Zürcher Uferinitiative: «That would be great!»

Nr. 8 –

Bis 2050 soll es an allen Gewässern im Kanton Zürich durchgehend öffentliche Uferwege geben, verlangt eine Initiative. Die Meinungen dazu sind geteilt, wie ein Spaziergang an der Goldküste des Zürichsees zeigt.

private Einwasserungsstelle in Küsnacht
Wie viel Ufer braucht der Mensch? So sieht es heute in Küsnacht aus.

Es ist Sonntag und für Mitte Februar recht mild. Was spricht da gegen einen Spaziergang am See? Zum Beispiel am Zürichsee. Also, los jetzt. Vom Bellevue aus, mitten in der Stadt Zürich, am Ufer entlang. Bis kurz vor der Stadtgrenze lässt sich weitgehend am See spazieren. Alles prima.

Dann aber, beim Hafen Tiefenbrunnen und erst recht ab Zollikon, wird es schwierig. Villen mit grossen Parkanlagen versperren den Weg, oft eine nach der anderen, sodass man immer wieder längere Strecken entlang der Hauptstrasse gehen muss.

Hie und da gönnt man sich einen Blick in eine dieser privaten Parkanlagen, erspäht ein hübsches Bootshäuschen und dahinter, wenn etwas Sonnenlicht durch die Wolken bricht, das Glitzern des Sees. Doch weit und breit kein menschliches Wesen, das sich an diesem Sonntag in diesen Paradiesgärten erblicken liesse.

Mit 48 Prozent ist das Zürcher Seeufer das meistverbaute aller Schweizer Seeufer. Frei zugänglich: 38 Prozent. Ein Ausbau der öffentlich begehbaren Uferwege ist zwar längst im kantonalen Strassengesetz verankert. Bis heute aber ist erst etwa die Hälfte von knapp sechzig Kilometern aller im Kanton liegenden Seeufer öffentlich zugänglich. Das soll sich ändern. Zumindest, wenn es nach der Initiative «Für öffentliche Uferwege mit ökologischer Aufwertung» geht, die am 3. März zur Abstimmung kommt.

Klassenkampf am Ufer

Küsnacht. Früher Nachmittag, kurz nach zwei. Im Gartencafé des Hotels Sonne am See sitzt ein älteres Paar. Angesprochen auf ihre Meinung zur Uferinitiative, hat der Mann, ein echter Küsnachter, ein «Eingeborener», wie er sagt, eine klare Meinung: «Jeder Schweizer hat schon Zugang zum See», sagt er – nein, diktiert er, staatsmännisch nachgerade: «Stellen Sie sich einmal vor, Ihr Grossvater hätte hier vor hundert Jahren ein Haus am See gekauft – und dann kommen plötzlich diese grünen Linken aus der Stadt und trampen durch seinen Garten! Nein, das geht nicht. Auf keinen Fall!» Aber nein, er selber habe kein Haus am See, er wohne weiter oben am Hang. Beste Aussicht, wie er betont. «Es geht ums Prinzip: das Eigentum! Denken Sie darüber nach!» Seine Frau nickt.

Für einen durchgehenden Uferweg bis 2050, wie es die Initiative verlangt, müssten wohl etliche Grundstücksbesitzer:innen enteignet werden. «Jetzt ufert’s uus!», schreit es denn auch einigermassen panisch von Plakaten entlang der Hauptstrasse. Dabei ist der Grundsatz, dass der öffentliche Zugang zu See- und Flussufern sowie deren Begehung zu erleichtern sind, auf Bundesebene festgeschrieben – ebenso aber auch der Schutz des Grundeigentums.

Uferwege in der Schweiz

Ein Rechercheteam des «Blicks» hat 2018 in einer Datenanalyse die Ufer einiger Seen der Deutschschweiz ausgemessen. Das Ergebnis: Nur 43 Prozent der untersuchten Ufer waren zugänglich, 34 Prozent waren verbaut – am meisten die Zürichseeufer (48 Prozent), am wenigsten die des Baldeggersees (6 Prozent). Als besonders unzugänglich erwies sich der von Landwirtschaftsflächen und Naturschutzgebieten umgebene Sempachersee (21 Prozent). An besonders vielen öffentlichen Uferwegen erfreuen kann man sich am Hallwiler- und am Bodensee.

Der Kanton Bern hat bereits seit 1982 eine ähnliche Regelung, wie sie die Zürcher Initiative vorsieht. Seither wurden insgesamt 470 Kilometer Uferwege frei zugänglich gemacht. Doch 40 Kilometer fehlen noch immer – selbst wenn die Initiative also durchkommen sollte: Bis die Allgemeinheit im Kanton Zürich an ihren Seen und Flüssen ungehindert spazieren kann, dürfte es noch lange dauern.

Am Zürichsee prallen diese Ansprüche aufeinander. Der Klassenkampf tobt schon seit Jahren. Bereits 2010 hatten die SP mit «Zürisee für alli» und die EVP mit «Uferweg für alle» Volksinitiativen lanciert. Worauf der Kantonsrat in einem Gegenvorschlag beschloss, dass die Beanspruchung von privatem Grundeigentum für den Uferweg in Ausnahmefällen zulässig sei – und SP wie EVP ihre Initiativen zurückzogen. Kurz darauf jedoch ergänzte die zuständige Kommission den Gegenvorschlag damit, dass Privatgrundstücke gegen den Willen der Eigentümer:innen nur beansprucht werden dürfen, wenn ein anderer Weg nicht oder nur mit unverhältnismässigem Aufwand realisierbar ist. 2013 schrieb die bürgerliche Parlamentsmehrheit gar fest, dass privater Grund generell nicht enteignet werden darf.

Zwei Jahre später jedoch hob das Bundesgericht diesen Beschluss aufgrund einer Beschwerde der SP auf: Das Raumplanungsgesetz des Bundes verlange öffentlichen Zugang zu den Ufern. Doch auch so könnten die Interessen von Anwohner:innen berücksichtigt werden: durch eine Ausnahmeklausel, wie es bereits der frühere Gegenvorschlag gewollt hatte.

2018 stimmte das Parlament dem erneuten Gegenvorschlag zu. Doch verbessert hat sich die Lage nicht. Zwar werden seit 2013 jährlich mindestens sechs Millionen Franken für neue Uferwege budgetiert, gebaut aber wurden bisher erst 180 Meter. So also kommt es erstmals zu einer Volksabstimmung.

Totes Land

Der Eingeborene und seine Gemahlin sind jetzt von ihrem Platz aufgestanden. Nebenan sind Eltern mit ihren Kindern anzutreffen. Hört man sich um, wird überwiegend englisch gesprochen. Was sie wohl über einen durchgehenden Uferweg denken? «That would be great!», sagt ein junger Mann. Er wohne zwar im Kanton, könne aber leider nicht an der Abstimmung teilnehmen. Zwei Frauen an einem Tisch beim Steinmäuerchen erweisen sich als Ukrainer:innen. Auch sie würden einen Ausbau begrüssen. Und, würden sie Ja sagen? Ja, beteuern sie – dürften sie, würden sie.

Auf dem Spielplatz im Pärklein nebenan zeigt sich das Publikum ebenfalls überaus polyglott an diesem Sonntag: Englisch, Jiddisch, Französisch, Spanisch, Rumänisch – und nur selten Schweizerdeutsch. Bis auf eine ältere Dame mit Buch, die sich als alteingesessene Küsnachterin zu erkennen gibt. «Und, was meinen Sie zur Uferinitiative?» Eine Weile überlegt sie und schaut über den See. Und dann: «Hat es nicht schon genug? Und wär das nicht etwas teuer?»

Auch der Regierungsrat hebt den Mahnfinger und spricht von Kosten von über einer halben Milliarde Franken. Bei genauerer Betrachtung jedoch zeigt sich, dass diese Zahl in die Irre führt. Die eigentlichen Baukosten würden gemäss einer Studie zur Kostenbeteiligung der Gemeinden nur gerade 38 Millionen Franken ausmachen. Der grosse Rest – annähernd 500 Millionen Franken! – wäre für die Begleichung von Entschädigungsforderungen von Landeigentümer:innen bestimmt. Wobei rein rechtlich noch nicht einmal klar ist, ab wann solche Entschädigungen geleistet werden müssten.

Stühle an einem Strand bei Küsnacht

Kaum verwunderlich, dass die bürgerliche Allianz gegen die Uferinitiative diese Zahlen dankbar aufnimmt und die Bevölkerung um Mässigung bittet. Und überhaupt: Ein öffentlicher Weg über private Grundstücke – gefährdet das nicht die Rechtsstaatlichkeit? Die bürgerliche Mehrheit im Parlament bezeichnet die Initiative zudem als «Mogelpackung», weil es dabei weniger um einen Uferweg oder Naturschutz gehe – sondern schlicht um Neid gegenüber jenen, die ein Haus am Seeufer besässen.

Wo aber sind sie denn geblieben: all jene, mit all diesem Platz nur für sich so ganz allein? Auch auf dem weiteren Weg Richtung Erlenbach, wieder der Hauptstrasse entlang, vorbei am C.-G.-Jung-Institut, wo zuvor der Schriftsteller Conrad Ferdinand Meyer wohnte, zeigt sich durch keine einzige Heckenlücke und kein einziges Parktorgitter in keinem einzigen Villenpark nur ein einziges dieser menschlichen Wesen. Englischer Rasen weit und breit. «Totes Land»: So nannte es ein Gartenbaumeister kürzlich gegenüber «Watson». «Sumpfgebiete, die den Tieren zugutekämen, sind bei Privaten nicht beliebt.» Die Umfrage des Onlinemediums bei Gartenbaufirmen kommt zudem zum Schluss: Mindestens ein Viertel der Villen ist mehrheitlich unbewohnt. Reine Wertanlagen. Und wieder und noch einmal: Durchgang verboten. Warnungen vor Hunden, die womöglich schon lange tot sind. Und hie und da ein illustrer Name auf dem Schild. Ansonsten: gähnende Unbenanntheit. «Vor 12 Uhr keine Lieferungen.»

Zurück zur Natur

Auch beim Strandbad Küsnacht geniessen Familien den Vorfrühlingstag. Und auch da wird vorwiegend Englisch oder Hochdeutsch gesprochen. Wie das wohl in ein paar Wochen aussehen mag, wenn es noch wärmer sein wird? Im Lauf der letzten Jahrzehnte ist das Publikum an den Gestaden des Zürichsees deutlich zahlreicher geworden. Ein grosser Teil der Menschen jedoch, die sich auf den frei zugänglichen Wegen bewegen, wird nicht über die Initiative abstimmen können. Und so wird es, sollte die Vorlage scheitern, an den neuralgischen Punkten immer noch enger werden.

Rein ökologisch wäre das nicht unbedingt vorteilhaft. Mit der Aufschüttung des Seeufers in den letzten 200 Jahren wurden wertvolle Lebensräume von einheimischen Tieren und Pflanzen zerstört. Die Gärten der Grundstücke, die heute an den See grenzen, können das nicht wettmachen. Auch da will die Initiative korrigieren: Mit ihrer Umsetzung soll die Umgebung renaturiert und wiederbelebt und so die Artenvielfalt gestärkt werden.

Häuser auf privaten Grundstücken direkt am See bei Küsnacht

Die Allianz gegen die Uferinitiative sieht das natürlich anders: «Der Zürichsee und seine Ufer werden bereits heute stark beansprucht. Der Dichtestress nimmt zu», warnen sie die Stimmbevölkerung. Und: «Ein durchgehender Uferweg gefährdet wertvolle, bereits bestehende Lebensräume von Tier- und Pflanzenwelt.» Villen mitsamt ihrem toten Land als Ausdruck eines naturschützerischen Grossengagements? Die Verdrehung der Tatsachen geht so weit, dass gar mit «Ja zur Biodiversität»-Transparenten gegen die Initiative gekämpft wird.

Was dabei verschwiegen wird: Die Uferinitiative betont ausdrücklich, dass dort, wo Uferpartien aus Gründen des Naturschutzes zu schonen sind, der Weg über Stege oder von der Uferlinie abgesetzt verlaufen soll. Ja, nicht nur Menschen – auch Vögel, Fische und Pflanzen sollen mehr Lebensraum erhalten.