Israel und Palästina: Der Wind dreht im Westjordanland

Nr. 51 –

Was macht die islamistische Hamas unter jungen Palästinenser:innen populär? Wie steht es um die Unterstützung der konkurrierenden Fatah? Unterwegs zwischen den Checkpoints.

Protestierende an einer Kundgebung in Ramallah
Wut und Trauer in Ramallah: Die Protestierenden fordern ein Ende der israelischen Besetzung.

Kurz nach dem Freitagsgebet versammeln sich auf dem Manaraplatz in Ramallah etwa 200 Menschen. Auf den Fernsehbildschirmen der Cafés flackern Bilder Hunderter gefesselter und bis auf die Unterhose ausgezogener Männer aus Gaza, bewacht von israelischen Soldat:innen. In den Gesichtern in Ramallah spiegeln sich Trauer und Wut, die Protestierenden fordern ein Ende der israelischen Angriffe – und der Besetzung: «Kein Kompromiss, wir wollen unser Land», rufen sie. Und: «Danke, danke, o Kassam», an die Adresse der Kassam-Brigaden, des militärischen Arms der islamistischen Hamas. Zwischen den palästinensischen Fahnen, die auf dem Platz geschwenkt werden, wehen auch deren grüne.

Vor dem Krieg wäre die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) wahrscheinlich dagegen vorgegangen: Die im Westjordanland herrschende Fatah-Bewegung unterbindet seit Jahren brutal jede politische Konkurrenz. Heute bleibt es ruhig. Ramallah mit seinen 40 000 Einwohner:innen ist das liberale Zentrum des kleinen Teils der Westbank, der den Palästinenser:innen nach Jahrzehnten gescheiterter Friedensverhandlungen, israelischer Besiedlung und der Aufteilung während des Oslo-Friedensprozesses in den neunziger Jahren geblieben ist. Hier liegen die Büros und die Ministerien der Selbstverwaltung, aus der einmal ein palästinensischer Staat hätte werden sollen.

Die meisten Demonstrierenden gehören zu einer einigermassen privilegierten Mittelschicht. Weshalb sie das Massaker der Hamas unterstützen, darüber wollen viele der Teilnehmer:innen nicht sprechen. Neben der Wut herrscht vor allem Angst. Mehr als 4000 Menschen hat die israelische Armee in der Westbank laut palästinensischen NGOs binnen zweier Monate – oft ohne Anklage – in Administrativhaft genommen. Viele berichten, Soldat:innen würden an Checkpoints Telefone auf verdächtige Social-Media-Posts prüfen. Hinzu kommen fast 500 Palästinenser:innen, die seit Anfang Jahr bei Razzien und Zusammenstössen vom Militär erschossen wurden. Israelische Politiker:innen betonen regelmässig, der Krieg in Gaza gelte der Hamas. Viele hier in Ramallah sind überzeugt, er gelte dem palästinensischen Volk.

Abseits des Protests liegt über Ramallah wie vielerorts im Westjordanland dieser Tage eine angespannte Stille. Die Armee hat Verbindungsstrassen zwischen den Ortschaften mit Checkpoints geschlossen. Immer wieder gibt es Angriffe durch extremistische Siedler. Viele Menschen bleiben zu Hause.

Das Schweigen von Abbas

In einem Café in der Stadtmitte scrollt Ehab Bessaiso auf seinem Smartphone durch Bilder aus Gaza. Der 45-jährige ehemalige Sprecher und Kulturminister der PA ist aufgewühlt. «Ich bin dort aufgewachsen, schau dir das an», sagt er und zeigt verweste Körper auf einer Strasse. Das Viertel seiner Eltern: eine Trümmerwüste. Seine Schule, sein Kulturzentrum: Schutthaufen.

Wie viele Palästinenser:innen sieht Bessaiso den 7. Oktober nicht als historischen Einschnitt durch den grössten tödlichen Angriff auf Jüd:innen seit dem Holocaust, sondern als Resultat jahrelanger Unterdrückung. Der Angriff sei «furchtbar» gewesen, doch Israel sei letztlich schuld daran, dass nicht rechtzeitig eine Lösung gefunden worden sei. Die Regierungen der letzten Jahre, vor allem unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, hätten die palästinensische Selbstverwaltung verunmöglicht. «Sie wollten die PA nicht, sie wollten die Hamas nie. Sollen sie es doch offen sagen: Sie wollen keine Palästinenser in diesem Land.»

Die Unterstützung der westlichen Staaten für die Palästinenser:innen sei eine «Bürokratie des Scheiterns» gewesen. Die PA, die dieser Tage besonders von den USA als mögliche Regierung eines Nachkriegsgaza ins Spiel gebracht wird, beschreibt Bessaiso als «so schwach wie nie zuvor». Das Schweigen des palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas ist bezeichnend. Seit dem 7. Oktober hat der Politiker, der auch den Vorsitz der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO sowie die Führung der regierenden Fatah-Partei innehat, die Hamas nicht verurteilt. In Ramallah fürchte man, den letzten Rest Legitimität zu verlieren, heisst es aus Diplomat:innenkreisen: In den Strassen des Westjordanlands wehe der Wind für die Hamas.

Jüngste Umfragen des palästinensischen PSR-Instituts zusammen mit der deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung stützen diese Annahme. Demnach hat sich die Unterstützung für die Hamas im Fall von Wahlen im Westjordanland seit dem 7. Oktober verdreifacht – auch wenn sie weiterhin bei weniger als fünfzig Prozent liegt. Dafür fordern mittlerweile rund neunzig Prozent der Befragten den Rücktritt von Abbas. Das bedroht ein politisches System, in dem der Machterhalt einer intransparenten Elite längst das oberste Ziel ist. Wahlen werden seit Jahren verschoben. Rund siebzig Prozent der Menschen sind unter dreissig und haben noch nie in ihrem Leben gewählt.

Zu den Kritiker:innen gehört auch Bessaiso: 2021 verlor er sein Amt als Leiter der Nationalbibliothek, weil er gegen die PA-Führung aufbegehrt hatte. Nach dem Tod des Abbas-Kritikers Nisar Banat in Polizeigewahrsam waren Tausende Palästinenser:innen gegen die PA auf die Strasse gegangen. Bessaiso schrieb damals: «Meinungsunterschiede sind keine Krankheit, keine Gefahr im Verzug und keine Rechtfertigung für Blutvergiessen.» Kurz darauf wurde er von Abbas persönlich entlassen. Trotzdem beschuldigt Bessaiso bei der Suche nach Gründen für den desolaten Zustand der PA zuerst Israel, dann die internationale Gemeinschaft: Unter der Besetzung könne keine Entwicklung stattfinden.

So hat sich in den vergangenen Jahren vor allem die junge Generation radikalisiert. Anfang 2022 verübten junge Palästinenser eine Reihe von Terroranschlägen in israelischen Städten. Die israelische Führung antwortete mit einer Strategie, die in Sicherheitskreisen als «Rasenmähen» bezeichnet wird: Weitreichende Festnahmen sollen die Fähigkeiten der militanten Gruppen minimieren. Israelischen Behörden zufolge wurden dadurch in den letzten Jahren zahlreiche Anschläge verhindert. Doch auch Hunderte Palästinenser:innen wurden getötet und zahlreiche junge Menschen in die Arme bewaffneter Gruppen getrieben.

Gewehr eines jungen Kämpfers der Al-Aksa-Märtyrerbrigaden
Das Bild seines toten Kameraden klebt auf dem Magazin: Ein junger Kämpfer der Al-Aksa-Märtyrerbrigaden in Tulkarem.

Einer von ihnen ist Assem, der seinen richtigen Namen nicht nennen will. An einem Freitag Anfang Dezember beobachtet der etwa Zwanzigjährige aus dem Schutz einer Gasse die Zufahrtsstrasse zum Flüchtlingslager in Tulkarem. Er trägt eine olivgrüne Weste mit dem Abzeichen der Fatah-nahen Al-Aksa-Märtyrerbrigaden. Um seine Schultern hängt ein M16-Sturmgewehr. «Wenn sie uns verhaften oder erschiessen und unsere Häuser abreissen, will ich mich verteidigen», sagt er. Erst zwei Nächte zuvor habe die Armee das Camp gestürmt und sieben Menschen festgenommen.

Er sehe keine Alternative zu den Waffen, sagt Assem, der wie viele im Camp die Schule vorzeitig abgebrochen hat. Er wolle ein besseres Leben für seine künftige Familie, ohne all die Zerstörung und Gewalt. «Aber du kommst da rein wegen dem, was du erlebst», sagt er. «Du kannst an einem Abend mit Freunden zusammensitzen, und am nächsten Tag sind sie tot.» Auf das Magazin seiner Waffe hat er das Foto eines jungen Mannes geklebt. Dschihad aus seiner Brigade in Tulkarem sei am 6. November von Soldaten erschossen worden.

Die Al-Aksa-Märtyrerbrigaden waren 2001, während der Zweiten Intifada, als Terrorgruppe gegründet worden, hatten aber 2007 zugestimmt, ihre Waffen abzugeben. Erst in den letzten Jahren haben sie sich wieder bewaffnet. Am 29. März 2022 bekannte sich die Gruppe zu einem Anschlag in der israelischen Stadt Bnei Brak mit fünf Toten. «Der 7. Oktober war nur eine Frage der Zeit», meint Assem. Trotzdem ist er selbst dem Ruf der Hamas nicht gefolgt, sich der «Operation Al-Aksa-Flut» anzuschliessen. «Ich kämpfe hier, nicht in Tel Aviv oder Haifa.» Die Taten der Hamas heisst er gut: Deren Strategie sei «der richtige Weg zur Befreiung des palästinensischen Volkes».

Hoffnung auf einen Mittelweg

Ibrahim Dalalsha, der Direktor des palästinensischen Thinktanks Horizon Center, beobachtet die Radikalisierung mit Sorge und Verständnis zugleich. «Der Krieg hat zu schnell und zu heftig begonnen, um den Palästinensern die Chance zu geben, sich auf Israels Seite zu stellen», sagt er. Der Strom an Bildern aus Gaza, von unter Trümmern begrabenen Familien, lasse vielen emotional keinen Raum, die Hamas-Massaker überhaupt noch zu sehen.

Aus dem Fenster von Dalalshas Büro im fünften Stock eines Hauses in Ramallah fällt der Blick auf Büros internationaler Organisationen und Fahrzeuge des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. «Nach dem Ende des Krieges wird die Rationalität zurückkehren und die Unterstützung für die extremistischen Gruppen zurückgehen», sagt der Anwalt, der rund zwanzig Jahre lang die US-Regierung und die PA beraten hat. Doch Israel müsse akzeptieren, dass sich die Ideologie der Hamas nicht militärisch zerstören lasse. «Wir brauchen eine bessere Ideologie.»

Der Grossteil der Palästinenser:innen sei weder extrem religiös noch gegen eine Anerkennung Israels, sondern fordere ein Ende der Besetzung und die Unabhängigkeit. Die Fatah habe seit der Machtübernahme durch die Hamas in Gaza vor siebzehn Jahren auf Gewaltlosigkeit und Verhandlungen gesetzt, damit aber kaum etwas erreicht. «Netanjahu hat die PA jahrelang geschwächt», sagt Dalalsha. «Der ehemalige US-Präsident Trump hat sie dann vollends aussen vor gelassen, als er die Verhandlungen mit arabischen Staaten über eine Normalisierung ihres Verhältnisses zu Israel ganz ohne die Palästinenser führte.»

Die Hamas hingegen setze zur Erreichung der Unabhängigkeit auf Gewalt und sei damit in den Augen vieler Palästinenser:innen schlicht erfolgreicher. «Sie haben 2006 die Wahlen in Gaza gewonnen, weil sie den israelischen Abzug und die Räumung der Siedlungen ein Jahr zuvor als eigenen Erfolg verkaufen konnten», sagt Dalalsha.

Seine Hoffnung liegt in einer technokratischen Regierung, die einen Mittelweg findet. Die palästinensische Gesellschaft sei gut ausgebildet, es gebe eine grosse Zivilgesellschaft und Menschen, aus denen sich eine neue Führung bilden lasse. Diese könnte nach einer Übergangsphase und unter Einbezug der lokalen Gesellschaft auch eine Nachkriegsordnung in Gaza prägen. Voraussetzung sei eine Handreichung für gemässigte Palästinenser:innen durch die Aufhebung von Einschränkungen sowie ein glaubhafter Weg zur Unabhängigkeit. Dann sei es möglich, den Kreislauf der Gewalt zu beenden.

Wenige Minuten vom Horizon Center entfernt liegt die Mukataa, der Sitz von PA-Präsident Abbas. Anzeichen für den Wandel, auf den Dalalsha hofft, gibt es bisher kaum. Seit Kriegsbeginn wurden die internationalen Staatsgäste hier empfangen, von US-Aussenminister Antony Blinken bis zum französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Trotz Abbas’ autoritärem Führungsstil und zahlreicher Korruptionsvorwürfe gegen die PA scheinen andere politische Ansprechpartner:innen derzeit nicht vorhanden.

Doch selbst wenn die PA in Gaza nach einer Übergangsphase eine Rolle übernehmen könnte: Abbas ist 88 Jahre alt, immer wieder machen Gerüchte über seinen Gesundheitszustand die Runde. Es gibt keinen Vizepräsidenten, Institutionen wie das Parlament funktionieren nicht mehr. Es droht ein politisches Vakuum, in dem viele Palästinenser:innen mit einem bewaffneten Kampf um die Nachfolge rechnen. Mögliche Nachfolger wie Hussein al-Scheich, Mohammad Schtajjeh oder Muhammad Dahlan haben kaum mehr Rückhalt als Abbas selbst. Oppositionelle Stimmen gibt es so gut wie keine. Marwan Barghuthi, der Einzige, der fraktionsübergreifend Unterstützung geniesst, sitzt eine mehrfach lebenslängliche Haftstrafe wegen der Beteiligung an Terroranschlägen ab. Selbst bei weiteren Gefangenenaustauschen dürfte er einer der Letzten sein, den Israel freilassen möchte.

Israels Regierungschef Netanjahu hat am Dienstag erneut klargemacht, dass er derzeit keine Rolle der PA in Gaza sieht: «Gaza wird weder Hamastan noch Fatahstan», erklärte er entgegen den ausdrücklichen Wünschen der USA, Israels wichtigsten Verbündeten. Israel wirft der PA unter anderem vor, Familien von Attentäter:innen finanziell zu unterstützen. Israel werde die Kontrolle über die Sicherheit in Gaza behalten, «denn wir haben gesehen, was passiert, wenn wir es nicht tun». Nach einer Lösung klingt das nicht.