FDP in Bedrängnis: Thierry Burkarts falsches Kalkül

Nr. 37 –

Die FDP will zur zweitstärksten Partei werden, nun droht den Liberalen ausgerechnet zum Jubiläum des modernen Bundesstaats der Verlust ihres zweiten Regierungssitzes.

das Pfarreizentrum Willisau vor der kantonalen Delegiertenversammlung der FDP im August
Wie viele Sitze bekommt die FDP überhaupt noch? Das Pfarreizentrum Willisau vor der kantonalen Delegiertenversammlung im August. Foto: Urs Flüeler, Keystone

Am Herbstmarkt in Meilen an der Zürcher Goldküste ist die FDP-Welt noch in Ordnung. Die Ortspartei schenkt Weisswein an die Passant:innen aus, ihr Pavillon ist rappelvoll. Eben ist der Zürcher SVP-Nationalrat Gregor Rutz kurz vorbeigerauscht und hat ein paar Hände geschüttelt. Vor dem Stand steht die Zürcher FDP-Nationalrätin Regine Sauter, im blauen Zweiteiler. In Meilen hat die FDP bei den letzten Parlamentswahlen 25 Prozent der Stimmen geholt, 10 Prozent mehr als im nationalen Durchschnitt. Stärker ist hier nur die SVP, die 28 Prozent machte. Sauter sagt, sie sei sicher, dass ihre Rezepte auch bei diesen Wahlen überzeugten. Sie spüre, dass die Menschen wegen des Krieges gegen die Ukraine oder der steigenden Preise verunsichert seien. «Wir stehen für liberale Lösungen ein, eine Politik ohne Vorschriften und Verbote.» Man müsse der Wirtschaft «Freiheit lassen». Diese sei «dank ihrer Innovationsfähigkeit Teil der Lösung».

Meilen ist nicht die Schweiz. Und auf nationaler Ebene ist die Stimmung bei der FDP derzeit weniger gelöst. Gemäss dem neusten SRG-Wahlbarometer droht der Partei bei den Wahlen ein Verlust von 0,5 Prozentpunkten. Was nach einer kleinen Verschiebung klingt, könnte grosse Folgen haben: Die FDP würde bei historisch tiefen 14,6 Prozent landen, während der Mitte-Partei 14,8 Prozent Stimmenanteil prognostiziert werden. Die FDP würde also erstmals hinter die ehemalige CVP fallen – und wäre damit ausgerechnet im Jahr des 175-Jahre-Jubiläums des modernen Bundesstaats nur noch viertstärkste Partei.

Der Rechtskurs

Aus dem Jubiläum will die Partei eigentlich Profit schlagen: Beim Wahlauftakt im Eishockeystadion von Fribourg-Gottéron inszenierten sich die Freisinnigen als direkte Nachfolger:innen der liberalen und radikalen Gründerväter, die im Sonderbundskrieg die Konservativen und Reaktionären geschlagen und 1848 die Schweizer Bundesverfassung erarbeitet hatten. «Seit 1848 der Garant des Erfolgsmodells Schweiz» steht auf der Website der Partei. Warum verfängt die Erzählung nicht?

Der Bedeutungsverlust der FDP hat bereits vor Jahrzehnten eingesetzt, parallel zum Erstarken anderer Parteien wie der SVP oder der Grünen. FDP-Präsident Thierry Burkart hat die Partei vor zwei Jahren mit dem Versprechen übernommen, «das liberale Feuer wieder zu entfachen». Für die kommenden Wahlen verkündete er das Ziel, die SP als zweitstärkste Kraft im Land abzulösen. Doch Burkarts Rezepte haben nichts gemein mit dem visionären und mutigen Freisinn des 19. Jahrhunderts. Der Rechtsfreisinnige gehörte zu jenen Kräften in der FDP, die ein Rahmenabkommen mit der EU bekämpften. Der Präsident des Lastwagenverbands will neue AKWs bauen, die Armeeausgaben massiv erhöhen, und er vertritt eine harte Linie in Asylfragen. Zwar haben der Rechtskurs der FDP und ihr Ankuscheln an die SVP weit vor Burkart begonnen. Doch der Mann aus dem Aargau verschärfte den Kurs noch einmal – mit dem erklärten Ziel, rechts der Mitte zu wachsen.

Die Kritiker

Für die aktuellen Wahlen setzt die FDP auf Listenverbindungen mit der SVP, so in Zürich, Bern und im Aargau. Das löst auch bei gestandenen Freisinnigen Unbehagen aus. Der Solothurner Nationalrat Kurt Fluri sagt: «Listenverbindungen lassen sich nie rein arithmetisch begründen, das fällt auf uns zurück. Wer in den betreffenden Kantonen die FDP wählt, wählt damit auch die SVP. Das wollen viele unserer Wähler nicht.» Kritik kommt auch aus Zürich, wo die kantonale FDP der Listenverbindung mit nur einer Stimme Unterschied zugestimmt hatte. Përparim Avdili, Präsident der Stadtzürcher FDP, sagt: «Ich war gegen jegliche Listenverbindungen, weil diese unser eigenes Profil schwächen.»

Vor den Wahlen versucht die FDP zudem, der SVP beim Asylthema das Wasser abzugraben: Der Freisinnige Damian Müller plädierte kürzlich im Ständerat erfolgreich dafür, abgewiesene Asylsuchende aus Eritrea in Drittstaaten wie Ruanda abzuschieben. Burkart wiederum erklärte an einer Pressekonferenz, seine Partei wolle negative Asylentscheide «konsequenter umsetzen».

Auch sozialpolitisch fahren die Freisinnigen einen harten Kurs (vgl. «Die soziale Frage: FDP und SVP auf Autopilot»). Im Umweltbereich verhindert die FDP Lösungen bei der Biodiversität und dem Landschaftsschutz. So hat die Partei in einer bürgerlichen Allianz die Alpensolarparks gepusht und mit der SVP die Agrarreform verwässert. Die Parteileitung lässt zudem jedes Gehör für städtische Anliegen wie den genossenschaftlichen Wohnungsbau oder die Förderung des öffentlichen Verkehrs vermissen.

Doch öffentliche Kritik am Parteikurs ist vom gemässigten Flügel kaum zu vernehmen. Fluri jedenfalls, der am Telefon noch sehr viel auszusetzen hatte, zieht seine Aussagen später wieder zurück. Er habe seine Differenzen mit der Partei besprochen und einen Modus Vivendi gefunden. «Ich werde meine Kritik bei einzelnen Sachgeschäften einbringen und das nicht öffentlich austragen.»

Es kann durchaus möglich sein, dass die FDP ihr letztmaliges Ergebnis knapp hält. Zweifellos aber ist Thierry Burkarts Rechtsdrall nicht der erhoffte Befreiungsschlag: In den Umfragen legt nur das Original zu.

Der Kampf um die Mitte

Eindeutig feststellbar ist auch: Weil die FDP nach rechts zieht, liegt das grösste Potenzial für eine Machtverschiebung bei diesen Wahlen an ihrer linken Flanke, in der umkämpften Mitte. Sollte die aus der ehemaligen CVP und der BDP fusionierte Mitte-Partei die FDP tatsächlich überholen, wäre der zweite Bundesratssitz der FDP spätestens nach einem Rücktritt von Ignazio Cassis oder Karin Keller-Sutter akut gefährdet. Und damit auch das rechtsbürgerliche Übergewicht im Bundesrat. Diesen Machtblock brechen will etwa Corina Gredig, GLP-Nationalrätin aus Zürich. «Mit so einem Stillstandbundesrat kann es nicht weitergehen», sagt sie.

Die GLP, der derzeit ein kleiner Stimmenverlust prognostiziert wird, zielt deshalb im Wahlkampf auf potenziell unzufriedene FDP-Wähler:innen. Auch wenn der Wahlkampfverantwortliche, Ahmet Kut, ganz in GLP-Lab-Manier lieber von «Sinus-Milieus» spricht, die man ansprechen wolle. Etwa die «Performer» oder die «bürgerliche Mitte mit ausgeprägter Status-quo-Orientierung». Gredig sagt, man habe von der Parteileitung eine Auswertung erhalten, welche Milieus in welchen Ortschaften und Quartieren lebten. Doch für sie sei ohnehin klar, wo es für die GLP im Kanton Zürich interessant sei: «dort, wo in letzter Zeit viel gebaut wurde, etwa in Dietikon oder im Säuliamt. Aber natürlich auch in den FDP-Hochburgen an der Goldküste.»

Abgesehen von der Hauptdifferenz in Ökologiefragen sieht Gredig etwa bei der Familien- und der Sozialpolitik Potenzial für den liberalen Stimmentransfer. «Für uns sind zum Beispiel die Kita-Vorlagen sehr wichtig, für die FDP-Spitze nicht, obwohl es weit bis in FDP-Kreise hinein mehrheitsfähig ist, dass man die Familien hier mehr entlasten muss.» In Anspielung auf das Credit-Suisse-Debakel sagt die Zürcherin zudem: «Die FDP hat in ihrer Wirtschaftspolitik ein Glaubwürdigkeitsproblem.» Sie betreibe eine Klientelpolitik. Das habe man zuletzt bei der Zustimmung zur Tonnagesteuer gesehen, die Schifffahrtsunternehmen und Konzerne steuerlich entlasten solle.

Am Herbstmarkt in Meilen hat die GLP ihren Stand schräg gegenüber der FDP aufgebaut. Davor stehen zwei junge Männer der Ortspartei; sie sagen, sie seien früher auch einmal links gewesen. Der eine trägt einen Hut, der andere eine Pilotenbrille. Heute glauben die beiden Lokalpolitiker an einen «Liberalismus mit Verantwortung». Passant:innen können sich am GLP-Stand von einem Solarexperten ausrechnen lassen, wie viel die Bestückung ihres Dachs mit Panels kosten würde. Doch nur wenige Leute bleiben stehen. Es sei nicht ganz einfach, sagt der Mann mit der Pilotenbrille. Wohlhabende Menschen könne man nur mit Anreizen abholen: «Man muss ihnen aufzeigen, dass es sich lohnt, Solarzellen aufs Dach zu bauen, dass sie damit langfristig Gewinn machen können.»

Dann wird der Mann noch etwas nachdenklicher und sagt, es sei ohnehin schwierig, Leute für Veränderungen zu gewinnen an einem Ort, an dem alles «so gut» sei. «Die Leute merken hier kaum etwas von den Problemen der Welt.»