Tempo 30: Verunsichert, aber sicher

Nr. 9 –

Das nationale Parlament ist drauf und dran, den Gemeinden Temporeduktionen zu verbieten. Ein Besuch in Köniz, das mit seinem Verkehrskonzept sogar international von sich reden macht.

Strassenübergang mit Fussgänger:innen-Markierungen in Köniz
Mehr Rücksicht, besserer Fluss: Die Verkehrsschlagader von Köniz.

Freitagnachmittag, High Noon in Köniz, gleich südlich der Stadt Bern. Auf der Schwarzenburgstrasse rollt der Verkehr. In der Gemeinde leben über 40 000 Menschen, verteilt auf über ein Dutzend kleinere und grössere Ortschaften. Köniz ist Agglomeration, Dorf und Land in einem: Lastwagen, Traktoren, teure Cargobikes und Auto um Auto befahren die Strassen gleichermassen. Freitags ist viel los. Während die einen gerade von der Arbeit kommen, sind andere schon auf dem Weg ins Wochenende.

Die Schwarzenburgstrasse, verkehrstechnische Pulsschlagader von Köniz, ist lang. Sie reicht vom Stadtberner Monbijou-Quartier im Norden bis an die Grenze des Kantons Freiburg im Süden des Gemeindegebiets. Und hier, im belebten Zentrum, wird die Kantonsstrasse auf gut 300 Metern durch einen breiten, blauen Mittelstreifen geteilt. Es herrscht Tempo 30. Orange Pfosten markieren den ebenerdigen Übergang zwischen Trottoir und Fahrbahn, Lichtsignale hat es keine mehr. Laufend gehen Passant:innen über die Verkehrsachse, nutzen die Lücken im Verkehr, warten darauf, dass jemand vom Gas geht.

Berlin, Madrid, London, Köniz

Daniel Matti steht vor der lokalen Migros-Filiale und beobachtet den Verkehrsfluss. «Eigentlich kommt es nur noch in gewissen Hauptverkehrszeiten zu stockendem Verkehr», sagt der Leiter der Gemeindeabteilung Verkehr und Unterhalt. Das war nicht immer so. Fotos aus den Neunzigern zeigen eine vierspurige Strasse, zwischen Bus und Lastwagen eingezwängte Motorräder. Der Verkehr stockte. Das Zentrum drohte zu veröden.

Matti deutet zur Stelle, an der die meisten Leute die Strasse überqueren. «Hier gab es damals einen Fussgängerstreifen, der den Verkehr praktisch zum Erliegen brachte», sagt Matti. Bis schliesslich im Jahr 2005 eine Tempo-30-Zone eingerichtet wurde, innerhalb derer die Fussgänger:innen die Strasse überall betreten dürfen. Was anfangs nur ein Testlauf war, setzte sich durch – womit Köniz zu einer der ersten Gemeinden schweizweit wurde, die ein solches Verkehrskonzept in ihrem Zentrum implementierten.

Und sogar international von sich reden machte. Delegationen aus Frankreich, Deutschland und Österreich kamen, um sich das Projekt anzuschauen. Plötzlich wurde Köniz in einem Atemzug mit anderen verkehrstechnisch innovativen Städten genannt: Berlin, Madrid, London, Köniz. Wie das Prinzip genau funktioniert? «Durch leichte Verunsicherung», antwortet Matti und muss ein bisschen lächeln. «Viele sind unsicher, wer eigentlich Vortritt hat. Und so nehmen alle Rücksicht aufeinander.»

Der Zentralismus der Bürgerlichen

Es scheint zu funktionieren. Kein entnervtes Hupen, obwohl andauernd Leute auf der Strasse sind. Sie nehmen Augenkontakt mit den Wagenlenker:innen auf, winken manchmal ein Auto durch, bedanken sich, wenn eins hält.

Ginge es nach FDP-Nationalrat Peter Schilliger, sollen Projekte dieser Art in Zukunft nicht mehr möglich sein. Ende 2021 hat er den Bundesrat per Motion aufgefordert, im Strassenverkehrsgesetz festzuschreiben, dass «50 km/h auf den innerörtlichen verkehrsorientierten Strassen» erhalten bleiben. Einer Gemeinde wie Köniz soll es künftig also verwehrt bleiben, auf einer Verkehrsachse wie der Schwarzenburgstrasse eigene Wege einzuschlagen. Ihm gehe es darum, «die Hierarchie des Strassennetzes» in der Schweiz zu stützen, argumentierte Schilliger, denn vielerorts verbreiteten sich Temporeduktionen auf dreissig Kilometer pro Stunde «auf chaotische Weise», was «zu einer Schwächung der Funktionalität des Strassennetzes» führe.

Was insbesondere aus der Feder eines Freisinnigen verblüffend zentralistisch und bevormundend klingt, lehnte der Bundesrat zunächst ab. Im vergangenen September aber stimmte im Nationalrat eine bürgerliche Mehrheit von Mitte bis SVP für Schilligers Forderung. Und mit hoher Wahrscheinlichkeit zieht auch der Ständerat nächste Woche nach: So hat es ihm die zuständige Kommission mit grosser Mehrheit empfohlen.

Ein Blick auf die Interessenbindungen von Nationalrat Peter Schilliger könnte seinen Eifer erklären: Er hat bezahlte Mandate als Verwaltungsratsmitglied des autoverliebten Touring Club Schweiz (TCS) sowie als Präsident von dessen Sektion Waldstätte. Schilliger ist zudem Präsident der «Luzerner Mobilitätskonferenz», die sich gemäss Eigenbeschrieb für «die Erreichbarkeit von Gewerbe- und Detailhandelsbetrieben sowie ihrer Kunden» einsetzt.

Auch die Geschäfte würden von der Verkehrsberuhigung profitieren, sagt dagegen Verkehrsplaner Matti in Köniz. Das lokale Gewerbe unterstütze deshalb Tempo 30, erzählt er, während er die Schwarzenburgstrasse entlanggeht, vorbei an einer bunten Mischung an Geschäften: einem türkischen Supermarkt, einer Apotheke, einem Veloladen, mehreren Banken.

Schilligers Vorstoss kann Matti nicht verstehen. «Ich sehe nicht, wo das Problem liegt», sagt der 54-Jährige und holt eine Grafik hervor. Auf dieser ist die durchschnittliche Durchfahrtszeit durch Köniz vor und nach der Umsetzung der Tempo-30-Zone zu sehen. Sie hat sich von sechs auf vier Minuten verkürzt. «Tempo 30 führt zu einem besseren Verkehrsfluss», folgert er. Die Zahlen hätten zusammen mit den positiven Erfahrungen auch die anfänglich reichlich kritischen Stimmen beruhigt, sagt Matti, «hier will niemand zurück». Im Gegenteil. Immer mehr Ortsteile möchten ebenfalls Tempo 30 für ihre Zentren – auch ländliche.

Rolf Steiner kann über die aktuelle Parlamentsdebatte ebenfalls nur den Kopf schütteln. Der 69-Jährige war von 1989 bis 2002 Verkehrsplaner von Köniz. Während seiner Amtszeit wurde die Kantonsstrasse im Zentrum saniert und die Tempo-30-Zone aufgegleist. Später wertete er mit seiner eigenen Verkehrsplanungsfirma vergleichbare Projekte mittels Videoanalysen aus. «Die Vorstellung, dass man mit Tempo 50 durch ein Dorfzentrum hindurchfahren kann, ist eine absolute Illusion», sagt Steiner.

Aufgewertete Zentren

Schon die Auswertung des betreffenden Abschnitts der Schwarzenburgstrasse zeigt: Als noch Tempo 50 herrschte, fuhren die Autos mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 35 Kilometern pro Stunde durch das Zentrum. Nach der Reduktion fiel diese auf etwa 29. Das faktische Tempo der Autos veränderte sich also nur gering, aber: «Was den Lärm und die Sicherheit anbelangt, macht Tempo 30 einen grossen Unterschied», so Steiner. Und was die Statistik ebenfalls belegt: Die Unfallzahlen gingen seit der Einführung der Tempo-30-Zone um ein Drittel zurück.

Auch deshalb wäre ein Verbot von Tempo-30-Zonen seiner Meinung nach fatal. Seit langem würden Städte und Gemeinden im ganzen Land versuchen, ihre Zentren wieder aufzuwerten, nachdem sie während Jahrzehnten der Autozentriertheit ausgeliefert waren. «Von einer solchen Regelung würden diese Bemühungen zunichtegemacht», sagt Steiner.