Globale Klimabewegung: «Wir brauchen einen Plan!»

Nr. 43 –

Die Klimakrise verschärft sich, die Antworten der meisten Staaten sind ungenügend, diverse Öl- und Gaskonzerne wollen ihre Produktion gar ausweiten. Welche Strategien verfolgt in dieser Situation die globale Klimabewegung?

Normalerweise ist es in dieser Ecke von London vornehm ruhig. Taxis fahren vor den Luxushotels vor, Gäste werden von höflichen Pagen in Livree empfangen, es geht sehr gepflegt zu und her. An diesem Dienstagmorgen, dem 17. Oktober, hingegen: Menschenauflauf, Megafone, Sambaband, Lärm. Vor dem Intercontinental Hotel haben sich über 200 Protestierende versammelt, blockieren den Eingang und fordern ohrenbetäubend: «Oily money out!» – öliges Geld raus.

Mitten im Gewühl, in einer grauen Winterjacke und mit Wollmütze, steht Greta Thunberg. Gerade ist sie dabei, zusammen mit ihren Mitstreiter:innen eine Gruppe elegant gekleideter Leute vom Eintritt ins Hotel abzuhalten. Es gibt ein kleines Gerangel – schliesslich geben die Gäste auf, halten resigniert die Hände hoch und treten den Rückzug an. Einer schaut ungeduldig auf die Uhr: schon eine Stunde verspätet. Im «Intercontinental» beginnt an diesem Tag das Energy Intelligence Forum, ein Gipfeltreffen der Ölmatadoren: Hier kommen Führungsleute grosser Namen aus der Fossilbranche wie der Ölkonzerne Saudi Aramco, Shell, Total und Equinor zusammen, um sich mit Bankern und Regierungsvertreterinnen auszutauschen – ein dreitägiges «Love-in» von Ölindustrie, Finanzsektor und staatlichen Akteuren. Kritiker:innen sprechen von den «Oscars der Öllobby». Die WOZ wollte als Berichterstatterin ebenfalls am Treffen teilnehmen, wurde jedoch im Vorfeld von den Organisator:innen abgewiesen.

«Hinter diesen Türen machen Politiker Deals und Kompromisse mit den Lobbyisten dieser zerstörerischen Industrie», sagt Greta Thunberg an einer Pressekonferenz, die einige Stunden vor Beginn des Ölevents nahe dem Hotel abgehalten wird. Die zwanzigjährige Ikone der Klimabewegung ist nach London gekommen, um am Protest gegen das Forum teilzunehmen. Organisiert wurde die Aktion von der Kampagne Fossil Free London, unterstützt von Extinction Rebellion und Greenpeace. «Die Mächtigen sind dabei, Profite aus unserem sterbenden Planeten zu quetschen, und wir können das nicht zulassen», sagt Thunberg. Direkte Aktionen seien der einzige Weg, zu intervenieren. Auf die COP-Klimakonferenzen sei kein Verlass: «Die Fossilindustrie hat die Prozesse gekapert und diktiert, wo es langgeht.»

Internationale Radikalisierung

Szenenwechsel: einige Tage zuvor in Mailand. Hier treffen sich für ein verlängertes Wochenende rund 250 Delegierte von Klimabewegungen aus aller Welt zum ersten Weltkongress für Klimagerechtigkeit – eine «Internationale» der aktivistischen Klimabewegung, wie einer der Organisator:innen etwas vollmundig behauptet. In Vorlesungssälen der Universität Mailand und Veranstaltungsräumen des Sozialen Zentrums Leoncavallo wird über Strategien diskutiert. In einem begrünten Innenhof der Universität tauschen sich Bewegte aus aller Welt aus, essen zusammen und malen Schilder für eine geplante Demo.

Die Klimabewegung befindet sich in einem Veränderungsprozess. Neue Gruppen sind entstanden, Aktionen des zivilen Ungehorsams finden häufiger statt. Täglich werden irgendwo auf der Welt Strassen, Baustellen, Eingänge zu Gebäuden von Ölkonzernen oder Banken blockiert. Die Schüler:innenstreiks, die Greta Thunberg 2018 fast im Alleingang initiierte und damit Millionen von Klimabewegten auf die Strasse brachte, sind zwar kleiner geworden – zugleich aber ebenfalls etwas radikaler. Vertreter:innen der Schüler:innen­­­streiks wie etwa aus der Schweiz, die in Mailand dabei sind, bestätigen das: In den kommenden Monaten wollen sie Schulen und Universitäten besetzen, und sie planen globale Aktionstage für den März 2024.

Protest bei Toulouse gegen eine Autobahn: eine Person mit einer Fledermaus-Skulptur
Gegen eine unnötige Autobahn im Südwesten Frankreichs: Protest bei Toulouse am vergangenen Wochenende.  Foto: Alain Pitton, Getty

In Mailand ist man sich in einem Punkt einig: Die Regierungen haben ihre Versprechen, einen raschen Wandel hin zu einem «grünen Kapitalismus» einleiten zu wollen, nicht erfüllt. Derweil schreitet die Erderhitzung voran. Die Monate Juni bis September 2023 waren die heissesten seit Messbeginn. Kipppunkte drohen überschritten zu werden – jedes Zehntelgrad zusätzliche Erwärmung kann die Situation dramatisch verschlimmern.

Doch nichts deutet darauf hin, dass rasch und entschieden etwas dagegen unternommen wird. Zwar gibt es in den Industriestaaten inzwischen einen klaren Trend hin zu einer nachhaltigeren Energieversorgung, wie die Internationale Energieagentur kürzlich festgestellt hat; gleichzeitig jedoch folgen die Staaten spätestens seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine wieder vermehrt dem Narrativ der «Energiesicherheit». Das begünstigt die Ölkonzerne, denen bei der Genehmigung neuer Förderanlagen weniger Steine in den Weg gelegt werden – und damit auch Diktaturen wie Saudi-Arabien, die Emirate und Katar.

Auf der Konferenz in London bekräftigen Sprecher von Saudi Aramco denn auch, was der grösste Ölproduzent der Welt schon früher bekannt gegeben hat: Die Ölförderung wird ausgeweitet. Selbst wenn in den Industriestaaten der Absatz langsam zurückgehen sollte: In den Ländern des Südens sehen die Saudis nach wie vor Potenzial für Wachstum. Dieser Meinung ist auch Russell Hardy, CEO des grossen Schweizer Ölhandelsunternehmens Vitol, der ebenfalls am Kongress in London spricht und gegenüber der NZZ sagt, dass «weiterhin in die Ölproduktion investiert werden wird». Man habe schliesslich «viel Zeit und Mühe investiert, um etwas zu schaffen, das wertvoll und interessant ist».

Was heisst «Klimarealismus»?

«Unsere Zukunft wird gerade zerstört, es ist Stunde null. Die Hitzewellen sind da […]. Niemand hat eine Lösung, wie wir da rauskommen. Wir müssen uns überlegen, wie wir uns organisieren.» Das sagt Carlotta, Vertreterin der italienischen Gruppe Ultima Generazione, die wie alle hier Anwesenden nur ihren Vornamen nennt, am grossen Podium in Mailand. Es ist ein Aufschrei in einer Diskussion, die zu Beginn noch relativ emotionslos verläuft. Ultima Generazione ist eine Schwesterorganisation von Letzte Generation in Deutschland, Just Stop Oil in Grossbritannien oder Renovate Switzerland. Die Gruppen verfügen alle über eine klare Organisationsstruktur, die ihnen flexibles Handeln und professionelle Medienarbeit für ihre gewaltfreien Guerillaaktionen ermöglicht. Ihre Strategie ist es, mit Strassenblockaden oder auch Farbanschlägen möglichst hohe Aufmerksamkeit zu erreichen – und so mehr Menschen zur Teilnahme an den Aktionen zu bewegen.

Sie gehören zu jenem Teil der Klimabewegung, der in den letzten Monaten besonders viel Publizität in den Medien erlangte – nun aber auch mit umso heftigeren Repressalien zu kämpfen hat: In Deutschland versuchen die Strafverfolgungsbehörden gerade, die Letzte Generation als «kriminelle Vereinigung» einzustufen, in Grossbritannien ist Just Stop Oil mit extrem harten Gerichtsurteilen konfrontiert. So sitzen die beiden Aktivisten Morgan Trowland und Marcus Decker derzeit wegen der vierzigstündige Blockade einer Autobahnbrücke in London Haftstrafen von drei beziehungsweise zwei Jahren und sieben Monaten ab.

«Wir brauchen einen Plan, um zu gewinnen!», fordert Medina von der portugiesischen Gruppe Climaxo. Sie spricht von «Klimarealismus», dem man sich stellen müsse. Der Neoliberalismus werde die Klimakrise nie von sich aus stoppen können. Umso mehr gelte es, einen Systemwechsel anzustreben und sich dazu international zu organisieren – so wie es das Kapital schon lange tue.

Allianzen bilden, auch mit sozialen und feministischen Bewegungen sowie mit Migrant:innen: Das ist neben den friedlichen Guerillaaktionen von Letzte Generation und Co. die zweite grosse Strategie der hier versammelten Gruppen. Es geht um Fokuspunkte, auf die sich diverse Bewegungen beziehen können.

In Mailand sitzt auch die Ende-Gelände-Aktivistin Christiane auf dem Podium. Mit Blockaden und Besetzungen rund um den Braunkohleabbau in Garzweiler sei es gelungen, die Diskussion über einen rascheren Ausstieg aus der Kohleenergie massgeblich mitzuprägen, sagt sie. Jetzt versucht Ende Gelände, auf der Insel Rügen den Bau eines Flüssiggasterminals zu verhindern. «Wir wollen mit unseren Aktionen mehr Leute zu Widerstandsaktionen befähigen», sagt die Aktivistin. Ziel sei es, eine «antikapitalistische Allianz» zu schaffen.

Vorbild Den Haag

Ein weiteres Beispiel in diese Richtung ist die französische Bewegung Les soulèvements de la terre (Die Aufstände der Erde), die einige Aktivist:innen in Mailand vertreten. In den laut eigenen Angaben 200 Kollektiven mit 150 000 Mitgliedern, die über das ganze Land verstreut sind, versammeln sich Klimabewegte mit Landwirtinnen und Gewerkschaftern wie auch mit Mitgliedern globalisierungskritischer Organisationen oder Autonomen. Hervorgegangen ist das Bündnis aus der Besetzung eines Geländes in Notre-Dame-des-Landes, wo der Bau eines Flughafens verhindert wurde. Dabei geht es nicht nur um den Kampf gegen klimaschädliche Projekte, sondern darüber hinaus um die Verteidigung von Gebieten vor der Verwertung durch das Kapital. Die Aktionsformen reichen von friedlichen Demonstrationen und Besetzungen bis zu Sabotageaktionen, etwa gegen ein Werk des Schweizer Zementherstellers Holcim Lafarge in Bouches-du-Rhône.

Am vergangenen Wochenende, wenige Tage nach dem Kongress in Mailand, folgten rund 10 000 Menschen dem Aufruf von Les soulèvements de la terre, um gegen den Bau der Autobahn A69 zwischen Toulouse und Castres zu demonstrieren. Hunderte besetzten danach ein Gelände bei La Crémande, durch das die geplante Autobahn verlaufen soll. Die Polizei räumte die Besetzung am Sonntag mit einem Grossaufgebot und dem Einsatz von viel Tränengas. Kriminalisiert aber wurde die Bewegung bereits vorher: Am 21. Juni 2023 hatte der französische Innenminister Gérald Darmanin die Auflösung der Bewegung verfügt, was bei Menschenrechtsorganisationen zu heftigen Protesten führte. Am 11. August setzte der Staatsrat die Verfügung des Innenministers vorerst wieder aus. Derzeit laufen Anhörungen.

Wie erfolgreich Massenaktionen und Blockaden sein können, zeigt ein aktuelles Beispiel aus den Niederlanden, das in Mailand an einem Workshop diskutiert wurde. Vom 9. September an hatten Aktivist:innen während 27 Tagen die Stadtautobahn in Den Haag blockiert (siehe WOZ Nr. 38/23). Ihre Forderung: Die Regierung soll alle Subventionen an die fossile Industrie stoppen, je nach Rechnung bis zu 37,5 Milliarden Euro pro Jahr. Eine kleine Gruppe von nur sieben Leuten begann schon im Dezember 2020 mit der Planung. Sie setzten auf viele regionale Gruppen vor allem von Extinction Rebellion, die den Aktivist:innen Aktionstrainings anboten. Mit Erfolg: Inzwischen hat das niederländische Parlament der Regierung den Auftrag erteilt, Szenarien für den Abbau der Subventionen an die fossile Industrie vorzulegen. Sollte die Politik bis Weihnachten nicht entsprechend handeln, würden die Blockaden wieder aufgenommen, sagt ein Aktivist in Mailand.

Das Beispiel soll Schule machen. Am kommenden Samstag wollen Letzte Generation, Extinction Rebellion und andere Gruppen in Berlin die «Strasse des 17. Juni» blockieren – auch hier mit der Forderung, Subventionen an die fossile Industrie einzustellen.

In Mailand ist man sich weitgehend einig: «Wir können nicht länger warten, bis das System reformiert ist. Warten wir zu lange, sind wir alle tot», heisst es in einer Abschlusserklärung des Kongresses. Einig ist man sich auch, dass Stimmen aus Ländern des Südens und speziell von Indigenen stärker gehört werden müssen. Im Dezember sollen die Erkenntnisse von Mailand in ein Treffen in Kolumbien einfliessen, eine Art Gegenkonferenz zum Weltklimagipfel COP28, der zeitgleich in den Vereinigten Arabischen Emiraten stattfinden wird. Präsident der COP28 ist Sultan Ahmed al-Dschaber, CEO des staatlichen Ölkonzerns.

Auch Dschaber hätte am Energy Intelligence Forum in London auftreten sollen. Doch sagte er seine Teilnahme ab – laut Fossil Free London wegen des Protests. Ins «Intercontinental» hätte er es ohnehin nur mit Mühe geschafft. Stundenlang blockierten die Protestierenden den Eingang, die genervten Gäste standen hilflos in der Menge. Schliesslich verfügte die Polizei eine Auflösung der Demo. Allerdings weigerten sich viele, der Weisung zu folgen, auch Greta Thunberg. Sie wurde am Ende verhaftet. Das Bild der kleinen Frau, die von zwei Polizisten abgeführt wurde, ging weltweit durch die Medien.