Alltag im Libanon: Leben im stetigen Abstieg

Nr. 33 –

Gerichte ohne Papier, Spitäler mit zu wenig Ärzt:innen: Infolge der Wirtschaftskrise ist der Staat im Libanon beinahe vollständig kollabiert, und der frühere Mittelstand droht in Armut zu versinken.

Rafik-Hariri-Spital in Beirut
Am Rafik-Hariri-Spital in Beirut arbeiten statt 300 nur noch weniger als 100 Ärzt:innen.

Auf den ersten Blick deutet nichts darauf hin, wie prekär ihr Leben geworden ist. Rana Chahrur und Hussein Dirani, seit neun Jahren verheiratet, zwei Söhne, sitzen nebeneinander auf einem der Sofas im geräumigen Wohnzimmer. Die gepflegten Möbel, die die beiden nach ihrer Hochzeit in Beirut kauften, vermitteln noch immer den Eindruck der Beständigkeit, die sie bis vor wenigen Jahren für selbstverständlich hielten.

Als ob ihr altes Leben in dem Raum eingefroren wäre. Hussein Dirani arbeitete bei der Polizei, sein Lohn war gut genug, um die Familie zu ernähren. Sie waren kranken- und rentenversichert, die Kinder erhielten Stipendien für Privatschulen und sollten dereinst an den besten Universitäten des Landes studieren können.

Als ob die beiden versuchten, die neue Realität fernzuhalten, die vor bald vier Jahren den Libanon erfasst und unwiderruflich verändert hat. Sie begann im Herbst 2019 mit einem Finanzkollaps. Zwei Jahre später sprach die Weltbank von einer der schwersten Wirtschaftskrisen der modernen Geschichte: die Banken zahlungsunfähig, der Staat faktisch bankrott. Das libanesische Pfund verlor über neunzig Prozent seines Wertes, und ein Grossteil der Menschen stürzten in die Armut. Leute wie Hussein Dirani und Rana Chahrur.

Damals, am Anfang der Krise, sei der ältere der beiden Söhne zu ihnen gekommen. Die Nachbarn hätten gesagt, dass der US-Dollar teurer geworden sei, habe der damals Vierjährige erzählt, und dass er nicht mehr in den Supermarkt wolle, weil alles mehr koste. «Wir haben ihm geantwortet, dass er sich keine Sorgen machen soll, dass wir genug Geld hätten», sagt Dirani. «Wir wollen nicht, dass unsere Kinder spüren, dass es eine Krise gibt.»

Das halbe Dorf im öffentlichen Dienst

Sie wollen die Kinder abschirmen vor der Wahrheit, dass die Krise auch ihre Familie mit voller Wucht trifft. Die Familie lebt in einem kleinen Dorf, umgeben von Feldern, in der libanesischen Bekaa-Hochebene, rund zwei Stunden Fahrt von der Hauptstadt Beirut entfernt. Fast die Hälfte der Bewohner:innen, viele davon Hussein Diranis Verwandte, sind im öffentlichen Dienst tätig, vorwiegend als Soldat:innen oder Lehrer:innen. Das ist typisch für eine ländliche Gegend wie diese: Weit weg von den urbanen Zentren an der Küste sind Arbeitsmöglichkeiten rar. Was bleibt, ist die Landwirtschaft – oder der Staat.

Verbarrikadiertes Hauptgebäude der Zentralbank in Beirut
Die libanesischen Banken sind zahlungsunfähig, der Staat faktisch bankrott: Verbarrikadiertes Hauptgebäude der Zentralbank in Beirut.

Sucht man nach den Wurzeln der Wirtschaftskrise im Libanon, landet man irgendwann beim politischen System: Mittels Quoten sollte die politische Teilhabe der verschiedenen Konfessionen im Land sichergestellt werden. Doch stattdessen konzentrierte sich die Macht in den Händen der rund ein halbes Dutzend etablierten Parteien, die sich während des Bürgerkriegs zwischen 1975 und 1990 bekämpften und seit dessen Ende zusammen regieren. Das System förderte Vetternwirtschaft und Korruption und ermöglichte der herrschenden Elite, das Land auf Kosten der Gesellschaft auszubeuten.

Der Staat, bei dem vor der Krise rund 300 000 Menschen angestellt waren, war ein wesentliches Instrument für den Machterhalt dieser Elite, die ihren Anhänger:innen Jobs in der Verwaltung beschaffen konnte. Eine Beschäftigungsmaschine, die gleichzeitig daran scheiterte, wesentliche Dienstleistungen wie eine durchgehende Strom- oder Wasserversorgung bereitzustellen.

Stattdessen sprangen private Betreiber:innen von Generatoren in die Bresche; wer konnte, schickte seine Kinder auf Privatschulen, die als besser als die staatlichen galten.

Doch zumindest bot der Staat als Arbeitgeber ein Minimum an Stabilität in einem Land, das keine universelle Kranken- oder Rentenversicherung kannte, dessen Gesellschaft entlang konfessioneller Gräben gespalten war, dessen Wirtschaft kaum reguliert und in dem die Arbeiter:innen in der Privatwirtschaft rechtlich schlecht geschützt waren. 300 000 Menschen und ihre Familien wussten, dass sie im Krankheitsfall behandelt würden. Es war möglich, an eine Zukunft zu denken – und sie sogar zu planen.

Dieses System ist nun mit der Krise kollabiert. Die Inflation frass die Löhne der Angestellten auf, bis der Monatslohn weniger wert war als der Preis für Benzin, das viele Angestellten für den Arbeitsweg brauchten. Manche gingen kollektiv in den Streik, um eine Erhöhung ihrer Löhne zu fordern, sodass ganze Ministerien, Schulen, Gerichte während Wochen geschlossen blieben. Andere gingen schlicht nicht mehr zur Arbeit.

Was passiert, wenn der Staat kollabiert? Wie überlebt eine Familie, wenn sie ihr Einkommen und ihre Absicherungen verliert? Und was bindet eine Gesellschaft, wenn die Klammer wegfällt, die sie zusammenhalten sollte?

Vom Haus seiner Familie in der weiten Bekaa-Ebene fährt Dirani zweimal die Woche Richtung Süden. Früher arbeitete er jeden Tag, doch wie in vielen anderen Ministerien wurden auch bei der Polizei die Arbeitstage der Angestellten reduziert. Dirani ist nicht sein richtiger Name, denn eigentlich ist er nicht befugt, über seine Arbeit zu sprechen. Vor der Krise stand er 90 Polizist:innen vor – heute sind es noch 26. Die anderen haben aufgehört. Von zehn Autos seien nur noch zwei einsatzfähig, der Abteilung fehlt das Geld für Wartung und Reparaturen.

Damit ist die Polizei kaum noch einsatzfähig. «Wenn ein Notruf kommt, etwa, weil der Nachbar auf dem Balkongeländer steht und runterspringen will, nehmen wir die Daten auf», sagt er. «Und dann rufen wir die Armee an, damit sie ausrückt.» Bei Notfällen, in denen es um häusliche Gewalt geht, würden sie den Anrufer:innen raten, sich bei einer NGO zu melden, die auf das Thema spezialisiert sei.

Rückten sie doch selbst aus, dann in reduzierter Zahl. Wenn es Streit gebe, würden sie nicht wie früher zu zwölft in drei Autos losfahren, sondern zu viert in einem Auto. Wenn viele Leute am Konflikt beteiligt seien, könne die Polizei nur danebenstehen, sagt Dirani. «Wir versuchen, die Gemeinde oder die politischen Parteien zu kontaktieren, damit sie das Problem lösen können. Wir können Diplomaten sein, aber keine Polizisten.»

Was Dirani von seinem Alltag erzählt, ist nur ein kleiner Einblick in die Realität eines Staatskollapses, den in diesem Ausmass sonst nur Kriege oder gewaltsame Konflikte auslösen. Das Kulturministerium übergab das ganze öffentliche Kinofilmarchiv einer NGO – weil die Behörde nicht mehr über die Mittel verfügt, diesen Schatz zu pflegen. Soldaten, die bei der Armee angestellt sind, arbeiten nebenher als private Sicherheitsmänner – weil sie die Lizenz besitzen, eine Waffe zu tragen.

Um 15 Uhr geht das Licht aus

Im Justizpalast in der Hauptstadt Beirut sitzt Richter Faysal Makki hinter einem Stapel von Mappen, die er heute bearbeiten muss. Es ist Mittag, noch ist sein Büro beleuchtet. Um drei aber wird der Strom abgestellt – dann arbeitet er entweder im Licht seiner Handytaschenlampe weiter oder geht nach Hause.

Faysal Makki
Faysal Makki ist Richter in Beirut. Strom für die Server gibt es nicht, und für neue Gerichtsakten fehlt oft das Papier.

Das Gericht arbeitet analog. Die EU habe zwar ein Projekt zur Digitalisierung der libanesischen Gerichte finanziert und dafür Server installiert, erzählt Makki. Doch die seien heute ausgeschaltet – weil sie nicht durchgehend mit Strom versorgt werden könnten. In seiner Abteilung hätten sie zumindest das Glück, dass ihr Archiv dank einer Spende von USAID mit Rollregalen ausgestattet sei. «In anderen Abteilungen liegen die Dossiers einfach am Boden», sagt Makki. Die Toilette habe kein Wasser – das sei schon vor der Krise so gewesen, denn weniger als ein Prozent des staatlichen Budgets sei ins Justizministerium geflossen.

Heute aber gehe dem Gericht selbst das Geld für Papier aus. Nur dank der Spende eines Anwaltsbüros habe der Justizpalast in Beirut heute wieder Papier. In der Stadt Sidon habe eine Privatperson, deren Fall hängig gewesen sei, dem Gericht Solarzellen gespendet.

Zwar war Korruption im Libanon schon vor 2019 verbreitet. Mit der Krise jedoch, seit die Ministerien teilweise geschlossen sind, hat sie noch einmal stark zugenommen. Gleiche Rechte für alle sicherzustellen und Zugang zu den Gerichten für alle Bürger:innen, um für ihr Recht zu kämpfen – dies gehört zu den Kernaufgaben eines funktionierenden Staates. Je ausgehöhlter er ist, desto mehr vertieft sich der Keil zwischen jenen, die sich Recht und Privilegien erkaufen können, und der grossen Mehrheit, die nicht nur mittel-, sondern zunehmend auch rechtlos wird.

Ein paar Kilometer südlich des Justizpalasts sitzt Dschihad Saade in seinem Büro des Rafik-Hariri-Krankenhauses, des grössten öffentlichen Spitals im Libanon. Saade ist der Direktor. Als das Spital 2004 eröffnet wurde, habe es zu den besten des Landes, ja der ganzen Region gehört, sagt er. Heute jedoch befinde es sich am Rand des Konkurses.

Dschihad Saade
Dschihad Saade verdient als Direktor des grössten öffentlichen Spitals des Landes noch 400 US-Dollar pro Monat.

Saade verdient als Direktor noch rund 400 Dollar pro Monat. Weil das nicht reicht, arbeitet er nebenher als Arzt in einem der privaten Spitäler Beiruts. Im Libanon ist ein Grossteil der Gesundheitsversorgung privatisiert. Wer eine Krankenversicherung hat, geht zur Behandlung in ein privates Spital. Ins öffentliche kommen jene, die nicht versichert sind und sich die teure Behandlung nicht leisten können – für sie bezahlt das Gesundheitsministerium einen Grossteil der Rechnung. Das Rafik-Hariri-Spital im Süden Beiruts ist das Rückgrat der Gesundheitsversorgung im Libanon: Es nimmt alle auf und konnte zumindest vor der Krise fast alle Krankheiten und Verletzungen behandeln.

Rafik-Hariri-Spital
Das Rafik-Hariri-Spital nimmt auch Patient:innen auf, die keine Krankenversicherung haben. Allerdings sind viele Behandlungen heute nicht mehr möglich, weil Personal und Mittel fehlen.

Statt 300 Ärzt:innen wie vor der Krise beschäftigt das Spital heute weniger als 100. Manche Operationen könnten nicht mehr durchgeführt werden, weil die Spezialist:innen aufgehört hätten oder die dazu nötigen Geräte nicht mehr funktionierten und das Geld fehle, um sie zu ersetzen, erzählt Saade. Vor der Krise hätten sie etwa drei oder vier Patient:innen pro Tag am offenen Herzen operiert. «Heute geht, wer es sich leisten kann, in ein privates Spital. Wer es sich nicht leisten kann, geht zurück nach Hause.» Saade macht eine Pause. Dann fügt er an: «Du kannst dir vorstellen, was dann passiert.»

Der ausradierte Mittelstand

Hussein Dirani, der Polizeivorsteher, erhält heute umgerechnet rund 100 Dollar für seine Arbeit. Ein Lohn, der bei weitem nicht reicht, um eine Familie mit zwei Kindern zu ernähren. Inzwischen ist es seine Frau Rana Chahrur, die den grössten Teil des Einkommens der Familie verdient. Im ersten Jahr der Krise lebte die Familie von den Ersparnissen, sie verkaufte das Gold, das Dirani seiner Frau zur Hochzeit geschenkt hatte. Im zweiten Jahr erhielt sie Unterstützung von Chahrurs Schwester, die damals bei einer NGO arbeitete. Dass Chahrur selber vor anderthalb Jahren einen Job bei einer NGO gefunden hat und ihr Lohn in US-Dollar ausbezahlt wird, war Glück: Viele dieser Stellen gibt es nicht in der Gegend, wo die beiden leben.

Seither kann sich die Familie zumindest auf ein stabiles Einkommen verlassen. Auch wenn es nicht annähernd so hoch ist wie jenes, das Dirani früher hatte. «Wenn ich meinen Kindern ein neues Fahrrad kaufen will, muss ich zweimal darüber nachdenken, ob wir uns das wirklich leisten können», sagt Chahrur. Sie kaufen weniger Kleider, und wenn, dann Billigware statt Markenartikel. Sie passen noch besser auf, dass die Kinder sich beim Spielen nicht verletzen und womöglich einen Arm oder ein Bein brechen. Sie wissen: Eine Arztrechnung von mehreren Tausend Dollar werden sie kaum bezahlen können.

Es ist der Mittelstand, den die Krise ausradiert hat: die Angestellten, die bis 2019 ein stabiles Einkommen und einen festen Arbeitsvertrag mit Sozialleistungen hatten. Vor allem jene, die beim Staat arbeiteten – denn es waren gerade die guten Sozialleistungen, die eine Anstellung im aufgeblähten Staatsapparat für viele erstrebenswert machten.

Wenn ihre Löhne einbrechen und Sicherheitsnetze wegfallen, wenn sie ihre Ersparnisse aufgebraucht haben, suchen die Menschen anderswo nach einer Stütze. Sie finden sie etwa innerhalb der Familie: Wer einen Job hat, dessen Lohn in Dollar ausbezahlt wird, oder wer im Ausland lebt, unterstützt jene Familienmitglieder, deren Einkommen kaum noch etwas wert ist oder die gar nichts mehr verdienen.

2022 machten Geldsendungen von Libanes:innen aus dem Ausland fast vierzig Prozent des Bruttoinlandprodukts aus. Während solche Rücksendungen vor der Krise dazu dienten, Ausbildungen oder hohe Krankenhausrechnungen zu bezahlen, werden sie heute für Grundlegendes gebraucht: Essen, Miete, Stromrechnungen, wie das Entwicklungsprogramm der Uno in einem aktuellen Bericht schreibt. Sie ersetzen jenes soziale Sicherungssystem, das mit der Krise komplett verschwunden ist – und machen die Familie zur vielleicht essenziellsten Stütze innerhalb der Gesellschaft.

Wachsender Einfluss der Hisbollah

Anders als aus vielen anderen Gegenden des Libanon sind aus dem Teil der Bekaa-Ebene, in dem Dirani und Chahrur leben, in den vergangenen Jahrzehnten nur wenige ins Ausland ausgewandert. Wer hier im Dorf in Not gerät, wendet sich meist an eine andere Stelle: die Hisbollah.

Ihr Dorf ist eine Hochburg der schiitischen Partei, deren bewaffneten Arm die EU als Terrororganisation einstuft. Sie hat schon seit Jahren den Ruf, ein «Staat im Staat» zu sein; weil ihre Miliz das Gewaltmonopol des Staates untergräbt; weil sie ihre illegalen Geschäfte unter den Augen der Behörden abwickeln kann; und weil sie so viel Macht wie keine andere Gruppierung im Land hat, um politische Verbündete wie Gegner unter Druck zu setzen.

Chahrur und Dirani gehören zu den wenigen Leuten hier, die die Hisbollah nicht unterstützen, die sich weigern, ihre Söhne im Primarschulalter zum schiitischen Aschura-Fest ganz in Schwarz zu kleiden. Doch mit der Krise wurde es schwieriger, sich dem sozialen Druck zu entziehen. Der Einfluss der Partei in der Gemeinde ist gewachsen: Während sie früher Gefälligkeiten verteilte, indem sie den Menschen etwa Jobs bei der staatlichen Internetfirma Ogero verschaffte, stellt sie sie heute einfach direkt an – und zahlt ihnen einen Lohn in Dollar, so erzählt man sich. «Es gibt heute kaum eine Familie im Dorf, die nicht entweder ein Mitglied im Ausland oder bei der Hisbollah hat», sagt Dirani.

Wer bleibt, wenn alles wegfällt

Es ist nicht nur die Hisbollah, die ihre alternativen Netzwerke ausgebaut hat, auch andere politische Parteien profitieren vom Zerfall des Staates. Die Stadt Aley liegt in den Bergen, auf dem Weg von der Bekaa-Ebene hinunter in die Hauptstadt Beirut. Amin Dschubran – auch er will seinen richtigen Namen für sich behalten – sitzt in seinem verrauchten Café, das er vor acht Monaten eröffnet hat.

Dschubran ist in Aley aufgewachsen, hat in Beirut studiert und in den letzten Jahren für verschiedene NGOs und politische Initiativen gearbeitet. Heute führt er ein Café, in dem alle Leute verkehren: sowohl jene, die vor vier Jahren wie er gegen das korrupte System der alteingesessenen Parteien rebellierten, wie auch Mitglieder der Progressiven Sozialistischen Partei, die in Aley dominiert.

«Natürlich sind die Parteien stärker geworden mit der Krise», sagt Dschubran. Die Leute seien von ihnen abhängig: Wenn jemand Geld für eine Behandlung im Krankenhaus brauche, übernähmen sie etwa einen Teil davon. Diese Veränderung sei organisch geschehen. «Du rufst die Polizei an, aber niemand antwortet. Du rufst die Gemeinde an, aber niemand antwortet. Wenn du die Partei anrufst, ist sie da», sagt er. Deswegen würden sich bei Problemen inzwischen mehr Menschen an Parteiabgeordnete wenden als an staatliche Institutionen.

Früher war Dschubran überzeugt, dass man das politische System einfach ersetzen könne. Daran glaubt er heute nicht mehr: Es sei keine Überraschung, dass die Parteien mit der Krise stärker geworden seien. «Wenn die Leute in Not sind, wenden sie sich von der Alternative ab und kehren zurück zum etablierten Netzwerk.» Denn das klientelistische Netz, das die politischen Parteien aufgebaut hätten, existiere nun schon seit über vierzig Jahren.

Die Krise warf die Menschen auf jene Strukturen zurück, die ihnen am nächsten stehen: jene politischen Parteien, die tief in die Gesellschaft integriert sind, und die eigenen Familien. Doch gleichzeitig führte der Wegfall des Staates zu einer Individualisierung der Gesellschaft. Die Frage, wie gut oder schlecht jemand durch die Krise kommt, hängt von der persönlichen Situation ab – und vom Zufall. Wie viel Geld verlor man in den libanesischen Banken? Wer hat Verwandte im Ausland, die einen unterstützen können? Lebt man in einer Gemeinde, deren Präsident:in Projekte vorantreibt, um die Häuser mit Solarzellen auszustatten – oder werden die Menschen ohne Strom alleingelassen?

In Kawsah, einem kleinen Dorf ganz im Süden des Libanon an der Grenze zu Israel, erhebt sich Cesar Risk von seinem Stuhl draussen auf der Terrasse. «Der Strom ist gekommen», sagt der fast siebzigjährige Mann. «Das müssen wir ausnutzen.» Er geht ins Haus, um sein Telefon, die Powerbank und die batteriebetriebene Lampe aufzuladen. Seit dem Ausbruch der Krise fliesst in seinem Dorf, wie fast überall im Libanon, der staatliche Strom noch während vielleicht zweier Stunden am Tag. An diesem Tag werden es drei sein: Es ist islamisches Opferfest, zur Feier des Tages gibt es länger Strom.

Cesar Risk ist der Muchtar im Dorf, der Ortsvorsteher. Während sich die politische Gemeinde um die Infrastruktur wie etwa den Unterhalt der Strassen kümmert, gehen die Leute zum Muchtar, wenn sie Papiere vom Staat benötigen: wenn sie ein Neugeborenes anmelden oder ihre Hochzeit registrieren wollen. Der Muchtar ist im Libanon zwar vom Staat angestellt, erhält aber keinen Lohn, sondern lebt von den Gebühren, die er auf die Dienstleistungen erhebt.

Davon kann Risk nicht annähernd leben. Vor der Krise lebten in seinem Dorf 450 Menschen, heute sind es noch 150. Und viele von ihnen haben selbst kaum Geld – sodass Risk ihnen manchmal die Gebühren erlässt. Er überlebt dank seiner Söhne, die ihm und seiner Frau monatlich Geld geben.

Doch selbst mit der Unterstützung innerhalb der Familie reicht es nicht für viel. Der Stromgenerator im Dorf steht still, weil sich die wenigen Bewohner:innen den Diesel dafür auch gemeinsam nicht leisten können. So lebt Risk mit zwei Stunden Strom am Tag, ohne Kühlschrank. Wasser fliesst nur alle zwei Wochen aus der Leitung – dann wird der Tank gefüllt, der auf dem Dach steht. Wenn er leer ist, kann Risk weder duschen noch die Toilette spülen. Ausser er kauft Wasser in Plastikkanistern. Die Lastwagen, die die Tanks gegen Geld auffüllen, kommen nicht zu ihm ins Dorf. Zu abgelegen.

Risk bleibt dennoch in seinem Dorf und auf seinem Posten, weil er sich seiner Gemeinde verpflichtet fühlt. Es sind Leute wie er, die versuchen, das zusammenhalten, was vom Staat noch übrig geblieben ist.

Auch der Polizist Hussein Dirani bleibt nicht zuletzt wegen seines Verantwortungsgefühls gegenüber seinem Land im Dienst. Neben seiner Arbeit hat er aber ein Ingenieurstudium an der Universität begonnen – damit er, so die Hoffnung, im Ausland einfacher eine Stelle finden wird. Denn langfristig sehen Dirani und seine Frau Chahrur für die Zukunft ihrer Familie nur einen Weg: die Migration ins Ausland.

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