Corona: Nach der Pandemie, vor der Pandemie?

Nr. 38 –

Noch ist die Lage bei weitem nicht dramatisch. Doch eine neue Variante des Coronavirus beunruhigt die Virolog:innen – auch in der Schweiz.

ein Glas mit Corona-Impfstoff-Spritzen
Das Boosterrätsel: Offiziell empfohlen wird eine frische Impfung allen Personen mit erhöhtem Risiko – ob eine solche gegen die neue Variante wirkt, ist ungewiss. Foto: Ennio Leanza, Keystone

Die heisse Sommersonne schien die dunkle Viruswolke vom Horizont gebrannt zu haben, und wer nicht mit Long Covid oder sonstigen Langzeitfolgen der Covid-Erkrankung zu kämpfen hatte, gab sich vielleicht der Illusion hin, die Pandemie sei überwunden. Im Verdrängen sind wir Menschen meisterhaft – und das umso mehr, wenn sich andere Probleme wie Krieg und Klimaerhitzung in den Vordergrund schieben.

Eigentlich könnte nun also das grosse Aufräumen beginnen. Man könnte Fragen nachgehen, welche Coronamassnahmen wie gewirkt haben, ob Schulschliessungen gerechtfertigt waren oder welchen Effekt das Tragen von Masken hatte. In Nachbarländern wie Deutschland etwa hat eine solche Evaluation auf Bundesebene bereits stattgefunden. Und in der Schweiz? Erst vor wenigen Tagen hat der Ständerat ein Postulat des Zürcher Freisinnigen Ruedi Noser überwiesen, das ein unabhängiges Gremium fordert, um die in der Coronazeit verhängten Massnahmen zu überprüfen. Dabei sollen explizit auch Kritiker:innen der damaligen Massnahmen in den Prozess eingebunden werden.

Relevant ist das Klärwasser

Für schnelle Konsequenzen ist es wohl zu spät. Denn zunehmend hört man von neuen Infektionen. Ferienrückkehrer:innen, die zunächst dachten, sie hätten sich nur eine Erkältung eingefangen, stellen fest, dass sie sich wieder mit Corona infiziert hatten. Viele fragen sich, ob es erneut an der Zeit für einen Auffrischungsbooster sei oder ob man seine verstaubten Masken wieder hervorkramen sollte.

Dramatisch ist die Lage nicht: Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) meldete zwischen dem 12. und 19. September 838 nachgewiesene Neuinfektionen, die Vierzehn-Tage-Inzidenz lag am 17. September bei 23,53 Fällen (pro 100 000 Einwohner:innen). In der betreffenden Woche mussten 72 Patient:innen hospitalisiert werden – eine Zahl, die sich laut Christoph Berger von der Eidgenössischen Kommission für Impffragen (Ekif) in Grenzen hält.

Die Dunkelziffer bei den Infektionen jedoch dürfte hoch sein, zumal Tests inzwischen selbst bezahlt werden müssen. Umso relevanter sind die Ergebnisse aus dem Klärwassermonitoring: Stand jetzt ist die Viruslast im Abwasser in sieben Kantonen steigend.

Warnung vor Pirola

Soweit es sich um Omikron-Varianten wie derzeit XBB handelt, dürfte der Immunschutz durch Infektion und Impfung hierzulande noch ausreichend sein. Selbst die neue Omikronvariante EG.5 beziehungsweise EG.5.1, genannt Eris, die für den globalen Anstieg der Fälle sorgt, wird als wenig gefährlich eingeschätzt. Beunruhigt allerdings zeigen sich Virolog:innen von der seit Mitte August in der Schweiz auftretenden Mutation BA.2.86 mit dem Namen Pirola. 42 Fälle aus elf Ländern sind der WHO mittlerweile bekannt, was darauf schliessen lässt, dass sich das neue Virus schnell ausbreitet. In einem Heim im britischen Norfolk sind Ende August 33 von 38 Bewohner:innen an Covid erkrankt, bei 22 war BA.2.86 die Ursache.

Bei Pirola handelt es sich um die erste Mutation, die Veränderungen am Spikeprotein aufweist – jenem Teil also, der an den Zellen andocken und das Virus in den menschlichen Körper einschleusen kann. Pirola wurde Ende Juli in Dänemark entdeckt, inzwischen ist es neben der Schweiz auch in Grossbritannien, Israel und den USA unterwegs. Als sogenannter Immunflüchter hat es die unangenehme Eigenschaft, den aufgebauten Immunschutz zu umgehen. Ob sich die Variante durchsetzt und welchen Schaden sie anrichten könnte, weiss bislang niemand.

Die Genfer Virologin Isabella Eckerle ist jedoch von der grossen Zahl der Mutationen überrascht. «Das Virus ist noch nicht fertig mit uns», erklärte sie gegenüber dem «Spiegel» und warnte davor, Corona nur noch als banales Erkältungs- oder Grippevirus zu betrachten. Bestimmte Gruppen könnten weiterhin schwer erkranken, auch sei mit Komplikationen wie Long Covid oder neurologischen Erkrankungen zu rechnen.

Kinder- und Jugendärzt:innen befürchten zudem, dass das Zusammentreffen der neuen Coronavariante mit der erwarteten schweren Grippesaison und dem Respiratorischen Synzytial-Virus (RSV), von dem vor allem Kinder betroffen sind, zu einem grösseren Problem werden könnte. Der oberste Kantonsarzt in Zug, Rudolf Hauri, wiederum weist auf die Situation in der Pflege hin: Nicht die Betten seien das Problem, «sondern dass wir nicht genügend Pflegepersonal haben».

Auftrieb für Impfskeptiker:innen

Das BAG und die Eidgenössische Kommission für Impffragen haben deshalb für den Herbst eine neue Impfempfehlung ausgesprochen, die sich vor allem an Personen mit erhöhtem Risiko (über 65-Jährige, Schwangere und Personen mit chronischen Erkrankungen) richtet. Empfohlen werden die angepassten, genetisch basierten mRNA-Impfstoffe und der angepasste Proteinimpfstoff von Novavax.

Für die deutsche Bevölkerung dagegen steht voraussichtlich nur der Impfstoff von Biontech zur Verfügung. Kürzlich wurde enthüllt, dass Deutschland aufgrund von Verträgen der EU mit dem Hersteller verpflichtet ist, diesem 17,5 Millionen Impfdosen in diesem Jahr und je 15 Millionen Dosen in den beiden Folgejahren abzunehmen. Das hat für reichlich Empörung gesorgt und ist Wasser auf die Mühlen der Impfskeptiker:innen, die in der neuen Impfsaison ohnehin wieder Auftrieb erhalten. Ganz zu Unrecht besteht die Skepsis allerdings nicht: Inzwischen sind diverse Fälle von Impfschäden vor Gericht gelandet, der Ausgang der Verfahren ist offen.

In der Schweiz allerdings freut sich Dan Staner im «Blick» darüber, dass der US-Impfhersteller Moderna die Schweiz demnächst mit einem angepassten Impfstoff versorgen wird. Staner ist bei Moderna für den europäischen Markt zuständig. Moderna hatte bisher einen Teil seiner Impfstoffe beim Schweizer Pharmahersteller Lonza produzieren lassen. Diese Zusammenarbeit wird jetzt aber überraschend beendet, wie diese Woche öffentlich wurde.

Ob die auf Omikronvarianten ausgerichteten Modifikationen überhaupt ihre Wirkung entfalten, ist ungewiss. François Balloux, der Chef des Genforschungsinstituts am University College London, hält es nicht für ausgeschlossen, dass Pirola herkömmliche Impfstoffe austricksen kann. Und inwieweit der Booster bei einem intakten Immunsystem überhaupt noch Wirkung zeigt, ist wissenschaftlich umstritten.

Wie unterschiedlich Länder auf die Wiederkehr von Corona reagieren, offenbart sich an den Beispielen Spanien und USA. Während der coronainfizierte spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez seine Teilnahme am G20-Gipfel absagte, wedelte Joe Biden, dessen Ehefrau Jill an Corona erkrankt ist, vor Pressevertreter:innen mit seiner schwarzen Maske. In Grossbritannien plädieren Epidemiolog:innen für die Rückkehr der Maskenpflicht, und in Israel wurden in den Spitälern wieder verbindliche Coronatests eingeführt.

Für den Umgang mit der Klimakatastrophe braucht es bekanntlich internationale Strategien. Das wäre eigentlich auch bei Corona angebracht.