Von oben herab: Born to be Wildbret

Nr. 49 –

Stefan Gärtner über Hirschmassen

Ich bin ja nun in einem Lebensabschnitt angelangt, der, falls man nicht ein ewiger Tubel ist, mit einer gewissen Altersweisheit einhergeht, und immerhin das habe ich gelernt: Wie man es macht, ist es falsch.

Sitze ich also vor zwei Wochen in diesem Lokal und bestelle das Hirschgulasch nicht, weil ich irgendwo aufgeschnappt habe, dass Wild, das auf dem Teller landet, nicht unbedingt durch irgendwelche Wälder zieht, deren Gesundheit es durch Überpopulation schadet, sondern in Gattern herumsteht und genauso dickgefüttert wird wie Mastvieh immer. Ich bin nicht sicher, ob das stimmt, und wie ich es hier so hinschreibe, klingt es wie von Peta ausgedacht, aber in der Beiz habe ich dann die Käsespätzle bestellt. Der Kollege und seine Frau nahmen das Gulasch, und während das eigentlich die Höchststrafe ist, Leuten beim Essen von Gerichten zuzusehn, die man sich selbst verkniffen hat, waren die Kässpatzen derart vorzüglich, dass ich die Mahlzeit in dem guten Gefühl beenden konnte, einmal alles richtig gemacht zu haben.

Und jetzt diese Unterzeile aus der NZZ: «Obwohl die Jäger immer mehr Hirsche schiessen, nehmen die Bestände weiter stark zu und richten grosse Schäden in den Wäldern an.» Im Kanton Genf, der vor fünfzig Jahren die private Jagd verboten hat, fressen die Tiere wohl alles kurz und klein, so wie sich durch Berliner Randbezirksvorgärten das Wildschwein wühlt, dessen Vermehrung wohl auch nicht mehr recht beizukommen ist.

Ich weiss nicht, ob das als guter Grund gelten kann, es abzuschiessen und aufzuessen, bin jetzt aber immerhin um die Information klüger, dass das «obwohl» der oben zitierten Neuen Zürcher Zeile ein «weil» sein muss. Ein Carl Sonnthal von einer «Interessengemeinschaft Wild beim Wild» sagt nämlich: «Jagd bedeutet nicht weniger Wild, sondern mehr Geburten», denn der Überlebensinstinkt stimuliere die unter Druck gesetzten Tiere dazu, sich schneller zu vermehren. «Im Schweizer Nationalpark im Engadin wird seit 100 Jahren nicht mehr gejagt, und trotzdem bleibt der Bestand der Gämsen seit 1920 konstant um die 1350 Stück», erklärt also Sonnthal, während ich mich frage, wie das gehen soll, dass sich Tiere schneller vermehren: Einmal im Jahr ist Brunft, «die Wurfgrösse liegt meist bei einem Jungen» (Wikipedia), und da kann hirsch doch nicht so einfach nachlegen, wenns eng wird! Oder schwängert er sich vor Überlebensinstinkt dann einfach durch den Wald? Und was sagen denn da die Kühe dazu? «Geh mir weg mit deinen Instinkten, ich mach jetzt erst mal meinen Abschluss»?

Vielleicht fallen im Engadin ja immer genügend Gämsen vom Berg oder werden vom Adler geholt, während den Hirschen nur per Wolf, Schiessgewehr oder Geburtenkontrolle beizukommen ist: «Tatsächlich wird die Methode der Immunokontrazeption – also Antibabypille statt Gewehrkugel – bereits heute in einigen Ländern angewendet», doch stünden, fährt die Tante fort, Versuche mit Sterilisation in der Schweiz nicht zur Debatte. «Abgesehen davon, dass sie die Würde der Wildtiere verletzt, ist ihre Anwendung in Beständen weder praktikabel noch nachhaltig», wird eine Zuständige zitiert, und wenn ich mitteile, von der Würde des Wildtiers hier zum ersten Mal zu hören, klingt das hoffentlich nicht wie Spott.

Im Fernsehen sah ich neulich, wie in einem dieser hochauflösend indiskreten Tierfilme eine Gazelle vor drei Geparden davonlief. Die Geparden gewannen, und ob die Gazelle dann würdevoller starb als ein Hirsch, den eine Gewehrkugel trifft, ist vielleicht eine Geschmacksfrage. Mein Verdacht ist jedenfalls, dass Veganismus sich da ein bisschen blind macht. «Vegan – weil mir Gewalt nicht schmeckt» steht auf einem Auto in meinem Viertel, aber die Natur, der das Tier in Freiheit und Würde überlassen wird, ist leider die Gewalt selbst. So oft kann ich das Gulasch gar nicht stehen lassen.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.

Sein Buch «Terrorsprache» ist im WOZ-Shop erhältlich unter www.woz.ch/shop.