AHV-Abstimmung: Da ist durchaus noch Wut

Nr. 8 –

Sie haben immer viel gearbeitet, und nun ist im Alter das Budget doch knapp. Eine 13. AHV-Rente würde helfen. Zu Besuch bei vier Senior:innen zwischen Schaffhauser Klettgau und Berner Jura.

Ruedi Amrein in seiner Werkstatt
«Würde ich im Lotto gewinnen, würde ich Solar­panels auf dem Dach installieren»: Ruedi Amrein in seiner Werkstatt.

Ruedi Amrein (70)
«Es würde einiges brauchen, bis es mich verbäset»

Zackigen Schrittes überquert Ruedi Amrein die Hauptstrasse in Wilchingen, 1800 Einwohner:innen, offiziell «verkehrstechnisch abgelegen». Amrein lebt erst seit sieben Jahren hier im Schaffhauser Klettgau, der Zufall hat ihn hierhergespült, über ein paar Ecken wurde ihm zugetragen, es gebe ein günstiges Haus, das zum Verkauf stehe.

Amrein hatte nie einen Bezug zu Wilchingen, aber er weiss trotzdem viel über das «Dichterdorf», wie es auf einer Informationstafel heisst. Er führt an den ehemaligen Wohnhäusern dreier Mundartdichter:innen vorbei, die hier im Dorfkern lebten. Gleich dahinter befindet sich sein Zuhause, in einem kleinen Riegelhausteil. Er halte ja eigentlich nichts von Eigentum, genauso wenig wie vom Erben, erzählt Amrein auf der hölzernen Eckbank in der kleinen Küche. Aber er habe gewusst: Ein günstiges Dach über dem Kopf sei die beste Altersvorsorge.

Das Häuschen ist geschmückt mit Nippes, Zwergen aus Stoff, Figuren und Figürchen. Amrein und seine Partnerin sammeln beide gern: Amrein vor allem signierte Bücher, seine Partnerin Kochbücher. Sie tingeln oft durch die Brockenstuben des Landes. Amrein, so erzählt er es, ist Büezer geworden und Büezer geblieben. Er wächst als eines von zehn Geschwistern in Goldau, Wohlen im Aargau und Erstfeld auf. Der Vater ist Eisenbahner, die Mutter stirbt, als Amrein sechzehn Jahre alt ist.

Als Arbeitsmigrant kommt er 1969 nach Zug, wo er bei Landis & Gyr eine Lehre als Elektro-Eicher macht, als solcher fortan Stromzähler eicht, der Revolutionären Marxistischen Liga beitritt und zum wichtigen Kopf der Industriearbeiter:innen wird. Amrein spricht gern über die Zeit, deren Geschichte er wohl wie kein Zweiter kennt: 48 Jahre blieb er, 30 Jahre davon war er Arbeitnehmer:innenvertreter. Denkt Amrein zurück, ist da durchaus noch Wut. Wie die Gründer der Landis & Gyr das für Zug einst wichtige Unternehmen aus der Hand gaben. Ein Besitzer nach dem anderen kam, optimierte, strukturierte um, entliess, verkaufte weiter. Irgendwann wurden nicht mehr 6000, sondern 500 Menschen beschäftigt. Filetiert hätten sie das Unternehmen, sagt Amrein.

Er blieb und überstand jede Umstrukturierung. Bis man ihn zwei Jahre vor dem offiziellen Pensionsalter entliess. Eine reine Sparübung, es hätte genug Arbeit gegeben. Die unfreiwillige Frühpensionierung: grundsätzlich «pure Lebensqualität». Der bittere Nachgeschmack: Wegen der Kündigung erhält er monatlich etwa hundert Franken weniger Rente aus der zweiten Säule. Hätte er stempeln gehen sollen? Sich neu bewerben, mit 63 Jahren? Er verzichtete darauf. «Ich bin Elektro-Eicher. Was hätte ich tun sollen?»

Amrein, der Büezer, der Bücherfreund, führt durch sein Haus, keine Decke scheint hoch genug für seine Statur. Im oberen Stockwerk sind Amreins «Projekte», wie er sagt, eine Sammlung von fast 3000 signierten Büchern. Dazu ein Raum mit einem Beamer und einer Leinwand, eine kleine Filmsammlung. Das Dach ist nicht isoliert, hier habe er mit Mütze und Schlafsack Skirennen geschaut. Amrein ist ein humorvoller Mensch, er geniesst das Leben.

Von seinen circa 4000 Franken monatlich, die er aus der ersten und der zweiten Säule zur Verfügung hat, bezahlt er alle Ausgaben. Darunter Krankenkasse, Versicherungen, Hypothek des Hauses, Steuern. Reserven hat Amrein «geringe», für eine grössere Reparatur am Haus müsste er das Geld erst auftreiben, vieles macht er noch selbst. «Würde ich im Lotto gewinnen, würde ich Solarpanels auf dem Dach installieren», sagt er. Aber ansonsten? Konsum habe ihm nie etwas bedeutet, und die Ansprüche würden mit dem Alter bescheidener. Auch wenn er sich Sorgen mache, dass alles teurer werde, Strom, Heizung. Die schrumpfende Kaufkraft werde von der Pensionskasse nicht ausgeglichen. Trotzdem: «Es würde einiges brauchen, bis es mich verbäset.»

Zu Amreins Bescheidenheit kommt die Überzeugung. Das politische Gespräch führt er mit Verve. Die erste Säule sei die einzig faire Altersvorsorge. Doch damit lasse sich für die privaten Versicherer nicht geschäften, wie bei so vielem gehe es auch hier um Profit. Amrein kennt den Schlag Leute, denen nichts näher ist als das eigene Portemonnaie, er hat die Teppichetagen während Jahrzehnten studiert – und hat sich ein präzises Gespür für Machtverhältnisse bewahrt. Auch wenn ihn die 13. AHV-Rente persönlich mit Sicherheit entlasten würde: Amrein, Büezer, Bücherfreund, geht es ums Prinzip.

Margret Schenk im «Es­pace Noir» in Saint-Imier
Sie braucht nicht viel zum Leben – «aber ich habe auch nicht viel»: Margret Schenk im «Es­pace Noir» in Saint-Imier.

Margret Schenk (66)
«Ich habe immer hart gearbeitet. Wieso soll ich am Ende den Staat anbetteln müssen?»

Im Tal hängt der Nebel wie ein nasser Waschlappen. Es regnet, die kleine Stadt ist fast menschenleer. Nur ein paar Jugendliche verlassen den Zug, der gerade eingefahren ist.

An der Treppe zu den Gleisen steht Margret Schenk, Jahrgang 1957, Rentnerin. Ein Wort, das sie nie in den Mund nehmen würde, es scheint auch nicht so recht zu passen zu ihr, die immer gearbeitet hat, seit sie fünfzehn Jahre alt war. Auch jetzt noch, bei ihrer Tochter auf dem Hof, wo sie kocht und das Enkelkind betreut. Oder als Kellnerin um die Ecke im «Espace Noir», dem anarchistischen Kollektiv, das an die historische Relevanz dieses kleinen Ortes im Jura erinnert: Saint-Imier, die Wiege des Anarchismus. Vor über 150 Jahren wurde hier die Antiautoritäre Internationale ausgerufen, befeuert durch den sozialrevolutionären Geist der ansässigen Uhrmacher:innen. Schenk fühlt sich dieser Vergangenheit verbunden, es ist also kein Zufall, dass sie hier gelandet ist. Oder?

«Ich weiss nicht. Gibt es so was wie den Zufall?», fragt sie und steigt aus ihrem kleinen Auto, das sie vor dem Wohnblock am Rand der Stadt parkiert hat. Sie hat immer wieder Reisen nach Marokko unternommen, erst als Touristin, dann unregelmässig als Reiseleiterin bei einem kleinen Reisebüro. Die Menschen dort, sagt sie, die Stimme sanft, aber bestimmt, frei von Exotisierung, sähen das Leben anders. Vorbestimmt. Man bekommt, was man bekommt, und macht das Beste daraus.

Schenk bekommt, das kann sie ganz genau sagen, 1766 Franken AHV pro Monat. Hinzu kommt ihr Verdienst von der Arbeit auf dem Hof, die unregelmässigen Reisebegleitungen nach Marokko und das Sackgeld vom «Espace Noir». Pensionskasse hat sie keine, in der dritten Säule nur einen kleinen Betrag.

Sie ist im Berner Dorf Gerzensee mit fünf Geschwistern aufgewachsen, in einem grossen Bauernhaus. Die Eltern Bauer und Bäuerin, die Kinder immer am Mithelfen. Drinnen oder draussen, im Sommer wie im Winter. «So kleine Ärbetli halt.»

Nach der Schule macht Schenk eine Ausbildung im sozialen Bereich und bekommt mit Anfang zwanzig ihr erstes Kind. Sie ist ein paar Jahre alleinerziehend mit zwei Kindern, bis sie ihren zukünftigen Mann kennenlernt. Gemeinsam suchen sie nach einem Hof und werden im Eriz fündig, einem Grenztal zwischen Berner Oberland und Emmental. Das «Heimetli» ist abgelegen und steil, die mittlerweile drei Kinder müssen jeden Tag 160 Höhenmeter zur Schule hinab. Schenk und ihr Ehemann erhalten die Knospe, das Schweizer Biozertifikat, und bauen eine Direktvermarktung auf. Sie beliefern Kund:innen zwischen Bern und Thun, verdienen nicht schlecht, trotzdem leben sie immer unter dem Existenzminimum. Die Arbeit ist streng, jede Maschine muss an eine Seilwinde gehängt werden, damit man die Arbeiten sicher verrichten kann.

Zusätzlich zur Hofarbeit arbeitet Schenks Ehemann im Winter am Skilift. Sie selbst verdient sich in einem Pflegeheim etwas dazu. Später nehmen sie Pflegekinder auf, drei insgesamt, über die Jahre verteilt. «Wir hatten immer Zusatzverdienste», sagt Schenk, das Geld hätte sonst nicht gereicht. Nach zehn Jahren zieht die Familie auf einen Bauernhof nach Renan im Berner Jura. Sie nehmen Darlehen auf, von Bank, Kanton und Privaten, und kaufen den Hof. Schenk hat ein Händchen für Zahlen, sie erledigt alles Administrative. Daneben widmet sie sich den Kindern, baut einen Bioladen auf und engagiert sich im Gemeinderat. Dass sie Lücken in der Vorsorge hat, wird ihr erst bewusst, als das Paar die Buchhalterin wechselt. «Ich habe mich damals einfach zu wenig informiert», sagt sie heute. Ihre Einnahmen waren immer gering, und damit mussten zuerst Schulden abbezahlt werden, in eine zweite Säule hat sie nie eingezahlt, in die dritte erst sehr spät.

Sie stellt Tee und Güezi auf den niedrigen Tisch in ihrer Zweizimmerwohnung, in der sie seit zwei Jahren lebt. Ihr gefällt die Lage, der Balkon mit Sicht aufs Tal. Die Miete inklusive Nebenkosten, Telefon und Internet kostet 900 Franken. Hinzu kommen die Krankenkassenprämien, auf die sie Vergünstigung bekommt, nicht viel zwar, aber immerhin. Sie brauche nicht viel zum Leben. «Aber ich habe auch nicht viel.»

Kurz vor der Pensionierung liessen sie und ihr Mann sich scheiden. Den Hof, den sie auf dem freien Markt gekauft hatten, gaben sie an die Tochter weiter. Das sei menschlich gesehen richtig gewesen, finanziell habe es nicht geholfen. Besonders nachdem alle Schulden abbezahlt waren. Die kleine Summe, die danach noch übrig blieb, hält sich Schenk als Polster für den Fall, dass sie nicht mehr arbeiten kann.

Sobald diese Situation eintrifft, wird sie wohl auswandern. Diese Option zieht Margret Schenk den Ergänzungsleistungen vor, die oft als Argument genannt werden für Menschen, deren Rente nicht zum Leben reicht. «Ich weigere mich, Ergänzungsleistungen zu beziehen», sagt sie, kurz bevor wir uns verabschieden. «Für mich ist es empörend, dass ich, die ich immer gearbeitet habe, am Ende den Staat anbetteln muss, um über die Runden zu kommen. Das wäre für mich absolut unwürdig.»

Giuliano Rosica mit seinem Hund in seinem Wohnzimmer
«Ich muss sagen, die Jahre sind sehr schnell vorbeigegangen»: Giuliano Rosica.

Giuliano Rosica (65)
«Bei der AHV kann man nicht am Ende des Jahres in die Lohnverhandlung»

Der Geschenkkorb steht noch auf dem Esstisch, Feinkost, japanischer Whiskey. Es ist Montag, am Freitag wurde Giuliano Rosica beim Jahresessen der versammelten Belegschaft in den Ruhestand verabschiedet. 45 Jahre hat er für die Firma Zemp, eine mittelgrosse Schreinerei im Kanton Luzern, gearbeitet. Eine beeindruckende Konstanz; es wirkt, als sei seine Arbeit das beständige Zentrum in seinem ansonsten nicht immer gradlinigen Leben. «Mir wurde nie langweilig», sagt Rosica.

Jetzt, da er pensioniert ist, will sich Rosica, der vor 65 Jahren in den Abruzzen im Zentrum Italiens geboren wurde, endlich einbürgern lassen. Er hat es schon einmal versucht, 1991 war das, als er mit einer Schweizerin verheiratet war. Ein Jahr später trennten sie sich, Kampfscheidung. Das Amt war zu langsam, die erleichterte Einbürgerung für den Geschiedenen nicht mehr möglich. Kürzlich stand er in Luzern wieder auf dem Amt.

Der Beamte ging die Fragen durch. Schule? Internat zwischen sieben und fünfzehn am Comer See, während seine Eltern schon in der Schweiz arbeiteten. Ausbildung? Anlehre als Konditor in den siebziger Jahren in Luzern. In diesem Fall müsse er zuerst einen Deutschkurs machen, sagte der Beamte. Er, der 53 Jahre im Kanton gelebt hat, sehr gut Französisch spricht, perfekt Italienisch, sogar ein bisschen Rätoromanisch versteht? Giuliano Rosica fühlte sich beleidigt. Ob er den Kurs tatsächlich besuchen muss, wird sich zeigen, wenn er das Gesuch eingereicht hat. Doch keine Spur von Verbitterung ist zu spüren, wenn der Mann aus seinem Leben erzählt. Er sei immer gern aufgestanden, um in die Schreinerei zu fahren. Auch mit den Chefs habe er es gut gehabt. «Ich muss sagen, die Jahre sind sehr schnell vorbeigegangen.» Seine Arbeit, die Behandlung von Oberflächen handgemachter Büromöbel, habe sich über die Jahre stark gewandelt – zum Besseren, wie er findet: weniger gesundheitsschädlich, mit ökologischen Materialien, durch den Einsatz neuer Maschinen auch interessanter.

Er habe nie das Gefühl gehabt, auf Dinge verzichten zu müssen. «Aber wir mussten immer gut rechnen, um nicht über unsere Verhältnisse zu leben. Wenn ich eine teure Reise mache und dann jeden Tag Cervelat essen muss, stimmt es auch nicht.» Weil seine Frau noch Teilzeit als Masseurin arbeitet, musste die Familie mit Rosicas Pensionierung den Lebensstandard nicht senken. Mit der ersten und zweiten Säule kommt Rosica auf eine Rente von rund 4000 Franken. Die dritte Säule hat er in die kleine Wohnung investiert, in der er mit seiner Frau und seiner Tochter am Rand der Stadt Luzern lebt. Das Eigentum ist ein wichtiger Teil der Altersvorsorge; müssten sie statt des tieferen Betrags für die Hypothek 1800 bis 2000 Franken Miete für eine vergleichbare Wohnung in der Stadt bezahlen, würde es knapp.

Und die 13. AHV-Rente? Rosica war seit den siebziger Jahren in der Gewerkschaft aktiv, hat immer wieder erlebt, wie ein Kampf für bessere Verträge oder etwas mehr Lohn erfolgreich sein konnte. «Bei der AHV kann man nicht am Ende des Jahres in die Lohnverhandlung, weil alles teurer geworden ist. Die bleibt einfach.»

Wie die Eltern lebte Rosica, nachdem er 1974 definitiv nach Luzern gezogen war, immer in der Region. Im Rechtsstreit um die Scheidung Anfang der neunziger Jahre bekam er das Sorgerecht für die drei gemeinsamen Kinder zugesprochen. Er lebte neun Jahre als alleinerziehender Vater, ohne Alimente. Nach ein paar Jahren lernte er in Italien eine jüngere Holländerin kennen. Zwei Jahre lang fuhr er fast jedes Wochenende mit dem Auto in die Niederlande. Jedes zweite Wochenende nahm er die Kinder mit. An den anderen Wochenenden brachte er sie zu seinen Eltern in Emmenbrücke. Dazu war er extra in ihre Nähe gezogen. Nun ist er schon seit 28 Jahren mit seiner zweiten Frau verheiratet.

Sichtlich stolz erzählt er, dass die drei Kinder mittlerweile auch alle verheiratet sind und er bereits achtfacher Grossvater ist. In seiner Generation werde oft schlecht über die Jungen geredet, weil sie nicht mehr hart arbeiten würden. Aber er sehe auch, wie bei ihnen der Wind drehe, die Arbeit nicht mehr das Zentrum des Lebens sei. Hat er zu viel gearbeitet in den 45 Jahren? Rosica muss nicht überlegen: «Ja!» Seine Generation habe die Freizeit etwas vernachlässigt. Das will er nun nachholen.

Carmela Simonato-Frasci in ihrem Wohnzimmer
«Frauen arbeiten rund um die Uhr, und was bekommen wir dafür? Kein Geld zum Leben!»: Carmela Simonato-Frasci.

Carmela Simonato-Frasci (71)
«Uns schenkt hier niemand was!»

Carmela Simonato-Frasci hat kaum den Cappuccino aus der Maschine gelassen, schon feuert es aus ihr heraus: «Es ist eine Schande! Frauen arbeiten rund um die Uhr, und was bekommen wir dafür? Kein Geld zum Leben!» Ihre Augen blitzen. Sie sagt diese Worte nicht zum ersten Mal.

Simonato-Frasci steht in der kleinen Küche ihrer geräumigen Eigentumswohnung in Zürich Altstetten. Weisser Kachelboden, Vitrinen mit akkurat arrangierten Andenken und Familienfotos, alles picobello aufgeräumt. Die Ordnung ist nicht nur für den Fotografen. Carmela Simonato-Frasci, 71 Jahre alt, ist eine Frau der klaren Verhältnisse.

Der Cappuccino steht auf dem Tisch, dazu wird ein Tiramisu serviert, das sie am Vorabend zubereitet hat. Sie selbst nimmt sich nichts davon. Es hätte ohnehin keinen Platz auf ihrer Seite des Tisches, den sie mit Ordnern und dicht beschriebenen Blättern zugestellt hat. Bei gewissen Fragen fährt sie mit den sorgfältig manikürten Fingernägeln die Seiten entlang, um einen passenden Gedanken vorzulesen, den sie sich notiert hat. Die Rechte der Frauen sind ihr ein grosses Anliegen, sie engagiert sich seit Jahren politisch.

Simonato-Frasci wurde 1953 in Italien geboren. Nach der Ausbildung zur Lehrerin kam sie in die Schweiz, wo ihr Vater als sogenannter Gastarbeiter lebte. Beim italienischen Konsulat in Zürich fand sie eine Stelle als Lehrerin für Kinder von Gastarbeiter:innen. 22 Jahre arbeitete sie dort, bis sie mit vierzig ihre Stelle verlor. Auch ihre Identität habe sie damals verloren, sagt Simonato-Frasci. Sie sah sich konfrontiert mit einer Gesellschaft, die keinen Platz mehr für sie hatte, fiel in ein Burn-out, begann eine Therapie.

Als es ihr besser ging, sah sie im «Tagblatt» eine Stelle als Platzanweiserin im Opernhaus Zürich ausgeschrieben. Sie bewarb sich, bekam den Job und arbeitet seither fast fünfzig Prozent im Opernhaus, zu einem Mindeststundenlohn. Der Vertrag ist jeweils befristet, jedes Jahr wird er verlängert. Auch Simonato-Frascis Mann, 72 Jahre alt, arbeitet noch, siebzig Prozent als Logistiker.

Die zusätzlichen Einkünfte sind nötig, ohne sie könnten ihr Mann und sie die Hypothek, Ausgaben für Essen und die ständig steigenden Krankenkassenprämien nicht stemmen. AHV-Rente bekommt Simonato-Frasci monatlich 1800 Franken. Sie hat keine zweite Säule; als sie das Pensionsalter erreichte, bekam sie vom Opernhaus eine einmalige Auszahlung von etwa 20 000 Franken. Aus ihrer Zeit als Lehrerin gibt es keine Pensionskassenbeiträge, weil ihr Lohn damals direkt vom italienischen Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten kam, das nur AHV-Beiträge ausrichtete.

Alles in allem würde es ohne Zusatzverdienst hinten und vorne nicht reichen, sagt Simonato-Frasci. Deshalb machen sie die Diskussionen um die 13. AHV-Rente auch so wütend. «Uns schenkt hier niemand was!»

Als der Kaffee ausgetrunken ist, teilt Carmela Simonato-Frasci noch einen letzten Gedanken aus ihren Notizen: «Frauen das Wort zu erteilen, ist ein politischer Akt. Wir können keine Rolle akzeptieren, in der unser Potenzial unterdrückt wird. Wir müssen uns aus der Ungleichheit befreien. Das ist ein Menschenrecht!» Sagts und klappt den Ordner zu.