder vor dem maroden Zustand des griechischen Schienenverkehrs – nicht zuletzt als Folge der gravierenden Sparmassnahmen –  gewarnt.

Das Unglück befeuerte eine Protestbewegung, wie sie Griechenland seit der Finanzkrise nicht mehr erlebt hat. Unter den Opfern des Zugunglücks waren vor allem Studierende auf dem Rückweg zur Universität, nach dem Karnevalswochenende bei den Eltern. In den anschliessenden Demonstrationen riefen die Teilnehmer:innen, unter ihnen auch Georgiou und Foteinou, Slogans wie: «Sie zählen Gewinne und Verluste, wir zählen Menschenleben.»

Die Jugend will atmen können

Das vorherrschende Gefühl, das die Jugendlichen eineinhalb Monate nach dem tödlichen Zugunglück empfinden, ist laut einer repräsentativen Studie des Forschungsinstituts Eteron Wut – das sagen 43,7 Prozent der Befragten. Es folgen Verzweiflung (19,7 Prozent) und Schamgefühl (17,4 Prozent). Fast 40 Prozent der Befragten haben an den Protesten teilgenommen. Die junge Generation akzeptiert nicht, dass die Verantwortung für den Unfall auf das Verschulden des Bahnhofsvorstehers beschränkt werden soll. 82,1 Prozent der Jugendlichen geben an, dass sie bei den Wahlen mitmachen wollen. Die Wahlbeteiligung lag vor vier Jahren insgesamt bei etwa 58 Prozent.

Die Studie zu den Gefühlen der Jugendlichen hat die Athener Politikwissenschaftlerin Loukia Kotronaki verfasst. «Die griechische Jugend sucht dringend nach Räumen zum Atmen», sagt sie. Schon während des Lockdowns, der in Griechenland autoritärer als in anderen Ländern abgelaufen ist, habe sich bei vielen ein Gefühl der Machtlosigkeit breitgemacht. «Im Namen des ‹inneren Feindes› werden antidemokratische Massnahmen gerechtfertigt», so Kotronaki. «Und dabei wird vor allem die Jugend ins Visier genommen.»

Die Politologin ist neben ihrer Arbeit seit vielen Jahren in sozialen Bewegungen aktiv. Sie erlebte den grossen Aufstand der Jugend mit, als am 6. Dezember 2008 der fünfzehnjährige Alexandros Grigoropoulos in Athen von der Polizei erschossen wurde. Damals gab es wochenlang erbitterte Massenproteste im ganzen Land – an einigen Tagen zog sich die Polizei sogar in ihre Kasernen zurück. Damals wie heute gehe es um das Gefühl des «nackten Lebens», sagt Kotronaki. Um das allgemeine Gefühl, dass «nicht nur das Leben marginalisierter sozialer Gruppen prekär ist – sondern das Leben von uns allen».

Auch Maria Foteinous Generation geht regelmässig auf die Strasse. So unterstützte sie bereits die Proteste von Student:innen der Schauspiel- und Tanzschulen, als die Regierung vor wenigen Monaten ein Gesetz verabschiedete, das deren Hochschulabschlüsse zu Schulabschlüssen herabstufte. «Wir haben wochenlang protestiert, unsere Freund:innen besetzten in jeder Stadt Hochschulen und Theaterbühnen», erzählt sie. «Aber Mitsotakis machte keinen Schritt zurück. Wir sind eine ruinierte Generation. Wenn du in Griechenland jung bist, ist alles, was du sagst, falsch, weil ‹du ja keine Ahnung hast›. Du lebst in völliger Ausbeutung. Wenn du in Griechenland jung bist und dich selbst respektierst, verlässt du das Land.»

Griechenlands Watergate

Die politischen Missstände sitzen tief: Die Korruption und die Interessenkonflikte, gegen die Mitsotakis versprochen hatte vorzugehen, existieren weiterhin. Der griechische Staat hat seine Verwaltung lediglich kosmetisch erneuert. Derweil hat ein Abhörskandal im letzten Jahr das Ausmass staatlicher Überwachung ans Licht gebracht. Er wird inzwischen als Griechenlands Watergate bezeichnet – in Anspielung auf den prominenten Fall von Machtmissbrauch in der US-Politik 1972.

Die aktuellen Parlamentswahlen hatte Mitsotakis eigentlich bereits Anfang April abhalten wollen. Nun wurden sie – wohl aus Angst vor der Reaktion der Jugend – auf den 21. Mai verschoben. Exministerpräsident Alexis Tsipras, der vor der Zugkatastrophe mit der linken Syriza in den Umfragen noch mit sieben Prozent hinterherhinkte, hat womöglich etwas aufgeholt – aktuelle Umfragen sind aber mit Vorsicht zu geniessen.

Bei dieser Wahl entfällt, wegen einer Gesetzesänderung aus der Zeit der Syriza-Regierung, der Fünfzig-Sitze-Bonus für die Siegerpartei. Damit wird es schwieriger, dass eine Partei allein die Regierung bilden kann. Mitsotakis spekuliert deshalb darauf, dass Neuwahlen nötig sein werden; er hat auch bereits dafür gesorgt, dass dann der Bonus wieder gilt. Argyris Georgiou macht an der Bar einen Freddo Espresso und sagt: «Ich bin leider pessimistisch. Weitere vier Jahre Mitsotakis wären eine Katastrophe für uns alle.»

Wer gewinnt die Wahlen?

Seit Juli 2019 regiert in Griechenland die rechtskonservative Nea Dimokratia alleine – unter der Führung von Premierminister Kyriakos Mitsotakis. 2015 hatte die Linkspartei Syriza die Wahlen gewonnen und vier Jahre lang die Regierung gestellt.

Für die kommenden Wahlen geht eine aktuelle Umfrage des Forschungszentrums Prorata von 31,5 Prozent der Stimmen für die Nea Dimokratia aus und von 27 Prozent für Syriza. Die sozialdemokratische Pasok dürfte 8,1 Prozent erreichen, die kommunistische KKE 5,3 Prozent und die rechtsextreme Elliniki Lysi (Griechische Lösung) 3,7 Prozent.

Drei Prozent der Stimmen reichen für den Einzug ins Parlament. Offen ist derzeit, ob sich die progressiven Parteien – im Fall eines Wahlsiegs der Nea Dimokratia – auf eine «Koalition der Verlierer» einigen könnten.