Krieg gegen die Ukraine: «Jodtabletten werden uns nicht helfen»

Nr. 28 –

In den vergangenen Wochen häuften sich die Warnungen vor einem Anschlag auf das AKW Saporischschja, das grösste Kernkraftwerk Europas. Wie gehen die Ukrainer:innen mit der Angst um?


In den ersten Wochen nach Beginn des russischen Angriffskriegs, als die Menschen überall im Land vor den Apotheken auf die Versorgung mit Medikamenten warteten, seien Jodtabletten noch reine Ladenhüter gewesen, erzählt Julia Tkatschenko. Dann öffnet sie eine Absperrung und kommt aus dem hinteren Teil des Ladens nach vorn: Sie müsse das Gespräch mit der Presse aufgrund von Videoüberwachung draussen vor der Tür führen. Sonst bekomme sie noch Probleme mit dem Arbeitgeber, scherzt sie.

Tkatschenko (37), braunes Haar, weisser Kittel, stellt sich neben die gläserne Eingangstür der Apotheke, in der sie seit zwei Jahren arbeitet. Auf dem kleinen Platz vor dem Gebäude spielt ein älterer Herr auf seiner Trompete, während Frauen in bunten Kleidern Margeriten und Pfingstrosen verkaufen. Der warme Sommerabend in Kyjiw lässt einen kurz vergessen, dass sich die Ukraine seit bald eineinhalb Jahren im Krieg befindet. Ein Moment, in dem die unzähligen Luftangriffe auf die Stadt wie Szenen aus einem Spielfilm wirken – und die atomare Bedrohung rund um das Kraftwerk Saporischschja wie eine schlechte Fortsetzung.

«Manche kamen panisch zu uns und haben gefragt, ob sie Jod auch prophylaktisch einnehmen könnten, was man natürlich nicht tun soll», erinnert sich Tkatschenko an einige Kund:innen, die vergangene Woche ihren Rat suchten. Hochdosierte Jodtabletten verhindern nach einem nuklearen Unfall, dass die Schilddrüse radioaktiv verseuchtes Jod aufnimmt. Tkatschenko verkaufte in der ersten Juliwoche im Vergleich zur Vorwoche doppelt so viele davon – für umgerechnet 3.50 Franken pro Schachtel. Kurz vorher hatten sich die Warnungen vor einem potenziellen Angriff auf das AKW wieder gehäuft. Es befindet sich im Ort Enerhodar rund 450 Kilometer südöstlich von Kyjiw, auf der linken Seite des Flusses Dnipro, der zurzeit die Frontlinie markiert.

Diplomatie gegen Regelbruch

Seit März 2022 halten die russischen Truppen das grösste Kernkraftwerk Europas besetzt. «Das waren die schlimmsten Tage meines Lebens», beschreibt Kseniia Perynska die Zeit, als die Kämpfe vor Ort begannen und sie sich entschied, mit ihrem vierjährigen Sohn erst ins relativ sichere Ternopil in der Westukraine und dann weiter nach Polen zu fliehen. Im April dieses Jahres kehrte die 34-Jährige in die Stadt Saporischschja zurück, die rund sechzig Kilometer Luftlinie vom AKW entfernt liegt. Der Grund dafür ist ihr Sohn Nazar, der nach der Flucht immer weniger ass und sprach. «Er wollte nicht mehr rausgehen und spielen», erzählt Perynska am Telefon. «Als er seinen Vater wiedersah, ging es ihm schlagartig besser.»

Nun ist die Familie zwar wieder beisammen, doch das Leben in Saporischschja fühle sich mehr wie Durchhalten an, sagt die junge Mutter. «Es ist jetzt Sommer – und das Einzige, woran ich denke, wenn ich mit Nazar draussen bin: nicht zu weit von der Wohnung entfernt zu sein, sollten die Russen wieder mit dem Beschuss beginnen.» Die Angst, die Situation im Kraftwerk könnte ausser Kontrolle geraten, besteht seit Monaten, auch bei ihr. «Die Jodtabletten haben wir schon vor einem Jahr besorgt, aber die werden uns im Ernstfall auch nicht helfen, dafür leben wir zu nahe am Kraftwerk.»

Seit der Zerstörung des Kachowka-Staudamms in der Südukraine Anfang Juni wächst die Sorge, die Russen würden auch vor einem Atomkraftwerk nicht haltmachen, schliesslich bezieht das AKW sein Kühlwasser normalerweise aus dem mittlerweile grösstenteils ausgetrockneten Kachowka-Stausee. «In den Kühlteichen steht das Wasser derzeit bei mindestens sechzehn Metern», sagt Olena Pareniuk, leitende Forscherin am Institut für Sicherheitsprobleme von Kernkraftwerken an der Nationalen Akademie der Wissenschaften. «Das bedeutet aber keine Entwarnung.»

Seit Wochen warnen Präsident Wolodimir Selenski, Geheimdienst und Streitkräfte davor, dass die Russen das Gelände rund um das Kraftwerk vermint und auf dem Dach der Reaktorblöcke Fremdkörper platziert hätten, die wie Sprengsätze aussähen. Die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO), die sich seit mehr als einem Jahr um eine Vereinbarung zur Entmilitarisierung des Kraftwerks bemüht, hatte Mitte Juni ihren Generaldirektor Rafael Grossi zum Augenschein nach Saporischschja geschickt. In einem Interview mit dem Fernsehsender «France 24» erklärte er vor kurzem, er habe «diese Art der Entwicklung» vor Ort nicht gesehen. Was er allerdings auch sagte: «Mich beunruhigt, dass alles passieren kann.»

Dass die Russen sich auf den Besuch eines IAEO-Vertreters gut vorbereiteten, sei klar, erklärt Olena Pareniuk. «Weil die IAEO keine Macht hat, versucht sie es mit Diplomatie, während sich Russland nicht an die Regeln hält.» Zwar sei das AKW, das vor dem Krieg laut der Forscherin ein Viertel des Landes mit Strom versorgte, mittlerweile vom Netz genommen worden. Doch solange in der Gegend Kampfhandlungen stattfänden, bestehe die Gefahr, dass es zu einem Zwischenfall komme.

Taschen für den Notfall gepackt

Dass von den eigentlich 11 000 Mitarbeiter:innen, die für eine ordnungsgemässe Wartung der Anlage sorgen sollten, derzeit nur noch rund 3000 vor Ort seien und diese unter grossem Stress und russischer Besatzung arbeiten müssten, trage ebenfalls nicht gerade zur Entspannung der Lage bei, erklärt die Expertin. «Je nach Ausmass eines Unfalls könnte die Gesundheit der in der Umgebung lebenden Menschen betroffen sein oder das Wasser des Dnipro verseucht werden, das dann wiederum ungehindert ins Schwarze Meer gelangen würde, da der Kachowka-Staudamm zerstört wurde», sagt Pareniuk.

Laut offiziellen Angaben existiert mittlerweile für jedes Kernkraftwerk, das sich auf dem Territorium der Ukraine befindet, ein Notfallplan. Ausserdem werden Übungen mit Vertreter:innen des staatlichen Notfalldiensts der Ukraine, des Gesundheitswesens, des Zivilschutzes und des Militärs durchgeführt. Das Gesundheitsministerium versucht, die Bevölkerung indes zu beruhigen – und erklärt auf Social Media etwa, dass die Bewohner:innen der potenziellen Strahlenunfallzone im Fall eines Anschlags auf das Kernkraftwerk Saporischschja evakuiert würden.

Weiter heisst es in der Erklärung, dass die Menschen in dem Gebiet die wichtigsten Dokumente, Gesichtsmasken und Kleidung zum Wechseln parat halten und ihre Notfalltaschen am besten mit Frischhaltefolie oder Klebeband umwickeln sollen. Das erleichtere die Dekontaminierung. Die Nachfragen, die über die entsprechende Hotline des Ministeriums reinkämen, würden trotz dieser Informationen nicht abreissen, sagt der stellvertretende Gesundheitsminister Ihor Kuzin im Gespräch.

Die Berichte würden bei den Menschen natürlich Angst auslösen, sagt Kuzin. «Das Ganze führt dazu, dass sie nervös werden und Schlafstörungen auftreten.» Und der Stress, den die verschiedenen Bedrohungsszenarien hervorrufen würden, trage zu einer allgemeinen Verschlechterung der mentalen Gesundheit der Bevölkerung bei. Bei vielen wecke die derzeitige angespannte Lage Erinnerungen an die Zeit nach der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986. «Wegen Tschernobyl nehmen die Menschen die Bedrohung durch Strahlung viel intensiver wahr», so Kuzin. «Das alles führt höchstwahrscheinlich dazu, dass posttraumatische Belastungsstörungen bei den Bewohner:innen des potenziell gefährdeten Gebiets in Zukunft häufiger auftreten werden.»

Fast jede Nacht unter Beschuss

Kseniia Perynska, die junge Mutter in Saporischschja, beschreibt die Stimmung vor Ort als «angespannt». Die Menschen seien stiller als sonst, wirkten deprimiert. «Manche haben Angst, andere sagen, dass schon nichts passieren wird. Ich selbst bin es einfach leid, vor diesem Krieg wegzulaufen.» Im Alltag versuche sie, nicht an das AKW zu denken, sagt Perynska. Probleme habe sie bereits genug. Den ganzen Mai und Juni über sei die Stadt beinahe jede Nacht beschossen worden, weshalb sie meistens nicht mehr als drei Stunden geschlafen habe.

Weil es in dem Haus, in dem ihre Wohnung liegt, keinen Schutzraum gibt, verbringt die Familie die meisten Nächte im Gang. «Ich versuche, Nazar abends so früh wie möglich ins Bett zu bringen, damit er zumindest etwas Schlaf bekommt, bevor der Beschuss beginnt», sagt Perynska, die im Homeoffice für eine IT-Outsourcing-Firma arbeitet. Für das finanzielle Einkommen der Familie ist sie mittlerweile allein verantwortlich, weil ihr Mann seinen Job bei einem Logistikunternehmen verloren hat. «Immerhin kann er sich jetzt um das Kind kümmern», erklärt sie. Denn die Kindergärten in der Stadt sind schon lange nicht mehr geöffnet.

Nato-Gipfel in Litauen : Im Zeichen von Putins Krieg

Wird die Ukraine bald in die Nato aufgenommen? Das war die grosse Frage im Vorfeld des Nato-Gipfels, der diesen Dienstag und Mittwoch über die Bühne ging. Zwar war auch dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski klar, dass er im litauischen Vilnius nicht die Aufnahme der Ukraine erwarten konnte. Doch dem Land wurde bereits 2008 der Beitritt in Aussicht gestellt; seither hat Wladimir Putins Regime die Krim annektiert und die Ukraine überfallen. Selenski hoffte deshalb, dass er zumindest einen Zeitplan erhalten würde.

Insbesondere die USA und Deutschland bremsen jedoch. Sie befürchten, direkt in den Krieg hineingezogen zu werden, wenn die Ukraine zu schnell in die Nato integriert wird. Zwar stellt das Militärbündnis der Ukraine in einem Communiqué den Beitritt in Aussicht, doch einen Zeitplan gibt es nicht. Das sei für Russland «eine Motivation, seinen Terror fortzuführen», kritisierte Selenski. Allerdings sichert das Bündnis seinem Land – zusätzlich zu bilateralen Militärhilfen – jährlich weitere 500 Millionen Euro unter anderem zur Ausbildung von Soldat:innen zu; zudem wird ein neuer Nato-Ukraine-Rat geschaffen, um gemeinsam Sicherheitsfragen zu beraten.

Der Nato beitreten kann nach Finnland im April nun auch Schweden. Es ist die erste Erweiterung des Bündnisses um grössere Länder seit 2004, als unter anderem Bulgarien, Rumänien und die baltischen Staaten zur Nato stiessen; seither waren nur kleinere Länder wie Nordmazedonien oder Montenegro hinzugekommen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte den Beitritt Schwedens über Monate blockiert – dies auch, um vor den Wahlen den starken Aussenpolitiker zu spielen. Kurz vor dem Nato-Gipfel hatte er für sein Einlenken die Wiederaufnahme von Gesprächen für den Beitritt der Türkei zur EU gefordert – erfolglos.

Immerhin erhielt er ein Versprechen der EU, die Beziehungen wieder aufzufrischen, und US-Präsident Joe Biden kündigte an, sich für den Verkauf von F-16-Kampfjets an die Türkei einsetzen zu wollen, der im US-Kongress blockiert ist. Weiter hat die schwedische Regierung versprochen, härter gegen Anhänger:innen der kurdischen PKK im Land vorzugehen. Bereits kurz vor dem Nato-Gipfel hatte Schwedens oberstes Gericht erstmals erlaubt, einen Kurden an die Türkei auszuliefern, der mit der prokurdischen Partei HDP sympathisiert.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat wohl recht, wenn er sagt, dass Putins Angriffskrieg zu nur noch «mehr Nato» geführt habe.  Yves Wegelin