Wahlen in Taiwan: Schwaches Mandat für die neue Regierung

Nr. 3 –

Mit Lai Ching-te von der DPP sind kaum Veränderungen zu erwarten – weder im Verhältnis zur Volksrepublik China noch in der Sozialpolitik.Von Ralf Ruckus

Samstagabend, 13. Januar. Auf der Kundgebung der Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) im Zentrum von Taipeh animiert eine Parteivertreterin Tausende Anhänger:innen zu Jubelwellen für den sich andeutenden Wahlsieg und zum Skandieren nationalistischer Parolen. Gegen 20 Uhr ist klar, dass der DPP-Präsidentschaftskandidat und bisherige Vizepräsident Lai Ching-te die Wahl gewonnen hat.

Lai kommt letztlich auf 40,1 Prozent der Stimmen, auf Hou Yu-ih von der Nationalen Volkspartei (KMT) entfallen 33,5, auf Ko Wen-je von der Taiwanischen Volkspartei (TPP) 26,5 Prozent. Bei einer Wahlbeteiligung von 72 Prozent haben somit 29 Prozent der 19,5 Millionen Wahlberechtigten den Sieger Lai gewählt – ein schwaches Mandat.

Bei der gleichzeitig abgehaltenen Parlamentswahl verliert die DPP zudem ihre Mehrheit. DPP und KMT sind also auf Stimmen der TPP angewiesen. Es wird erwartet, dass diese je nach Sachfrage mit einer der beiden kooperieren wird, um sich so als dritte Kraft zu etablieren.

Noch im November 2023 strebten KMT und TPP ein Bündnis für die Präsidentschaftswahlen an. Die Chancen für einen gemeinsamen Wahlsieg standen gut, hatte die DPP doch die Kommunalwahlen Ende 2022 verloren. Nach acht Jahren unter der DPP-Präsidentin Tsai Ing-wen, die nach zwei Amtszeiten nicht mehr antreten konnte, schienen viele Menschen in Taiwan einen Wechsel zu wollen. Hou und Ko konnten sich jedoch nicht auf ein Bündnis einigen. Das war für ihre Niederlage gegen Lai entscheidend.

Nationalistische Grundhaltung

Alle drei Parteien vertreten einen konservativen Kurs. Unterschiede gibt es in ihrer Entstehungsgeschichte und in ihrer Haltung gegenüber der Volksrepublik China. Deren Regierung sieht Taiwan als abtrünnige Provinz und strebt eine «Wiedervereinigung» an.

Die KMT war einst Gegenspielerin der Kommunistischen Partei im chinesischen Bürgerkrieg bis 1949, als sie mit zwei Millionen Anhänger:innen auf die Insel Taiwan floh. Sie errichtete ein autoritäres, kapitalistisches Regime, das bis 1987 mit Kriegsrecht regierte. Heute vertritt die KMT weiterhin vor allem die Nachkommen der 1949 vom Festland Geflohenen sowie grosse taiwanesische Unternehmen. Letztere wollen weiterhin enge wirtschaftliche Beziehungen mit der Volksrepublik, wo sie enorm investiert haben. Die KMT hofft deswegen auf eine Entspannung der chinesisch-taiwanischen Beziehungen.

Die DPP entstand in den 1980er Jahren aus der demokratischen Opposition gegen die KMT. Sie vertritt vor allem die Interessen der schon vor 1949 auf der Insel lebenden chinesischen Bevölkerung und die der wirtschaftlich bedeutenden kleinen und mittleren Unternehmen. Die DPP verlangt die nationale Eigenständigkeit Taiwans und betont – trotz chinesischer Wurzeln von über neunzig Prozent der Bevölkerung – die Bedeutung einer taiwanischen Identität. Das brachte ihr in den letzten Jahren immer wieder wütende Kritik der Machthaber in Peking ein.

Die TPP schliesslich wurde erst 2019 von Ko Wen-je gegründet und ist ganz auf die Unterstützung ihres Vorsitzenden ausgerichtet. Ko amtierte von 2014 bis 2022 als unabhängiger Bürgermeister von Taipeh. Zunächst von der DPP unterstützt, näherte er sich später der KMT an. Vor der Wahl versuchte er, ein eigenes Profil zu gewinnen, und sprach vor allem junge Leute an, die von der DPP enttäuscht sind.

Kein sozialer Fortschritt

Die Wahl von Lai zum Präsidenten lässt keine Veränderungen erwarten. Gegenüber der Volksrepublik will er den Kurs von Tsai fortsetzen und mit Unterstützung aus den USA den Status quo, die faktische Eigenständigkeit Taiwans, verteidigen – zum Unmut des Regimes in Peking.

In der Sozialpolitik war Lais DPP zuletzt dafür verantwortlich, dass die soziale Situation vieler Menschen prekär blieb. Der Aktivist und Autor Roy Ngerng schrieb Anfang Januar in der «Asian Labour Review», dass sich der Abstand zwischen den jeweils zwanzig Prozent reichsten und ärmsten Haushalten unter der DPP vergrössert habe. Die gestiegene Inflation vor allem bei Lebensmitteln und höhere Wohnungspreise haben die Lage derer mit niedrigem Einkommen verschlechtert. Gemessen an anderen Industrieländern, hat Taiwan einen sehr niedrigen Mindestlohn (umgerechnet etwa 750 Schweizer Franken), den vor allem junge Arbeiter:innen und die südostasiatischen Arbeitsmigrant:innen erhalten; Taiwans Lohnabhängige müssen mit 2000 Arbeitsstunden die zweitmeisten Arbeitsstunden pro Jahr leisten (zum Vergleich: In Singapur sind es 2300, in der Schweiz 1500); und sie haben mit 19 Tagen am zweitwenigsten entlöhnte freie Tage pro Jahr (USA: 10, Schweiz: 29 Tage). Laut Ngerng gehört Taiwan unter den Industrieländern «zu den schlechtesten Orten, was das Arbeiten angeht».

DPP, KMT und TPP versprachen im Wahlkampf lediglich geringe soziale Verbesserungen. Vor allem DPP und KMT redeten die sozialen Widersprüche klein, die belasteten Beziehungen zur Volksrepublik China überschatteten den Wahlkampf. Lai sprach davon, «die demokratische und freie Lebensweise» in Taiwan gegen die Bedrohung aus Peking verteidigen zu wollen. Zu dieser «Lebensweise» gehören offensichtlich auch soziale Ungleichheit, Ausbeutung und der Rassismus gegen Indigene und Arbeitsmigrant:innen.