Afghanistan: Extreme Hitze, extreme Herrscher

Nr. 38 –

Weiterhin flüchten viele Afghan:innen wegen des Talibanregimes und der schlechten wirtschaftlichen Lage aus dem Land. Die zunehmende Hitze könnte schon bald noch viel mehr Menschen vertreiben.  

«Es ist gut, dass Frieden eingekehrt ist. Wir haben nun endlich unsere Ruhe», sagt Ghulam Nabi. Dann zeigt er die zahlreichen Einschusslöcher an den Hauswänden. Sie sind in vielen Dörfern in der afghanischen Provinz Balch zu finden. Selbst das acht Meter lange Grab, das laut den lokalen Sagen Adams drittem Sohn Set zugeordnet wird und eine Pilger:innenstätte ist, blieb vom Krieg in den letzten zwanzig Jahren nicht verschont.

Seit August 2021 – also seit der Rückkehr der militant-islamistischen Taliban und dem Fall der afghanischen Republik mitsamt ihrer vom Westen aufgebauten Armee – ist kein einziger Schuss mehr gefallen. Wie blutig der Alltag zuvor war, schildert Nabi vor einem Feld, das wenige Monate vor dem Abzug der USA und ihrer Verbündeten bombardiert wurde. «Sechzehn Männer wurden hier getötet. Sie waren allesamt Bauern. Es war ein Massaker, für das sich niemand interessiert hat», sagt er. Es hiess damals, das Ziel des Angriffs seien Talibankämpfer gewesen. Doch die Luftangriffe des US-Militärs und ihrer afghanischen Verbündeten trafen meist die Falschen – Bauern, Taxifahrer, Bergarbeiter oder andere Zivilisten.

Auch Ghulam Nabi ist Bauer. Der damalige Angriff, der von der Armee ausgeführt wurde, hätte auch ihn treffen können. Im Nachhinein wäre er wahrscheinlich als «Talibankämpfer» oder «Terrorist» abgestempelt worden. Wenig überraschend, findet Nabi die neuen Herrscher sympathisch. Sie würden zumindest den Frieden und die Sicherheit gewährleisten. Früher habe man kaum durch sein Dorf gehen können, ohne mit Kugelhagel rechnen zu müssen. Ausserdem herrschten Diebstahl und Kriminalität. Hinzu kam der Machtmissbrauch lokaler Kommandanten, die jahrelang in der Region stationiert waren und die lokale Bevölkerung drangsalierten. Sie galten als unantastbare Warlords, die mafiöse Strukturen unterhielten und sich persönlich bereicherten. Heute wechselt der verantwortliche Talibankommandant regelmässig: «In Monatsabständen! Da kommt nur eine Nachricht, und er packt seinen Rucksack und ist weg. Er hat keine Macht über die Menschen hier», sagt Nabi.

Afghan:innen wie Ghulam Nabi ist es egal, wer letzten Endes regiert. Hauptsache, es herrscht Ruhe. Ob man es nun «Frieden» nennt oder anders, ist für ihn zweitrangig. Nabi war auch während der Ära der Republik ein armer Bauer. Ein Umstand, der sich unter dem neuen Talibanemirat nicht ändern wird.

Einst gehörte die Provinz Balch im Norden Afghanistans zu den wichtigsten Regionen Zentralasiens. Die gleichnamige Stadt soll vor über 3500 Jahren entstanden sein – sie ist eine der ältesten der Welt. Die kulturreiche und geschichtsträchtige Region ist der Geburtsort des berühmten muslimischen Dichters, Gelehrten und Mystikers Dschalaluddin Rumi. Die Ruine seines Geburtshauses, das wohl Anfang des 13. Jahrhunderts errichtet wurde, steht heute noch und ist eine Tourist:innenattraktion.

Ähnlich verhält es sich mit den zahlreichen Gräbern und Schreinen lokaler Heiliger, die einst den Islam ins heutige Afghanistan brachten. Besonders bekannt ist etwa die Hadschi-Pijada-Moschee aus dem 9. Jahrhundert. Sie gilt als erstes islamisches Gotteshaus Afghanistans. Andere Überreste befinden sich entlang der Mauern der grossen Bala-Hissar-Festung oder in der Blauen Moschee in der Provinzhauptstadt Masar-e Scharif. Wie gross und reich Balch einst gewesen ist, lässt sich heute allerdings nur mutmassen. Im Jahr 1220 wurde die Stadt von den Mongolen unter Dschingis Khan überfallen und zerstört. Einige meinen, dass sich die Region von der damaligen Invasion bis heute nicht erholt hat.

Im Hochhaus mit den Taliban

Doch während heute die Heiligen ruhen, die Taliban herrschen und der Krieg tatsächlich in gewisser Weise vorüber ist, wird die gesamte Provinz von einer neuen Bedrohung heimgesucht. Einer, der sich niemand entziehen kann: der unerträglichen Hitze. Allein in den letzten Wochen herrschten in Masar-e Scharif und Balch tagsüber meist über vierzig Grad Celsius. Die ganze Region wird von Trockenheit heimgesucht, was vor allem Bauern wie Ghulam Nabi schwer zu schaffen macht. Dieser arbeitet weiterhin im Freien auf seinen Feldern – und hofft, dass es wieder regnet.

«Eigentlich habe ich keine Ahnung, wie es weitergehen wird. Jährlich wird es heisser, und niemand weiss, was die Zukunft bringen wird», sagt Nabi. Dass er überhaupt arbeiten kann, hat er seinem persönlichen Aufputschmittel zu verdanken, wie er betont. «Schirak-e Masar» wird das berühmte Haschisch der Region genannt. Ghulam Nabi konsumiert es regelmässig. Dann fällt ihm ein, was ihn an den Taliban doch stört: ihre Feindseligkeit gegenüber mancherlei Drogen. Dabei seien sie doch selbst dem Naswar, dem afghanischen Kautabak, verfallen.

Ähnliche Probleme stellen sich Abdullah Rahmat, einem anderen Bauern aus Balch. Seine Gurken- und Okrafelder und damit seine Existenz seien mittlerweile bedroht. «Es geht hier nicht nur um unsere Ernten, sondern um das Leben der Menschen im Allgemeinen. Egal wo man hingeht, die Hitze begleitet dich und gefährdet auch deine Gesundheit», so Rahmat.

Er weiss, wovon er spricht. Rahmats Bruder Nasir ist in der Stadt als Arzt tätig. In seine Praxis kommen in diesen Tagen vor allem Afghan:innen, denen die Hitze zu schaffen macht. «Viele Patienten unterschätzen das Wetter. Sie verrichten weiterhin schwere Arbeit oder schicken ihre Kinder in die Schule. Oft bleibt ihnen allerdings auch gar keine andere Wahl», meint Nasir Rahmat, während er vor einem kleinen Ventilator sitzt und ein Rezept ausstellt.

Nur in wenigen Haushalten gibt es Ventilatoren oder gar Klimaanlagen. Seit der Rückkehr der Taliban wird das Land von zahlreichen Staaten weiterhin sanktioniert. Die wirtschaftlichen Einbrüche treffen vor allem die einfache Bevölkerung. Die Hierarchie wird auch in Balch deutlich, wo sich führende Talibankommandanten mittlerweile mit klimatisierten Jeeps herumkutschieren lassen und in luxuriösen Behausungen leben, wo es fliessendes Wasser und eine stabile Stromversorgung gibt.

«Ich weiss gar nicht, wie die anderen Menschen das aushalten können», sagt Sohail, ein Student aus Masar-e Scharif. Er hat das Glück und gleichzeitig auch das Pech, in einem Hochhaus mit dem Bürgermeister der Taliban zu leben. «Das Gute ist, dass wir stets Strom haben und deshalb auch die Klimaanlage immer laufen kann. Das Schlechte sind natürlich unsere neuen Talibannachbarn, die allen Bewohner:innen Probleme und Kopfschmerzen bereiten», so Sohail. So würden die Kämpfer etwa mal mit ihren Motorrädern durch die Korridore fahren.

Fluten und schmelzende Gletscher

Der gegenwärtige Zustand hat viele Afghan:innen bereits zur Flucht gezwungen. Und immer noch mehr Menschen wollen das Land verlassen. Sie fliehen vor der Rezession und der zunehmenden Repression der Taliban. Der Schwarzmarkt für Reisedokumente blüht weiterhin wie kein anderer, während Schmuggler im gesamten Land aktiv sind.

Doch bald, so meinen nicht wenige, kommt die grosse Flucht vor dem Klima. Im Jahr 2021 beliefen sich die CO₂-Emissionen in Afghanistan auf rund 11,9 Millionen Tonnen. Das entspricht 0,03 Prozent der weltweiten Emissionen. Afghanistan ist also kaum für die globale Klimakatastrophe mitverantwortlich – und doch wird das Land mitsamt seiner Bevölkerung besonders heftig getroffen.

In den letzten Jahren kam es regelmässig zu neuen Temperaturrekorden und Dürren. Gletscher sind geschmolzen, und Hochwasser, wie jüngst etwa in der Provinz Maidan Wardak nahe Kabul, gehören immer mehr zum Alltag und führen zu Tod, Zerstörung und Vertreibung. Die internationale Staatengemeinschaft fokussierte sich in Afghanistan in den letzten zwanzig Jahren vor allem auf den Krieg; die Wirtschaft basierte auf der militärischen Besetzung und ausländischen Hilfsgeldern. Für die Klimaerhitzung und deren Folgen interessierte sich kaum jemand.

Gräben ausheben in der Hitze

«Die Zukunft der Menschen, die vom Klimawandel betroffen sind, ist ernsthaft gefährdet. Deshalb muss man intervenieren und ihm entgegenwirken», sagt Mohammad Parwez. Seit geraumer Zeit ist der Landwirtschaftsingenieur für die französische NGO Acted (Agency for Technical Cooperation and Development) in der Provinz Baghlan tätig. Auch Baghlan liegt im Norden Afghanistans und ist, ähnlich wie Balch, von den jüngsten Hitzewellen und Dürren betroffen.

Gemeinsam mit Bauern aus dem Distrikt Narin versucht Parwez, die Auswirkungen der Klimaerhitzung zu begrenzen. Man arbeitet an neuen Bewässerungstechniken, die selbst mit wenig Regen erfolgreich sein sollen. So heben Parwez und die Bauern täglich neue Gräben aus, die das Wasser auffangen sollen. «All dies ist schwere körperliche Arbeit, die in diesen heissen Tagen besonders anstrengend ist. Der Boden ist meist ausgetrocknet, was das Ausheben der Erde zusätzlich erschwert», sagt Parwez.

Im Vorfeld war auch politische Arbeit nötig. Die NGO musste zuerst die lokalen Talibanbehörden von der Wichtigkeit ihrer Arbeit überzeugen und unter anderem beweisen, dass sie weder Spionage betreibt noch der Landwirtschaft schaden will. «Die Taliban waren anfangs sehr skeptisch. Wir mussten ihnen klarmachen, dass unsere Arbeit die Zukunft der Bauern sichert. Zumindest versuchen wir das. Ansonsten muss man nämlich bald weg von hier», so Parwez.