Missbrauch in der Kirche: Mit nikotingelben Fingern

Nr. 37 –

Erstmals zeigt eine Studie das Ausmass sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche der Schweiz. Tausend Fälle sind dokumentiert – darunter jener von Vreni Peterer.

Portraitfoto von Vreni Peterer
«Wir wollen endlich von der Kirche ernst genommen werden»: Vreni Peterer.

Er fahre sie mit dem Auto nach Hause. Das sagte der Pfarrer zur damals zehnjährigen Vreni Peterer, als der Unterricht zu Ende war. Sie versuchte noch, ihn davon zu überzeugen, dass das nicht nötig sei, der Heimweg sei so kurz. Doch der Pfarrer insistierte. Während sie im Auto unterwegs waren, legte er seine Hand auf den Oberschenkel des Kindes und fuhr dem Bein entlang nach oben. «Ich weiss noch, wie ich rauswollte, aber ich kriegte die Tür nicht auf», erzählt die heute 62-Jährige. Irgendwann fuhr der Pfarrer auf eine Kreuzung zu. Und bog falsch ab. Statt in Richtung ihres Hauses lenkte er den Wagen, einen grau-beigen VW, in Richtung des Waldrands, wo er das Kind vergewaltigte.

Der Fall Vreni Peterer ist im Rahmen des Pilotprojekts zum sexuellen Missbrauch im Umfeld der römisch-katholischen Kirche der Schweiz dokumentiert worden. Er ist einer von 1002 Fällen sexuellen Missbrauchs in unterschiedlichen Formen und Ausmassen, die erfasst sind. Das sind bedeutend mehr als die bisher bekannten 380 Meldungen. Doch auch dies sei wohl lediglich «die Spitze des Eisbergs», erklärte die Historikerin Marietta Meier, eine der beiden Leiterinnen des Forschungsteams der Universität Zürich, am Dienstag. Denn die Forschung zeige, dass nur ein kleiner Teil der Fälle überhaupt je gemeldet werde. Nachdem in Deutschland und Frankreich in den letzten Jahren gross angelegte Forschungsprojekte die in kirchlichem Rahmen begangenen Missbräuche untersuchten, ist es nun auch in der Schweiz endlich so weit. Die Schweizerische Bischofskonferenz (SBK) und andere katholische Dachorganisationen einigten sich nach langen Verhandlungen auf einen Vertrag mit der Uni Zürich, in dem sie deren Forschungsteam absolute Unabhängigkeit und Transparenz zusicherten.

Die am Projekt beteiligten Wissenschaftler:innen leisteten gleich in mehrerlei Hinsicht Pionierarbeit. So wurde zum ersten Mal eine Studie zum Thema Missbrauch in dieser Breite geführt: Alle sechs Bistümer in der Schweiz, die staatskirchenrechtlichen Strukturen sowie die Ordensgemeinschaften wurden untersucht. Ebenfalls zum ersten Mal erhielten unabhängige Wissenschaftler:innen Zugang zu kirchlichen Archiven, darunter auch zu den Geheimarchiven der Bischöfe. Die Forscher:innen analysierten jedoch nicht nur Archivdokumente, sondern führten auch Interviews mit Betroffenen wie Vreni Peterer.

Puzzle der Erinnerungen

«Tut mir leid, ich bin etwas verschwitzt», entschuldigt sich Peterer und lacht fröhlich. Sie sitzt Ende August in einem hellen Raum des Selbsthilfezentrums in St. Gallen. Draussen sind es dreissig Grad, und Peterer ist mit dem E-Bike von ihrem Zuhause im Appenzell an den Ort gefahren, an dem sich die von ihr präsidierte Interessengemeinschaft für missbrauchsbetroffene Menschen im kirchlichen Umfeld, kurz IG-MikU, regelmässig trifft. Die IG wurde 2021 gegründet und ist neben der Groupe Sapec in der Romandie die einzige Interessenvertretung von Missbrauchsbetroffenen in der Schweiz. In der IG begleitet Peterer Menschen mit ähnlichen Erfahrungen und kümmert sich um die Öffentlichkeitsarbeit.

Die Erlebnisse, von denen Vreni Peterer heute erzählt, liegen rund fünfzig Jahre in der Vergangenheit, doch seien sie äusserst präsent, betont die Betagtenbetreuerin. Sie habe die traumatischen Ereignisse zwar verdrängt, aber nie vergessen. «Die Erinnerungen waren immer da, aber für lange Zeit waren sie wie auf einzelne Puzzleteile verteilt.» Tatsächlich scheinen die Erinnerungen lebendig und bildhaft, wenn Peterer spricht. Etwa von den nikotingelben Fingern des Pfarrers, mit denen er sie betatschte und manchmal ihren Daumen umschloss und darauf hoch- und runterfuhr. «Solche gelben Finger triggern mich bis heute», sagt Peterer, die mit fester Stimme spricht und dann doch ein paarmal kurz ins Stottern gerät.

«Er war unantastbar»

Wie aus dem Bericht der Forscher:innen hervorgeht, der die Zeitspanne ab Mitte des 20. Jahrhunderts erfasst, ist vieles am Fall der engagierten Betroffenen typisch für die Art und Weise, wie Angestellte kirchlicher Institutionen sich an Kindern und Erwachsenen vergingen. Etwa dass Peterer während der Übergriffe noch minderjährig war, und auch das Setting, in dem der Missbrauch seinen Anfang nahm: der Religionsunterricht. Dieser gehörte in der katholisch geprägten Gemeinde im Kanton St. Gallen, wo Peterer in den siebziger Jahren aufwuchs, zum Pflichtunterricht.

Zu Hause erzählte Peterer nichts. Weder von den Berührungen in der Schule noch von der Vergewaltigung. «Ich weiss noch, dass die Mutter mit mir schimpfte, weil ich zu spät nach Hause kam.» Darüber zu reden, was ihr passiert war, sei für sie undenkbar gewesen. Ihr Vergewaltiger hatte gedroht, sie käme in die Hölle, wenn sie jemandem vom Geschehenen erzähle. Und sowieso: «Der Pfarrer war damals das Höchste, er war unantastbar», erinnert sich Peterer. Asymmetrische Machtverhältnisse zwischen Klerikern und sich in Abhängigkeit befindlichen Personen seien eine Voraussetzung für Missbrauch, konstatiert die Pilotstudie.

Heute traut sich Vreni Peterer, die nie aus der Kirche ausgetreten ist, Geistlichen zu widersprechen. Doch an diesen Punkt führte sie ein langer, schmerzvoller Weg. Seit ihrer Jugend plagten Peterer verschiedene physische und psychische Leiden, deren Ursache stets im Dunkeln blieb. Reaktionen, die bei Missbrauchsbetroffenen häufig vorkommen. «Bessere und schlechtere Zeiten wechselten sich ab, und auf einmal waren es nur noch schlechtere.» 2005, einen Tag vor Weihnachten, folgte der Zusammenbruch. «Ich nahm zu viele Tabletten und ging noch am selben Tag in die Psychiatrie.» Es folgten viele Jahre mit Therapien, bevor es ihr 2018 gelang, die Puzzleteile zusammenzusetzen. Sie suchte im Internet nach dem Pfarrer und stiess plötzlich auf ein Foto von ihm. «Ich sah dieses Bild auf dem Display des Handys und warf das Gerät sofort durchs Zimmer.» Wenige Tage später kontaktierte sie das Fachgremium gegen sexuelle Übergriffe des Bistums St. Gallen.

Die Fachgremien, von denen heute jedes Bistum in der Schweiz eines hat, sind eine relativ neue Entwicklung und wurden im Nachgang zur Erlassung von Richtlinien zum Umgang mit sexuellen Übergriffen im Jahr 2002 eingeführt. Dazu kam es, nachdem Anfang der 2000er Jahre Medienberichte von Missbrauchsfällen in der Öffentlichkeit für Empörung sorgten. Die Einsetzung von Fachgremien, so der Bericht, sei Ausdruck einer grundsätzlichen Veränderung im Umgang mit Missbrauch in der Kirche, die diesen heute konsequenter ahnde.

Obwohl dies längst nicht allen Betroffenen so ergehe, seien ihre Erfahrungen mit dem Gremium sehr positiv gewesen, erzählt Peterer. Man habe ihr zugehört und sich bei ihr im Namen der Kirche entschuldigt. Sie konnte zudem die Akten zu «ihrem» Pfarrer, wie sie ihn zwischendurch nennt, einsehen. Die Dokumente zeichnen ein verstörendes Bild, denn Peterer musste feststellen, dass der Pfarrer, der sie missbrauchte, zuvor bereits in einer anderen Gemeinde im Kanton St. Gallen Übergriffe verübt hatte. Und dass dies den kirchlichen Autoritäten bekannt war.

«In seiner Akte stand, er sei den Mädchen ‹zu nahe gekommen›», empört sich Peterer über den Euphemismus. Aus den bischöflichen Akten gehe ausserdem hervor, dass sich die Autoritäten nicht etwa um das Wohl der betroffenen Kinder sorgten, sondern vielmehr um das des Pfarrers. «Nachdem er aus der anderen Gemeinde gehen musste, versteckte man ihn eine Zeit lang.» Schon nach wenigen Monaten habe man sich bemüht, eine neue Stelle für ihn zu finden. Schliesslich bekam der Pfarrer eine Anstellung in Vreni Peterers Dorf. Dort arbeitete der Mann bis zu seinem Tod 1985. Das Leid, das sie erdulden musste, hätte also verhindert werden können. Verschweigen, vertuschen, versetzen: Das war, so die Autor:innen des Pilotberichts, über Jahrzehnte hinweg in den meisten Fällen die Praxis der Kirche im Umgang mit sexuellem Missbrauch durch kirchliche Mitarbeiter:innen. Wie der Bericht veranschaulicht, wurden die Täter:innen praktisch nie oder nur sehr milde bestraft.

Im Fall von Vreni Peterers Pfarrer kam es 1951 immerhin zu einer Verurteilung durch ein «weltliches» Gericht – auch das alles andere als eine Selbstverständlichkeit. In den Strafakten, die der WOZ vorliegen, sind sowohl der Strafbestand der unzüchtigen Handlungen mit und vor Kindern wie auch das Urteil von vier Monaten Gefängnis bedingt vermerkt. Und sie enthalten die Aussagen der betroffenen Kinder, die genau schildern mussten, wie sie vom Pfarrer angefasst wurden. Es sind beeindruckende Quellen, die einen zentralen Punkt verdeutlichen: Ohne den Mut von Betroffenen gäbe es gar keine Akten.

Dass Zeitzeug:innen berichten, sei wichtig, um das Leid der Betroffenen fassbarer zu machen, meint auch Vreni Peterer. «Wir erwarten, dass wir in Zukunft auch von der Kirche ernst genommen werden.» Die Empfehlungen der Forscher:innen stimmen in einem weiteren Punkt mit den Forderungen der IG-MikU überein: Es soll eine unabhängige nationale Anlaufstelle für Betroffene geschaffen werden. «Viele vertrauen der Kirche nicht mehr», erklärt Peterer. Dieser Forderung will die Kirche nun endlich nachkommen, gab Bischof Joseph Maria Bonnemain am Dienstag bekannt. Wie wichtig dies ist, wurde in den vergangenen Wochen deutlich, als gleich mehrere Fälle publik wurden, die die Präsentation des Berichts überschatteten und auch Vreni Peterer beschäftigen.

«Er hat Vertrauen zerstört!», sagt sie über den Bischof des Bistums Basel. Dieser hatte, wie der «Beobachter» Mitte August aufdeckte, bei einem Missbrauchsfall, den eine Betroffene dem dortigen Fachgremium gemeldet hatte, ein Verhalten an den Tag gelegt, das eigentlich der Vergangenheit angehören sollte: Er hatte seine Meldepflicht verletzt, die Betroffene nicht ernst genommen, und – was aus Sicht von Peterer das Schlimmste war: Er hatte nicht nur den Namen und die Adresse, sondern auch Tagebucheinträge des Opfers an den mutmasslichen Täter weitergegeben. «Im Moment kann ich Betroffene nicht guten Gewissens zu den Fachgremien schicken», meint Peterer.

Die Zahl könnte noch steigen

Der Fall aus dem Bistum Basel stellt infrage, wie grundsätzlich die Veränderung ist, die die Forscher:innen im Bericht konstatieren. Zumal der «SonntagsBlick» vor wenigen Tagen aufdeckte, dass im Bistum Lausanne, Genf und Fribourg gleich mehreren Geistlichen Missbrauch vorgeworfen wird, der ebenfalls vertuscht worden sein soll. Historikerin und Projektleiterin Monika Dommann sagt, auf einer gesellschaftlichen Ebene hätte sich dank des Drucks von Medien und Betroffenen in den letzten Jahren viel verändert. Und in der Kirche? «Nur weil neue Institutionen oder Regeln eingeführt werden, heisst das noch nicht, dass sie auch greifen», meint Dommann dazu.

Seit Beginn des Untersuchungszeitraums Mitte des 20. Jahrhunderts haben kirchliche Würdenträger:innen nicht mehr annähernd dieselbe Machtposition oder denselben Einfluss in den Gemeinden. Und doch – auch in den vergangenen zwanzig Jahren kam es zu Übergriffen. Zwölf Prozent der bekannten Fälle ereigneten sich im Zeitraum von 2000 bis 2022. Da sich viele Betroffene erst Jahrzehnte später melden, könnte diese Zahl aber noch beträchtlich steigen, so der Bericht. Immerhin soll eine weitere Studie die Ergebnisse vertieft erforschen: Die Kirche hat im Juni bekannt gegeben, ein dreijähriges Folgeprojekt unter gleicher Leitung zu finanzieren.