Mindestlöhne: Die Stimme der Zeit

Nr. 25 –

Fast 70 Prozent der Stimmen in Zürich und 65 Prozent in Winterthur für ein Anliegen, das nur etwa vier Prozent der lokalen Bevölkerung zugutekommt: Die deutlichen Ja zu einem Mindeststundenlohn von 23.90 Franken in Zürich und 23 Franken in Winterthur sind ein klares Signal. Und umso beachtlicher, als viele, die heute für weniger als diesen Betrag arbeiten, gar nicht darüber abstimmen durften – weil sie keinen Schweizer Pass haben.

Wie so oft in diesem Land beginnt der gesellschaftliche Fortschritt in Kommunen oder Kantonen. Wie 1864 etwa, als die Glarner Landsgemeinde für ein Fabrikgesetz votierte, das mit Zwölfstundentag und einem Verbot von Kinder- und Nachtarbeit zum Vorbild der schweizerischen Sozialgesetzgebung wurde. Oder wie 1957, als in Unterbäch im Oberwallis erstmals auch Frauen an die Urne gehen konnten – vierzehn Jahre vor Einführung des Frauenstimm- und -wahlrechts auf eidgenössischer Ebene.

Ob nun beim Ausbau der Elternzeit oder der staatlichen Finanzierung der familienexternen Kinderbetreuung: Seit den neunziger Jahren kommt der soziale Fortschritt vor allem aus den zunehmend rot-grün regierten Städten. Zürich und Winterthur sind die ersten Gemeinden, die einem Mindestlohn zugestimmt haben. Über 20 000 Menschen, die derzeit weniger verdienen, sollen somit einen Monatslohn von wenigstens 4100 Franken erhalten.

Prägend bei der Einführung von Mindestlöhnen sind vor allem auch die Grenzkantone: Nachdem 2014 die Schweizer:innen einen Mindestlohn auf Bundesebene mit über 76 Prozent abgelehnt hatten, haben inzwischen Genf, Neuenburg, Jura, Basel-Stadt und Tessin einen solchen eingeführt. Doch der Widerstand bleibt. Ausgerechnet jene Politiker:innen, die sonst stets den Föderalismus hochhalten, wollen die kantonalen Mindestlöhne auf Bundesebene bekämpfen. Ende 2022 haben National- und Ständerat einem Vorstoss des Mitte-Ständerats Erich Ettlin zugestimmt, der die in Gesamtarbeitsverträgen festgelegten Minimallöhne über die kantonalen stellen will. Ob das überhaupt verfassungskonform wäre, ist fraglich. Die Folgen jedenfalls wären verheerend: Der Monatslohn einer Coiffeuse in Genf könnte um tausend Franken sinken.

Auch in der Stadt Zürich will die Wirtschaftslobby Mindestlöhne verhindern. Der Gewerbeverband hat bereits im April Rekurs beim Bezirksrat eingelegt – mit eher schlechten Aussichten, nachdem das Bundesgericht kürzlich den Neuenburger Mindestlohn für zulässig erklärt hat. Nun aber kramen die Gegner umso wildere Szenarien aus der argumentativen Werkzeugkiste. So durfte Avenir-Suisse-Ökonom Marco Salvi in einem Interview in der NZZ die These verbreiten, Mindestlöhne führten zu mehr Schwarzarbeit und Arbeitslosigkeit – obwohl Zahlen aus Neuenburg den gegenteiligen Effekt belegen.

Die Realität von Menschen, die trotz Vollzeitjob unter dem Existenzminimum leben müssen, stellt Salvi schlichtweg infrage. Ginge es nach ihm, «sollten wir uns vom Bild der Working Poor verabschieden, das eher in die Erzählungen von Charles Dickens passt als in unsere moderne Zeit». Doch die Wirtschaft ist in der Defensive: Mindestlohninitiativen sind auch in den Städten Bern, Biel, Luzern und Schaffhausen sowie in den Kantonen Waadt, Wallis, Freiburg, St. Gallen, Thurgau und Appenzell Ausserrhoden angedacht. Auch ein schweizweiter Mindestlohn ist in absehbarer Zukunft gar nicht so abwegig. Und könnte irgendwann vielleicht einem Rahmenabkommen mit der EU den Weg ebnen, falls auch die Lohnkontrolle verbessert würde.

Ein grosser Teil der Bevölkerung will offenbar nicht, dass Reinigungs- oder Gastroangestellte trotz strenger Arbeit Geld auf dem Sozialamt erbitten müssen, wie das Avenir Suisse allen Ernstes vorschlägt. Demokratie ist dann am besten, wenn sich eine Mehrheit für die Verbesserung der Lebensbedingungen einer Minderheit einsetzt. Oder wie es Charles Dickens in seiner Erzählung «Die Silvesterglocken» 1844 formulierte: «Die Stimme der Zeit […] ruft dem Menschen zu: vorwärts!»