AHV, Löhne, Mieten: Pst, bitte nicht zu laut!

Nr. 31 –

Kaum je tobte in der Schweiz ein so harter Verteilungskampf um den Reichtum des Landes. Kurz vor den Wahlen haben viele Parteien aber grosses Interesse daran, dass er nicht allzu viel Aufmerksamkeit bekommt.

Preisüberwacher Stefan Meierhans warnt vor einer «Gierflation», die die Unternehmen verursachen würden. Aber hört ihm jemand zu?
Preisüberwacher Stefan Meierhans warnt vor einer «Gierflation», die die Unternehmen verursachen würden. Aber hört ihm jemand zu? Foto: Peter Klaunzer, Keystone


Steigende Mieten, Krankenkassenprämien und Zinsen; AHV-Kürzungen, Sparpakete, Inflation: Auch in der Schweiz erleben viele Menschen eine herausfordernde Zeit. Was in der Debatte über all die Fragen untergeht: Sie sind alle Teil eines grösseren Kampfes um die Verteilung des wirtschaftlichen Kuchens, der so hart geführt wird wie kaum je zuvor.

Insbesondere Politiker:innen von FDP und SVP, aber auch anderer Parteien haben überhaupt kein Interesse daran, dass der Verteilungskampf zu offen verhandelt wird. In gut zwei Monaten sind Wahlen. Und würden die Schweizer:innen ausschliesslich ihren wirtschaftspolitischen Überzeugungen folgen, würde das Parlament einen gewaltigen Rutsch nach links erleben.

Die Wähler:innen stehen im Schnitt nämlich links der bürgerlichen Parteien. Seit 2017 wurden sämtliche Steuersenkungen für Konzerne im ersten Anlauf abgelehnt; die Konzernverantwortungsinitiative scheiterte nur am Ständemehr; nach der kürzlichen Rettung der Credit Suisse hat sich auch eine grosse Mehrheit der Bevölkerung in einer GfS-Umfrage für eine striktere Bankenregulierung ausgesprochen, die die Parlamentsmehrheit bis jetzt blockiert. Laut einer aktuellen Umfrage für Tamedia sind zudem 68 Prozent für die Gewerkschaftsinitiative zugunsten einer 13. AHV-Rente. Die Initiative der Jungfreisinnigen für ein höheres Rentenalter wird hingegen mit 67 Prozent abgelehnt.

Je näher der Wahltermin rückt, desto mehr werden die SVP und ihre Sprachrohre in einigen Redaktionen versuchen, die Migration als dominierendes Thema zu platzieren. Damit sie bloss nicht für ihre Positionen zur AHV, zu den Löhnen oder zur Credit Suisse hinstehen müssen.

Die imaginäre Lohn-Preis-Spirale

Der Verteilungskampf zeigt sich als Erstes bei den Löhnen, die letztes Jahr real – also nach Abzug der Teuerung – um 1,9 Prozent gesunken sind; das Jahr zuvor um 0,8 Prozent. Als die Gewerkschaftsdachverbände SGB und Travail Suisse letzten Herbst entsprechende Lohnerhöhungen forderten, warnten der Wirtschaftsverband Swissmem oder die SVP-Parlamentarier Thomas Matter und Thomas Aeschi auf einmal laut vor der Gefahr einer sogenannten Lohn-Preis-Spirale – demnach würden hohe Reallohnerhöhungen die Inflation noch weiter anheizen.

Und so stiegen die Löhne am Ende für dieses Jahr um lediglich 2,4 Prozent. Selbst wenn dies angesichts der derzeit sinkenden Inflation übers aktuelle Jahr gesehen zu einer ganz minimen Reallohnerhöhung führen sollte: Den Verlust der letzten beiden Jahre macht das lange nicht wett. Trotzdem behauptet FDP-Präsident Thierry Burkart vor den nun erneut anstehenden Lohnverhandlungen gegenüber «Watson», die Inflation sei unter anderem das Resultat einer Lohn-Preis-Spirale; dabei sieht die Europäische Zentralbank (EZB) auch für das restliche Europa nicht die geringsten Anzeichen dafür. Burkarts Behauptung steht fern jeglicher ökonomischer Fakten.

Mitten in dieser Zeit sinkender Reallöhne und steigender Krankenkassenprämien stimmte zudem das Parlament einem Vorstoss von Erich Ettlin (Mitte) zu, der die Mindestlöhne aushebeln will, die Grenzkantone wie Neuenburg oder Basel-Stadt eingeführt haben – und dies, obwohl der Bundesrat das Anliegen für verfassungswidrig hält, da es in die Kompetenz der Kantone eingreife. FDP, SVP und eine Mehrheit der Mitte-Partei wollen, dass Gesamtarbeitsverträge, die tiefere Löhne vorsehen, den Mindestlöhnen vorgehen.

Der SGB und Travail Suisse rufen nun für den 16. September zu einer «Lohn-Demo» nach Bern. SGB-Chefökonom Daniel Lampart forderte kurz vor der Sommerpause für das Jahr 2024 Lohnerhöhungen in der Grössenordnung von 5 Prozent – um die Inflation zu kompensieren, die Löhne real zu erhöhen und um die Verluste der letzten Jahre wettzumachen.

Preisüberwacher spricht an Wände

Während die Löhne sinken, konnten dagegen etliche grosse Unternehmen ihre Gewinne steigern. Die Verwerfungen seit Corona und Putins Krieg gegen die Ukraine haben es marktmächtigen Firmen erlaubt, die Preise zu steigern, ohne von anderen konkurrenziert zu werden. Hier liegt auch der Hauptgrund für die Inflation, wie kürzlich EZB-Chefin Christine Lagarde einräumte. Die höheren Gewinne seien 2022 für zwei Drittel der Steigerung der Inflation in Europa verantwortlich gewesen. Wie die WOZ anhand offizieller Zahlen berechnet hat, gilt das Gleiche für die Preisanstiege hiesiger Produkte (siehe WOZ Nr. 11/23). Vor wenigen Tagen hat nun auch der Preisüberwacher Stefan Meierhans grosse Unternehmen für die höheren Margen kritisiert. Dass bisher kaum darauf reagiert wurde, sei «bedenklich», so Meierhans im «SonntagsBlick». «Die Gierflation wird ermöglicht, weil wir wegschauen.»

Eine Steuer auf Übergewinne, wie sie etwa die rechte britische Regierung für Öl- und Gaskonzerne eingeführt hat, wird jedoch von Mitte-Partei, FDP und SVP blockiert: Sie haben eben einen entsprechenden Vorstoss von Balthasar Glättli (Grüne) gegen den Willen von SP, Grünen und GLP in der Wirtschaftskommission des Nationalrats verworfen. Die bürgerlichen Parteien wollen stattdessen die Rohstoffhändler wie Glencore weiter entlasten – obwohl diese seit dem Krieg absolute Rekordprofite verzeichnen: Die drei Parteien haben im Nationalrat kürzlich einer Tonnagesteuer zugestimmt, dank der Rohstoffhandelsfirmen künftig noch rund 7 Prozent Steuern zahlen müssten (vgl. «Alles für eine Flotte unter starker Flagge»).

Die Rechte überlässt die Bekämpfung der Inflation stattdessen der Nationalbank (SNB), die mit Zinserhöhungen die Umverteilung nach oben weiter anheizt. Dank ihnen konnten die Banken ihre Gewinne deutlich steigern, wie SNB-Vize Martin Schlegel kürzlich vor den Medien festhielt. Kein Wunder, riefen all die Bank-Ökonom:innen, die in den letzten Monaten als Expert:innen befragt wurden, nach höheren Zinsen. Zwar gelang es der Nationalbank, die Inflation zu senken, indem sie den Franken stärkte, was Importe billiger machte. Allerdings bremst sie auch die Konjunktur, was auf die Löhne drücken wird.

Vor allem werden die Zinssteigerungen die Mieten weiter in die Höhe treiben: Die Konjunkturforschungsstelle der ETH (Kof) schätzt, dass die Inflation 2024 zur Hälfte aus höheren Mieten bestehen wird. Gegen die steigenden Mietzinsen wollen SVP, FDP und Mitte-Partei auch nichts tun: Die drei Parteien haben eine Forderung von SP-Nationalrätin Jacqueline Badran nach einer öffentlichen Kontrolle der Mietzinse versenkt; diese wären eigentlich per Verfassung gedeckelt, viele Vermieter:innen kümmert das jedoch nicht.

SVP fördert Zuwanderung

Schliesslich zeigt sich der Verteilungskampf auch bei den Renten: Ein Kompromiss der Gewerkschaften und Arbeitgeber zur Reform der Berufsvorsorge wurde zugunsten der Versicherer zerzaust. Wie die beiden AHV-Initiativen kommt auch sie nach den Wahlen an die Urne. Die Gewerkschaftsinitiative für eine 13. AHV-Rente wurde im Parlament abgelehnt – nur zwei Tage bevor Bundesrat und Nationalbank die Credit Suisse mit Krediten und Garantien von 259 Milliarden Franken retteten. Zu teuer, nicht finanzierbar, so die Voten im Rat – genau wie die Anpassung der Renten an die Teuerung, die kurz zuvor abgelehnt wurde.

Zum Vergleich: Die jährlich 4 Milliarden Franken, die eine 13. Rente bei Inkrafttreten kosten würde, sind ein Fünftel dessen, was allein die 300 Reichsten jedes Jahr im Schnitt dazugewinnen; oder gerade mal gut 4 Prozent der rund 90 Milliarden, die jährlich fast steuerfrei vererbt werden.

Die Ironie am Ganzen: Die kapitalfreundliche Politik, die die SVP zuvorderst vorantreibt, ist die Hauptursache für die Zuwanderung, gegen die sie schimpft. Sie ist der Grund, warum die Schweiz nach Luxemburg, Holland und Irland weltweit am meisten Direktinvestitionen anlockt. Die Summe beträgt 128 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP). Kurz: Die Schweiz zieht aus der ganzen Welt Unmengen von Investitionen an. Und die Arbeitskräfte ziehen dorthin, wo durch Investitionen Arbeitsplätze entstehen.

Warum die SVP dennoch seit Jahren behaupten kann, sie sei gegen Zuwanderung? Weil der offensichtliche Fakt, dass die Arbeitskräfte den Investitionen folgen, ihr von den meisten Medien nie entgegengehalten wird. Es wäre höchste Zeit, dies vor den bevorstehenden Wahlen zu ändern.