Olympia 2030: Nur das IOC gewinnt immer

Nr. 45 –

Sie versuchen es schon wieder: Schweizer Sportverbände wollen die Winterspiele in die Schweiz holen. Eine Volksabstimmung soll diesmal umschifft werden – Fachleute und Naturschützer:innen sind skeptisch. 

Rosmarie Bleuer bei einem Rennen an den Olympischen Winterspielen 1948 in St. Moritz
Damals war noch alles nicht so gigantisch – und in schwarzweiss: Rosmarie Bleuer bei einem Rennen an den Olympischen Winterspielen 1948 in St. Moritz.  Foto: Keystone

Hippolyt Kempf muss lachen. «Es kann ein grosser Fluch oder aber auch ein grosser Segen sein.» 1988 gewann er an den Olympischen Winterspielen in Calgary völlig überraschend eine Goldmedaille in der Nordischen Kombination – Langlauf und Skispringen. Jetzt arbeitet er als Sportökonom an der Eidgenössischen Hochschule für Sport in Magglingen und berät Schweizer Sportfunktionär:innen im Bewerbungsprozess für die Olympischen Winterspiele 2030. Selbst ist er aber nicht in den Entscheidungsprozess eingebunden.

Kempf sieht Parallelen zwischen der Olympiateilnahme eines Sportlers und der Ausrichtung der Spiele durch ein Land: «Man bereitet sich jahrelang auf diesen Anlass vor, man ist nervös, unter Druck. Und dann, wenn es geklappt hat, ist es ein Geschenk fürs Leben.» Habe es jedoch nicht geklappt, so sei das richtig hart. Darin liege das Problem bei Olympia und der Unterschied zu anderen sportlichen Grossanlässen: «Die Emotionen sind so übermächtig, die weltweite Bedeutung ist so übermächtig. Das kann erdrückend sein.»

Bloss nie aufgeben

Die obersten Funktionär:innen von Swiss Olympic, der Dachorganisation der olympischen Sportverbände der Schweiz, können es nicht lassen. Schon wieder wollen sie die Olympischen und Paralympischen Winterspiele in die Schweiz holen. Dabei sind entsprechende Versuche in den letzten Jahrzehnten immer wieder gescheitert. 2017 und 2018 fielen die Pläne gar in Volksabstimmungen in den Kantonen Graubünden und Wallis durch. Die Skepsis gegenüber grosskotzigen Sportveranstaltungen ist in der Bevölkerung gewachsen. Das liegt vor allem am Internationalen Olympischen Komitee (IOC), das immer wieder im Zusammenhang mit Korruption in die Schlagzeilen gerät. Das IOC mischt sich zudem mit detaillierten Vorgaben in die Organisation und den Ablauf der Spiele ein und kassiert mit dem Verkauf der TV-Rechte Milliarden. Die Austragungsorte tragen demgegenüber das Risiko. Am Ende bleiben oft Fehlinvestitionen in Infrastrukturen und Sportstätten zurück.

Trotz der Rückschläge in Graubünden und im Wallis hat Swiss Olympic nicht aufgegeben und an neuen Konzepten gearbeitet. Jetzt will man dezentrale Spiele über die ganze Schweiz verteilt ausrichten. Der Verband hofft zudem auf eine glückliche Fügung. Denn die Zeit wird knapp, das IOC hat für 2030 noch keinen Austragungsort. Mehrere aussichtsreiche Bewerbungsorte haben abgesagt. So das japanische Sapporo, das die Bewerbung wegen der grassierenden Korruption bei den Sommerspielen 2020 in Tokio zurückzog.

Im Rennen sind derzeit noch die beiden französischen Regionen Provence-Alpes-Côtes d’Azur und Auvergne-Rhône-Alpes, die zusammenspannen wollen. Die beiden Regionalpräsidenten statteten kürzlich IOC-Präsident Thomas Bach einen Besuch am Sitz der Organisation in Lausanne ab. Allerdings stehen sie einer wachsenden Opposition aus der Bevölkerung gegenüber. Umweltverbände, Klimaaktivist:innen, aber auch Wissenschaftlerinnen und Sportler forderten kürzlich in einem von der Zeitung «Le Monde» veröffentlichten Beitrag eine Volksabstimmung über das Projekt. Es soll eine öffentliche Debatte darüber geben, ob das IOC das Recht habe, sich mit seinen Auflagen für die Spiele in die Souveränität eines Landes einzumischen – und ob es überhaupt wünschbar sei, umweltschädliche Veranstaltungen mit viel künstlichem Schnee zu organisieren.

Ebenfalls im Rennen ist Schweden, das die Spiele dezentral an vier Orten ausrichten will. Die Projektorganisation ist dort schon weiter als in der Schweiz. So gibt es etwa bereits einen Bericht dazu, wie der CO₂-Ausstoss der Spiele im Vergleich zu früheren Anlässen um achtzig bis neunzig Prozent reduziert werden könnte.

Welches Vermächtnis?

Swiss Olympic hat Mitte Oktober eine Machbarkeitsstudie veröffentlicht, die zum wenig überraschenden Ergebnis kommt, dass die Spiele in der Schweiz realisierbar seien. Die Studie ist gespickt mit PR-Sätzen, was ihre Aussagekraft in Zweifel zieht. «Olympia hat Strahlkraft, um eine Gesellschaft nachhaltig und über den Sport hinaus zu entwickeln», heisst es da etwa, die Austragung wäre ein «Boost für die Schweizer Innovationskraft», könnte «echten, dauerhaften Mehrwert» schaffen.

Die Vorstellungen von Swiss Olympic beruhen darauf, dass die Spiele an Orten stattfinden, wo bereits die nötigen Infrastrukturen vorhanden sind, weil in den Jahren vor den Winterspielen Europa- oder Weltmeisterschaften angesetzt sind. So fänden Bobrennen, Skiakrobatik und Snowboard etwa in St. Moritz statt, alpiner Skisport in Crans-Montana, Eishockey in Zürich und Fribourg, Langlauf im Obergoms oder Biathlon in der Lenzerheide. Auf ein Olympisches Dorf soll verzichtet werden, die Sportler:innen wären in Hotels übers ganze Land verteilt untergebracht.

Das alles tönt auf den ersten Blick vernünftig. Das findet auch der Geograf Martin Müller, der an der Universität Lausanne zu den Auswirkungen von Olympischen Spielen forscht: «Vor zehn Jahren wäre man mit dem dezentralen Ansatz beim IOC noch nicht durchgekommen, jetzt könnte es klappen», sagt er.

Allerdings sieht Müller auch diverse kritische Aspekte. So bleibt die Studie sehr vage betreffend das Vermächtnis – die «Legacy» –, das die Spiele haben sollen. Bei Olympischen Spielen sollen nicht nur Wettkämpfe stattfinden, es soll auch etwas Positives zurückbleiben. «Olympische Spiele haben die Tendenz, viel zu versprechen, aber nur wenig davon zu erfüllen», sagt Müller. Am Ende zähle, dass die Spiele stattfänden. Alles andere werde zweitrangig, je näher man dem Austragungstermin komme.

Bei Swiss Olympic kann man im Moment nicht genau sagen, was das konkrete Vermächtnis der Olympischen Spiele wäre. «Die Machbarkeitsstudie zeigt auf, wie gross das Potenzial für ein Vermächtnis ist», sagt ihr Sprecher Alexander Wäfler. «Konkrete Vermächtnisprojekte werden in einem nächsten Schritt entwickelt.» Hippolyt Kempf sagt, die Spiele könnten eine Chance sein, über den Wintersport und den Wintertourismus nachzudenken. «Wintertourismus ist ein Kulturgut. Wir müssen uns überlegen, wie wir ihn nachhaltig sichern.»

Immerhin ein Punkt scheint Swiss Olympic klar: Mit den Spielen könne eine «Wertschöpfung» geschaffen werden, die die Kosten um den Faktor 1,5 bis 3 übertreffe. «Ökonomische Nachhaltigkeit» nennt sich das in der Machbarkeitsstudie.

Martin Müller sagt, bei den Angaben zur Wertschöpfung werde oft «masslos übertrieben». Olympische Spiele lösten meist nur kurzfristige wirtschaftliche Impulse aus. Klar ist: Die Hotellerie würde profitieren. Hotelbetten und Ferienwohnungen dürften Monate im Voraus ausgebucht sein, mit völlig überteuerten Preisen. Nachhaltig ist das allerdings nicht.

Swiss-Olympic-Sprecher Wäfler betont, dass es dem Verband nur um den Sport gehe und keine Tourismusförderung beabsichtigt sei. Allerdings finden sich im Vorstand von Swiss Olympic mehrere Personen, die in enger Beziehung zum Tourismus stehen. Etwa Sergei Aschwanden, der auch im sechsköpfigen Lenkungsausschuss der Kandidatur sitzt. Der Judosportler holte 2008 für die Schweiz eine Bronzemedaille an den Olympischen Spielen in Peking. Heute politisiert er für die FDP im Kantonsrat der Waadt, ist unter anderem Vorstandsmitglied des Hotelierverbands der Romandie sowie Generaldirektor des Waadtländer Tourismusverbands Portes des Alpes.

Im Lenkungsausschuss tätig ist auch Urs Lehmann, Präsident von Swiss Ski und Abfahrtsweltmeister von 1993. Lehmann gilt als Gesicht der aktuellen Olympiapläne. Für ein Gespräch mit der WOZ hat er keine Zeit. Swiss Ski hatte vergangenes Jahr auf der Lenzerheide eine Aktiengesellschaft gekauft, die dort eine Biathlonanlage sowie ein dazugehöriges Hostel und Bistro besitzt. Lehmann ist jetzt Verwaltungsratspräsident dieser AG. Auf der Anlage findet 2026 die Biathlon-WM statt, und 2030 sollen dort die olympischen Biathlonwettkämpfe stattfinden.

Budget mit Fragezeichen

Armando Lenz ist Geschäftsführer bei Pro Natura Graubünden. Er steht einer Olympiakandidatur sehr kritisch gegenüber und befürchtet «eine erhebliche Belastung für die Natur und die Bevölkerung». Speziell die Biathlonanlage auf der Lenzerheide ist ihm ein Dorn im Auge. Pro Natura habe deren Ausbau immer wieder bekämpft und oft auch recht bekommen. Die Anlage liegt in einer Moorlandschaft, in der Umgebung leben Auerhühner, die stark bedroht sind und als «Schirmart» auch für andere seltene Tierarten von grosser Bedeutung seien.

Doch auch sonst hat Lenz Bedenken: Dass die Spiele an Orten stattfinden, die jetzt schon stark vom Tourismus geprägt sind, findet er zwar grundsätzlich in Ordnung. Doch noch mehr Tourismus ginge vor allem auf Kosten der Einheimischen, die eh schon Mühe hätten, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Generell sei die Zukunft des Wintertourismus angesichts der Klimakrise ungewiss. Es müssten immer grössere Investitionen in künstliche Beschneiungsanlagen getätigt werden. Dabei werde so getan, als ob die Wasserressourcen unendlich wären, was nicht der Fall sei.

Swiss Olympic hofft darauf, in der Bevölkerung Begeisterung für die Pläne zu entfachen. Ergebnisse einer Umfrage in der Machbarkeitsstudie sollen belegen, dass zwei Drittel der Bevölkerung einer Schweizer Olympiakandidatur positiv gegenüberstehen. Allerdings sagen bei derselben Umfrage 71 Prozent, dass sie dem IOC gegenüber misstrauisch seien.

Am 24. November entscheidet das Sportparlament von Swiss Olympic, ob eine Kandidatur weiterverfolgt werden soll. Nach dem erwartbaren Ja dürften die Sportfunktionär:innen das Tempo erhöhen; schon jetzt ist der Zeitplan sehr knapp: Das IOC will bereits im nächsten Sommer definitiv über den Austragungsort entscheiden. Volksabstimmungen kann es bis dann keine mehr geben. Hippolyt Kempf fragt sich: «Schaffen wir es, eine hohe Qualität in so kurzer Zeit zu bringen?» Und fügt an: «Ich hätte als Veranstalter grosse Demut, als Leistungssportler wäre ich mir aber solche Herausforderungen gewohnt.»

Möglicherweise ist jetzt für Swiss Olympic aber die letzte Chance für eine Bewerbung ohne grössere Einflussnahme des Bundes: 2021 hat der Nationalrat ein Postulat überwiesen, das den Bundesrat beauftragt, rechtliche Anpassungen vorzuschlagen, damit das Parlament und die Bevölkerung bei der Organisation von Olympischen Spielen und anderen Megaevents mehr Mitsprache haben.

Die Stimmbevölkerung aktuell nicht einzubeziehen, wird von Swiss Olympic damit gerechtfertigt, dass weder Bund noch Kantone für die Kosten der Durchführung zu zahlen hätten. Allerdings ist das nur die halbe Wahrheit: Mögliche Sicherheitskosten der öffentlichen Hand, Aufwände der Armee und der Polizeikorps könnten beträchtlich sein. Martin Müller verweist auf das Beispiel der Winterspiele von Vancouver 2010: Damals seien 175 Millionen kanadische Dollar an Sicherheitskosten budgetiert gewesen, real hätten sie am Schluss fast eine Milliarde betragen.

Müller setzt auch beim Budget von Swiss Olympic grosse Fragezeichen. Geplant sind 1,5 Milliarden Franken Einnahmen aus Beiträgen des IOC, von Sponsor:innen und durch Ticketverkäufe. In etwa gleich hoch sollen die Ausgaben sein. «Das überrascht mich schon», sagt er. Im Vergleich zu anderen Spielen sei das extrem tief gerechnet. Gerade angesichts der hohen Lohnkosten in der Schweiz kann er nicht glauben, dass dieses Budget eingehalten wird.

Was wäre also, wenn ein Jahr vor den Spielen plötzlich das Geld ausgeht? Alexander Wäfler von Swiss Olympic sieht da keine Gefahr. Man habe eine Reserve von 200 Millionen eingerechnet. Diese müsse nach Vorgaben des IOC auf ein Sperrkonto einbezahlt werden. Martin Müller ist skeptischer. «Kein Land wird sich leisten können, ein Jahr vor Olympia alles abzusagen. Das wäre eine totale Blamage. Wenn das Geld nicht reicht, trägt das Defizit am Ende der Steuerzahler.»