Ruedi Widmer: Entweder oder? Nein, danke!

Nr. 49 –

Dem binären Denken eins ausgewischt: Der Zeichner und WOZ-Kolumnist Ruedi Widmer wurde mit dem Winterthurer Kulturpreis ausgezeichnet. Die Laudatio.

Cartoon von Ruedi Widmer: Aktion Klimawandelhalle
Pegelnotstand im Bundeshaus: Ruedi Widmer in der WOZ vom 21. Juni 2007.

Diese Laudatio auf Ruedi Widmer halten zu dürfen, ist zugleich höchst ehrenvoll, aber auch ziemlich undankbar, wie mir schnell klar wurde. Schwierig ist vor allem, dass ich nun umständlich mit Worten beschreiben soll, was Ruedis Zeichnungen so viel direkter, eleganter und mehrstimmiger in uns auslösen. Das kommt mir vor wie damals, als der Sprachwissenschaftsprofessor uns Studierenden die Struktur eines Witzes erklärte: möglicherweise erhellend, aber auf jeden Fall nicht lustig.

Ich will mir darum die Hilfe von Ruedis Bildsprache ausleihen und auch die Fantasie der hier Versammelten. Schliessen Sie jetzt also bitte die Augen, und stellen Sie sich mich so vor, als wäre ich von Ruedi Widmer gezeichnet worden, so als unten sauber abgeschnittene Kartoffel mit Strichbeinen, die statt in ein Mikrofon in einen stilisierten Spargel spricht, und auch die restlichen Anwesenden inklusive Gattin des Preisträgers und Stadtpräsident dürfen Sie sich gerne mit Vogelkämmen, Gurkennasen, braunem Fell oder einfarbigen Überziehern, wahrscheinlich zahnlos, aber dafür mit vereinzelten Strichen als Haarersatz imaginieren.

Teppichmutter im Café Troika

Hier ein kleiner rechtlicher Hinweis: Natürlich fantasieren Sie das alles jetzt ohne Gewähr, und weder ich noch Ruedi Widmer können dafür haftbar gemacht werden, wie anwesende Personen vor Ihrem geistigen Auge möglicherweise aussehen.

Wenn Sie sich nun mich als widmersches Kartoffelwesen vorstellen, dann kriegt sogleich auch noch die dürrste Information einen absurden Glanz. Und wenn ich Ihnen biografische Details über den Preisträger sage, etwa, dass er 1973 in Winterthur geboren wurde und bei der HSB-Werbeagentur Zürich die Lehre zum Grafiker absolviert hat, dann klingt das aus einem Kartoffelmund nicht weniger komisch, als wenn ich Ihnen sagte, dass er in Wahrheit im einstigen Café Troika als Sohn einer Teppichmutter zu Welt kam und später beim Giraffenversandhandel Pfüchlins die Ausbildung zum Weissweinschrauben-Degustateur machte. Dass er 2001 beim legendären Satiremagazin «Titanic» als Bankangestellter der Credit Suisse den CDU-Spendenskandal aufdeckte, stimmt übrigens. Hingegen stimmt nicht, dass er für den Winterthurer «Landboten» bereits 1200 Folgen von «Die letzten Geheimnisse einer rationalen Welt» gezeichnet hat. Tatsächlich sind es, Stand heute, erst 1199.

Vielleicht erkennen wir nun auch ein Prinzip, das ganz grundsätzlich Ruedis Arbeiten auszeichnet, nämlich unsere Alltagsrealität von Weltpolitik bis Privathaushalt als unfreiwillig absurde Veranstaltung zu entlarven, indem Dinge verschoben werden – seien es Körperformen, Lebensformen, Raumverhältnisse oder Wortbedeutungen.

Von Bilanz nach Maiengeld

Wenn er aus dem Züri-Fäscht- ein Züri-Fruscht-Komitee macht, sich Zigarettenlauch und neben Erziehern auch Siezieher vorstellt, als gutschweizerischen Kompromiss eine Energiewende um 180 Grad vorschlägt und die Windkraftpropeller kurzerhand im Boden versenkt; oder wenn er Graubünden zu Baubünden umzeichnet, mit einem Alpenpanorama inklusive Offertenpass, in dem der Glacier-Erpress zwischen Maiengeld und Bilanz verkehrt – dann setzt er damit das Hirn genauso wie das Zwerchfell in Bewegung. Ruedis verdrehter Bild-Wort-und-Denk-Witz entstellt die Realität zur Kenntlichkeit: Er macht uns Zusammenhänge – die politischen, sozialen, historischen und persönlichen – gerade dadurch klar, dass er diese Zusammenhänge überraschend neu verdrahtet.

Durch seine absurden Drehungen und Verschiebungen gelingt Ruedi Widmer etwas, wofür ich ihn ganz besonders bewundere und was mir heute wichtiger und ernster scheint als je zuvor: Er wischt dem bloss binären, zweiseitigen Denken eins aus. Denn wer dreht und schiebt, schneidet oder teilt nicht, und das mutet heute subversiv an, wo alle Diskussionen auf ein blosses Entweder-oder zurechtgestutzt werden.

Freund oder Feind, wer nicht für mich ist, ist gegen mich: Diese fatale Logik, die so tut, als sei die Welt höchstens zweifarbig und somit alle Fragen durch ein blosses Ja oder Nein zu klären, ist die Logik der populistischen Parolen – eine letztlich totalitäre Logik, weil sie nur totale Positionen kennt, entweder uneingeschränkte Ablehnung oder uneingeschränkte Zugehörigkeit, eine Logik der Spaltung und Ausgrenzung, die aktuell leider wirksamer scheint denn je. Und obwohl wir wissen müssten, dass keine einzige der wirklich drängenden Fragen mit einem blossen Ja oder Nein gelöst werden kann – weder der Nahostkonflikt noch das Schicksal von Flüchtenden, weder Klimawandel noch globale Ausbeutung –, scheinen die schwarzweissen Lösungen, die eben gar keine Lösungen sind, an Popularität zu gewinnen, jetzt gerade wieder in den Niederlanden.

Im besten Sinn daneben

Ruedi Widmer leistet da Aufklärungsarbeit. Seine Zeichnungen und Kolumnen funktionieren nie binär, sie sind nicht einfach für oder gegen etwas, sondern sie sind verschoben, verdreht, drunter und drüber, sie sind im besten Sinne daneben, sie sind vordergründig und hintersinnig und das alles gleichzeitig.

Der slowenische Philosoph Mladen Dolar hat einmal einen wunderbaren Text darüber geschrieben, warum die angeblich grossen philosophischen Fragen oft so dumm sind. Die Frage nach Sein oder Nichtsein zum Beispiel, die sich Hamlet stellt und die – Sie merken es – auch wieder nur binär funktioniert. Nach Dolar wäre die wirklich kluge Antwort auf die Frage von Sein oder Nichtsein: «Nein, danke.» Eine Antwort also, die gar nicht erst auf die blosse schwarzweisse Logik der Ausgangsfrage einsteigt, sondern die stattdessen diesen falschen Gegensatz und seine binäre Logik kurzerhand aushebelt; eine Antwort also, die nicht das eine oder das andere wählt, sondern sich querstellt.

Und genau so brillant scheint mir auch Ruedi Widmers Kunst zu funktionieren. Sie antwortet angesichts unserer vielfarbigen Welt, die sich allzu gern in simple Gegensätze flüchtet, auf die wichtigen Fragen: «Nein, danke!» Oder besser noch: «Ja, bitte!» Oder auch: «Und wenn schon, dann bitte gerne auch mit Vermicelles direkt aus der Dusche.»

Der Kultur- und Medienwissenschaftler Johannes Binotto hat diese Laudatio am 28. November anlässlich der Verleihung des Kulturpreises der Stadt Winterthur an Ruedi Widmer gehalten.