Manifest: Mit Hegel gegen die Familie

Nr. 27 –

Wo wird man mit höchster Wahrscheinlichkeit geschlagen, erpresst, manipuliert oder ungewollt angefasst? Die Familie sei ein dunkler Ort und gehöre abgeschafft, argumentiert die Feministin Sophie Lewis.


Seit einiger Zeit erlebt die Familie als gesellschaftspolitisches Ideal eine bemerkenswerte Renaissance. War es früher ein Steckenpferd der Rechten, die Familie zu preisen, haben mittlerweile auch Linke das Thema für sich entdeckt. Die US-Philosophin Nancy Fraser und der spanische Soziologe César Rendueles beispielsweise werfen dem Neoliberalismus in ihren aktuellen Büchern vor, die Familie unmöglich zu machen. Im Kapitalismus könne man sich gar nicht mehr um Kinder und greise Eltern kümmern. Selbst in der queeren Bewegung scheinen viele mit der Kleinfamilie versöhnt, seitdem auch nichtheterosexuelle Beziehungen als «Normalität» anerkannt sind.

Sophie Lewis’ Manifest «Die Familie abschaffen» schreibt gegen die positive Umdeutung der Familie an. Die naheliegenden Einwände gegen ihr Vorhaben nimmt die Autorin dabei selbst vorweg: Nein, es geht nicht darum, jemandem die Kinder wegzunehmen. Und ja, für lateinamerikanische Eltern, die durch die Migrationspolitik der Trump-Regierung von ihren Kindern getrennt wurden, ist der Schutz der Familie zweifelsohne wünschenswert.

Alternative Formen der Fürsorge

Doch die queere Feministin Lewis erinnert daran, dass es weiter gute Gründe für eine Kritik der Familie gibt. Da ist etwa der Umstand, dass das gesellschaftspolitische Ideal mit den realen Sorgebeziehungen vieler Menschen wenig zu tun hat. «Millionen von uns leben mit anderen in improvisierten, seltsamen, kreativen, institutionellen, gezwungenen oder zum Teil gemeinschaftlichen Formen; weitere Abermillionen leben völlig allein.»

Zum anderen bleibe die familiäre Realität in der Regel «erbärmlich weit hinter den Erwartungen zurück». Niemand anders «wird dich mit höherer Wahrscheinlichkeit ausrauben, drangsalieren, erpressen, manipulieren, schlagen oder ungewollt anfassen als die Familie. Folgerichtig sollte die Ankündigung, jemanden ‹wie Familie› zu behandeln, als Drohung verstanden werden.»

Ausgehend von dieser Beobachtung zeichnet Lewis unterschiedliche Ansätze der Familienkritik nach. Sie zeigt auf, warum afroamerikanische Autor:innen anders über die Frage debattieren als weisse Feministinnen. Da die Sklaverei Schwarze Familienbeziehungen über Jahrhunderte systematisch zertrümmerte, ist die afroamerikanische Perspektive zwangsläufig eine andere. Die Literaturkritikerin Hortense Spillers etwa erachtet die (erzwungene) «Familienlosigkeit» vieler Afroamerikaner:innen als Chance für andere, «verwandtschaftsäquivalente» Formen der Fürsorge.

Anschliessend stellt Lewis einige utopische Gegenentwürfe vor: die Kommunenbewegung des Frühsozialisten Charles Fourier, vorkoloniale Lebensformen nordamerikanischer Indigener, die Schriften der russischen Kommunistin Alexandra Kollontai oder den technikbegeisterten Feminismus Shulamith Firestones, die in den 1970er Jahren dafür plädierte, Schwangerschaften in der Zukunft von Maschinen erledigen zu lassen. Auch die Praktiken des «Mothering» unter schwulen Männern, der Kampf um die Entlöhnung der Hausarbeit und der queerfeministische «Trans-Marxismus» der Gegenwart sind Thema.

Reproduktion des Vermögens

Doch werden diese Konzepte viel zu skizzenhaft erörtert, als dass wirklich Alternativen sichtbar würden. Darum geht es der queeren Feministin aber auch nicht. Ihr Anliegen ist eine Familienkritik, mit der sich die Fürsorge- und Solidarpraktiken, die gemeinhin mit dem Begriff der Familie assoziiert werden, im hegelianischen Sinne aufheben lassen. Heute würden, so schreibt Lewis, die Bedürfnisse nach gegenseitiger Sorge «in einem Sarg begraben, auf dem ‹Exklusivität›, ‹Chauvinismus›, ‹Rasse›, ‹Eigentum›, ‹Vererbung›, ‹Identität› und ‹Konkurrenz› steht». Diesen Sarg oder Käfig will Lewis aufsprengen.

Das ist wohl das zentrale Argument in Lewis’ Buch: Die Familie ist nicht einfach ein sozialer Ort, sondern eine Maschine zur Reproduktion des Vermögens. Hier werden Gene, Bildungskompetenzen und ökonomischer Reichtum weitergegeben und Kinder als der formbare Besitz ihrer Erzeuger:innen behandelt. Diese Schranken gilt es einzureissen. Fürsorge ohne Verwandtschaft, Versorgung ohne Privateigentum – das sind die Forderungen von Lewis, die sich auch im Untertitel des Buchs niederschlagen: «Wie wir Care-Arbeit und Verwandtschaft neu erfinden».

«Die Familie abschaffen» ist ein schmales Manifest, in dem die familienkritische Praxis der letzten Jahrzehnte zu wenig diskutiert wird. Denn nach 1968 gab es eine Fülle von Kommunenexperimenten, mit denen die Kleinfamilie zertrümmert werden sollte – sowohl in linken Bewegungen als auch in sozialistischen Staaten, dem maoistischen China während der Kulturrevolution etwa. Dass viele dieser Erfahrungen für die Betroffenen traumatisch verliefen, hätte Lewis schon erörtern müssen. Dennoch ist ihr Manifest ein wichtiger Diskussionsanstoss. Die Familien mögen heute diverser und feministischer daherkommen, aber am Grundproblem hat sich nichts Wesentliches geändert. Wirklich füreinander da sein werden Menschen erst, wenn das warme «familiäre» Gefühl nicht mehr an den Grenzen der Familie haltmacht.

Buchcover von «Die Familie abschaffen»
Sophie Lewis: «Die Familie abschaffen. Wie wir Care-Arbeit und Verwandtschaft neu erfinden». Aus dem Amerikanischen von Lucy Duggan. S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2023. 160 Seiten. 35 Franken.