Gesundheitskosten: Die Ärztin muss man sich leisten können

Nr. 35 –

Die Finanzierung des Gesundheitssystems gerät an den Anschlag. Es braucht ein neues Modell.

In einem Punkt hat Natalie Rickli (SVP) recht: Das heutige Finanzierungssystem des Gesundheitswesens ist ungenügend. Die Gesundheitskosten steigen stetig an und damit auch die Belastung der breiten Bevölkerung. Doch die Schlussfolgerung, die die Gesundheitsdirektorin des Kantons Zürichs daraus zieht, zeugt von bedenklicher Ideenlosigkeit: Es sei an der Zeit, «eine Abschaffung des Obligatoriums in Betracht» zu ziehen, sagte sie am Wochenende der «SonntagsZeitung».

Würde also heissen: Viele Junge, die sich als gesund einschätzen, würden während Jahren keine Prämien zahlen – während kranke und ältere Menschen, die absehbar bald pflegebedürftig werden, umso höhere zu zahlen hätten. Das Beispiel USA zeigt: Ein Gesundheitssystem, das nicht solidarisch von der Gesellschaft getragen ist, wird für grosse Teile aus den unteren Einkommensschichten zum Albtraum (vgl. «Angriff auf die Solidarität»).

Fort mit der Kopfprämie

Der Zeitpunkt von Ricklis prominent aufgemachtem Auftritt ist kein Zufall: Acht Wochen vor den eidgenössischen Wahlen stehen die Krankenkassenprämien laut einer aktuellen Umfrage zuoberst auf der Sorgenliste der Bevölkerung. Da muss man als Gesundheitspolitikerin ja irgendetwas sagen. Und wenn man schon vage bleibt, dann trotzdem so, dass es als Tabubruch ausgelegt wird und viel Aufmerksamkeit erregt.

Etwas konkreter beim Infragestellen des Solidaritätsprinzips war kürzlich der Zürcher FDP-Nationalrat Andri Silberschmidt. Sein Vorschlag: eine Art Budget-Krankenkasse, bei der nur noch das Allernötigste in der Grundversicherung enthalten wäre. Dass eine Umsetzung seiner Idee ebenfalls dazu führen würde, dass sich bei schweren Erkrankungen wohl nur noch reiche Menschen eine hinreichende Behandlung leisten könnten – darüber sagte er kein Wort.

Der Verdacht drängt sich auf: Die Rechte kann eigentlich nur mit absurden Vorschlägen kommen, wenn sie die Prämienzahler:innen entlasten will. Was sie offensichtlich aber scheut wie der Teufel das Weihwasser: eine Umverteilung bei der Finanzierung zugunsten der Einkommensschwächeren.

Wie das ginge? Recht einfach: mit der Abschaffung der unsozialen und weltweit fast einzigartigen Kopfprämie und der Einführung einer einkommensabhängigen Prämie; oder mit einer reinen Finanzierung durch den Staat und damit durch Steuern, die ja ebenfalls einkommensabhängig sind. Es könnte auch eine Mischform aus beiden Elementen sein.

Im Parlament hängig ist derzeit die Prämienentlastungsinitiative der SP, die – zumindest ansatzweise – in diese Richtung geht: Jeder Haushalt soll höchstens noch zehn Prozent des Einkommens für Krankenkassenprämien ausgeben müssen. Es handelt sich also nicht um einen Abschied von der Kopfprämie, aber immerhin um den Ausbau der Prämienverbilligungen, wie es sie schon heute gibt. Damit wäre die Finanzierung zumindest etwas sozialer, weil Leute mit höheren Einkommen mehr Steuern zahlen und so einen höheren Anteil an den Gesundheitskosten tragen würden. Bislang allerdings werden die Prämienverbilligungen von den Kantonen sehr unterschiedlich gehandhabt. So hat die Waadt die von der SP geforderten maximalen zehn Prozent des Einkommens für Prämienausgaben bereits 2019 eingeführt. Die meisten anderen Kantone sind wesentlich knausriger.

Einheitskasse als Lösung?

An ihrer Delegiertenversammlung vom vergangenen Wochenende hat die SP nun beschlossen, auch eine Initiative für eine Einheitskasse auszuarbeiten. 2014 ist sie damit in einer Volksabstimmung gescheitert. Wie weit die SP mit ihrem neuen Vorschlag gehen will, ist noch unklar. Das Grundprinzip aber steht mehr oder weniger fest: Alle Kantone (oder einzelne zusammen) hätten ihre öffentliche Kasse. Und: Die Gewinne dieser Kassen würden vollständig an die Versicherten zurückgezahlt.

Inwieweit das auch die Kosten des Gesundheitswesens senken könnte, ist offen. Wobei es zuerst einmal um eine sozialere Verteilung dieser Kosten gehen sollte, bevor an eine generelle «Kostenbremse» gedacht wird, wie sie die Mitte-Partei seit längerem mit ihrer gleichnamigen Initiative anstrebt. Solange die Politik nichts gegen die hohen Medikamentenpreise (vgl. «Ein Urteil gegen die Öffentlichkeit») und die Fehlanreize für hochdotierte Spezialist:innen unternimmt, sind Kostensenkungen problematisch. Im Pflegefachbereich etwa bräuchte es weit mehr Geld, um dem chronischen Fachkräftemangel entgegenzutreten. Ein Vorteil von kantonalen Einheitskassen wären aber sicher mehr Effizienz und tiefere Verwaltungskosten. Ausserdem würden die absurden Prämienunterschiede wegfallen, die es heute zwischen den verschiedenen Kassen für ein und dieselben Leistungen gibt.

Exorbitante Zusatzbelastungen

Was in der Fixierung auf die steigenden Prämien gern vergessen wird: Auch die Gesundheitskosten, die die Versicherten schon heute aus dem eigenen Sack zahlen müssen, sind deutlich gestiegen. Kaum irgendwo in Europa zahlen die Leute so viel selber wie in der Schweiz.

Das wirkt sich schon jetzt auf die Gesundheit aus: Gemäss Bundesamt für Statistik sind fast zwanzig Prozent der Bevölkerung nicht in der Lage, eine unerwartete Ausgabe in der Höhe von 2500 Franken zu stemmen. Das bedeutet: Wird eine Person krank, die – um die Prämienlast zu mildern – die höchste Franchise (2500 Franken) gewählt hat, ist ihr Zugang zu einer adäquaten Behandlung erschwert. Kürzlich gaben in einer Befragung des Umfrageinstituts Sotomo denn auch fast zwanzig Prozent der Befragten an, im letzten Jahr aus finanziellen Gründen auf einen Besuch bei der Ärztin verzichtet zu haben.

Nicht nur, dass man hierzulande je nach Franchise die ersten 300 bis 2500 Franken Behandlungskosten aus der eigenen Tasche zahlen muss: Dazu kommen auch noch der Selbstbehalt (mindestens zehn Prozent der Kosten) und die Tagespauschale im Spital. Und vor allem: Selbstzahlungen für Behandlungen, die hierzulande nicht in der Grundversicherung gedeckt sind. Wie etwa Zahnbehandlungen: Während in fast allen europäischen Staaten die Versicherung zumindest einen Teil der zahnmedizinischen Kosten übernimmt, muss in der Schweiz in diesem Bereich fast alles selber bezahlt werden – pro Jahr mittlerweile im Schnitt fast 450 Franken pro Person.

Auch für Arzneimittel zahlen Versicherte in der Schweiz insgesamt fast vier Milliarden Franken jährlich aus den eigenen Taschen. Alles zusammen kommen so gemäss Berechnungen des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds zu den mittleren Prämienausgaben von etwa jährlich 5000 Franken Selbstzahlungen von 2200 Franken pro Person hinzu.

All diese Zahlen zeigen: Um die Kostenlast für die unteren und mittleren Einkommen zu lindern, braucht es eine einkommensabhängige Finanzierung – sei es über ein progressives Steuersystem oder eine Lohnbeitragsfinanzierung. Zur Erinnerung: 1996, bei der Einführung des Krankenversicherungsgesetzes, stimmte die SP einer Kopfprämie zu – unter der Voraussetzung allerdings, dass die Prämien nicht mehr als acht Prozent des verfügbaren Haushaltseinkommens ausmachen dürfen. Inzwischen liegt die durchschnittliche Belastung bei über vierzehn Prozent. Es braucht sicher keine Abschaffung des Obligatoriums oder irgendwelche Lightversicherungen, sondern ein soziales Prämiensystem, wie es in den meisten Industriestaaten Realität ist.