Auf allen Kanälen: Das Knie auf dem Hals

Nr. 37 –

Berner Journalist:innen dokumentierten eine Szene von Polizeigewalt. Nun beschwert sich der Sicherheitsdirektor über die «Medienkampagne».

stilisiertes Abzeichen der Stadtpolizei Bern

Es ist selten, dass Polizist:innen für einen Diensteinsatz vor Gericht stehen – und noch seltener, dass es tatsächlich wegen unverhältnismässiger Gewaltanwendung zu einem Urteil kommt. Dass dies in Bern letzte Woche geschehen ist, hat mit einem Zufall zu tun: Am 11. Juni 2021 laufen Journalist:innen von «Berner Zeitung» («BZ») und «Bund» beim Bahnhof an eine Szene heran – ein Mann wird von der Polizei festgenommen. Den Journalist:innen kommt die Festnahme unverhältnismässig, gar brutal vor. Sie beobachten, fotografieren und schildern ihre Eindrücke am Tag darauf unter dem Titel «Verstörende Aktion der Berner Polizei». In der Folge dokumentieren «Bund» und «BZ» den Fall, bald auch am Gericht.

Kurz nach der Urteilsverkündung meldete sich letzte Woche dann ein beleidigter Philippe Müller zu Wort, Sicherheitsdirektor des Kantons Bern. In einer Pressemitteilung samt Videobotschaft lamentiert er, die Berichterstattung sei voreingenommen gewesen, unfair und unvollständig. Er spricht von einer «Medienkampagne» und einer öffentlichen Vorverurteilung der Polizist:innen, «welche einfach nur ihrem Auftrag im Dienste der öffentlichen Sicherheit nachgekommen sind». Und folgert: «Die Meinungen waren gemacht.»

«Wie ein Kartoffelsack»

Man könnte auch sagen: dass Journalist:innen diesen Vorfall, nachdem sie ihn beobachtet hatten, und ihre Vermutung des Machtmissbrauchs nicht verschwiegen, sondern dokumentierten, ist nicht bloss korrekt – sondern ihre Aufgabe. Und dass ihnen darin eine höhere Glaubwürdigkeit zugesprochen wird, als etwa Aktivist:innen, die eine solche Szene dokumentieren und veröffentlichen, wirft eher ein Licht darauf, welchen – vielleicht gar voreingenommenen? – Rückhalt die Polizei in der Öffentlichkeit geniesst.

Was stand nun damals in der Zeitung? Es wird beschrieben, wie ein dunkelhäutiger Mann auf dem Weg zum Bahnhof – «es scheint ihm nicht gut zu gehen» – von der Polizei angehalten wird; wie es, als er nicht freiwillig in das Polizeiauto einsteigen will, zum Gerangel kommt. Wie einer der Polizisten versucht, den Mann aus dem Gleichgewicht zu bringen, ihm das Knie in den Bauch rammt, wie der Mann schliesslich zu Boden kommt und der Polizist das rechte Knie auf den Hals des Mannes legt. Als der Widerstand nachlässt, wird der Mann aufgerichtet und ins Auto bugsiert: «Es ist eine Mischung aus Stossen, Werfen und Fallenlassen», heisst es in der Zeitung, und deutlicher noch: «Am Ende wird er wie ein Kartoffelsack in ein Fahrzeug geworfen. Wir hören, wie sein Kopf auf dem Kabinenboden aufschlägt.»

Bedeutsames Urteil

Die Journalist:innen konfrontieren für den Artikel die Kantonspolizei – und sie zitieren aus einem älteren Beitrag, in dem der emeritierte Berner Rechtsmediziner Ulrich Zollinger in Bezug auf den Mord an George Floyd in den USA im Mai 2020 erklärt, wieso es so gefährlich ist, auf dem Hals eines Menschen zu knien. Es ist insbesondere diese Verbindung zum Fall Floyd, die Sicherheitsdirektor Müller nun sauer aufstösst: Die Journalist:innen hätten wichtige Informationen unterschlagen, etwa die genaue Zeitangabe von einer Minute und dreizehn Sekunden, während der der Polizist den Mann mit dem Knie fixiert hatte. In seiner Mitteilung appelliert Müller an die Medien, gemäss ihren ethischen Richtlinien zu berichten – ziemlich unverfroren, nachdem wegen des dokumentierten Einsatzes gerade ein Korpsmitglied vor Gericht verurteilt wurde.

Interessanterweise ist es auch gar nicht jener Polizist, der den Mann mit dem Knie fixiert hatte. Richterin Andrea Gysi stuft die Festnahme grundsätzlich als rechtmässig ein, die Fixierung mit dem Knie als zu hart. Freigesprochen wird er trotzdem, da man anhand des Fotomaterials nicht festmachen könne, ob er tatsächlich Druck ausgeübt habe. Der Schuldspruch trifft einen zweiten Polizisten, der den Mann, Zitat Richterin Gysi: «achtlos wie eine Ware» in den Wagen geworfen hatte. Er erhält eine bedingte Geldstrafe von 110 Tagessätzen à 90 Franken bei einer Probezeit von zwei Jahren plus eine Busse von 600 Franken und die Übertragung eines Teils der Verfahrenskosten von über 10 000 Franken.

Die Chefredaktion von «Bund» und «BZ» stellte sich in einem Leitartikel letzte Woche entschieden hinter die Journalist:innen. Hinsichtlich des seltenen – und deswegen umso bedeutsameren – Urteils ist Müllers Reaktion wohl vor allem eines: ein Ablenkungsmanöver.

Nachtrag vom 14. März 2024 : Medien unter Druck

«Machtmissbrauch durch Medien-Konzern: Kantonsangestellte schützen» – so lautet der Titel der Motion, die der Grosse Rat in Bern letzte Woche mit 75 zu 65 Stimmen angenommen hat (bei 12 Enthaltungen). Diese Motion ist eine weitere Episode in einer Geschichte, die vor bald drei Jahren begann und in der es um Polizeigewalt, die Berichterstattung darüber und um einen beleidigten Sicherheitsdirektor geht.

Angefangen hat es mit einem Zufall: Journalist:innen von «Berner Zeitung» («BZ») und «Bund» werden im Juni 2021 Zeug:innen, wie ein Mann von der Polizei festgenommen wird. Sie beobachten, fotografieren und schreiben über die verhältnismässig brutale Festnahme des «jungen, dunkelhäutigen Mannes». Es folgen weitere Artikel; die Staatsanwaltschaft eröffnet eine Untersuchung gegen die beteiligten Beamten.

Als im letzten September einer der beiden Polizisten verurteilt wurde, passte das dem Berner Sicherheitsdirektor Philipp Müller (FDP) nicht. In einer Pressemitteilung inklusive Videobotschaft sprach er von einer öffentlichen Vorverurteilung durch die Journalist:innen und von einer «Medienkampagne». Dieses Wording übernahm die EDU-Grossrätin Katharina Baumann in ihrer Motion: In einer «beispiellosen Medienkampagne» sei der Beamte zum «Mörder abgestempelt» worden – dies, weil in den Artikeln der Fall George Floyd erwähnt wurde, da der Berner Polizist dem auf dem Boden liegenden Mann das Knie auf dessen Hals drückte. Die Motion fordert den Regierungsrat auf, das den Beamten und ihren Familien «medial widerfahrene Unrecht zu klären und wiedergutzumachen».

In einer Stellungnahme zerlegt die Chefredaktion von «Bund» und «BZ» alle Vorwürfe und zeigt, wie sie auf falschen Behauptungen und Ungenauigkeiten basieren. Dass die Motion dennoch angenommen wurde, ist aus medien- und demokratiepolitischer Sicht höchst bedenklich.

Erst im Februar hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Schweiz wegen Racial Profiling bei einer Polizeikontrolle gerügt (siehe WOZ Nr. 8/24). Statt die Medienberichterstattung zu kontrollieren, sollte der Berner Sicherheitsdirektor Müller besser kritischer in seine eigenen Reihen blicken.