Von oben herab: Unterwegs

Nr. 9 –

Stefan Gärtner über Ruedi Nosers Kreuzfahrt

Wenn Tucholsky mit dem Schlafwagen nach Paris wollte, ging er zum Bahnhof und kaufte sich ein Billett. Will ich mit der Familie im Schlafwagen nach Ligurien, um einen Urlaub ohne Auto hinzukriegen, muss ich nicht zum Bahnhof, sondern darf ins Internet, wo die Verbindungen für den Sommer so lange nicht angezeigt werden, bis ich bei den ÖBB anrufe, die die Nachtzüge betreiben und wo mir ein freundlicher Herr sagt, ich müsse schon entschuldigen, aber die italienischen Kollegen kämen nie rechtzeitig mit den Fahrplänen herüber. (Wieder die Überlegung, alles, was ich je über «Kulturalismus» schrieb, zu überdenken.)

Vier Wochen später sind die Verbindungen dann da, fehlen aber für genau die Zeit, zu der wir reisen möchten. Ich müsse schon entschuldigen, sagt ein anderer Herr am ÖBB-Telefon, aber der Zug fahre in diesen zwei Juliwochen nicht, Baustellen. Unser Urlaub basiert auf diesem Zug; jetzt können wir stornieren, zweimal zwei Tage im Auto sitzen oder fliegen. Die Kinder, von denen wir den Globus nur geborgt haben, sind fürs Fliegen.

Das ist der Fortschritt, und während ein Flug in zehn Minuten gebucht ist, benötigt die Planung eines Nachtzugurlaubs Wochen, bis man merkt, dass man fliegen muss. In der Zeitung stand neulich, dass sich die Emissionen des Flugverkehrs zu denen der Bauwirtschaft verhalten wie sehr wenig zu sehr viel, und in derselben Zeitung stand, es müsse viel mehr gebaut werden, und ich muss an den grossen Philologen Walter Boehlich denken, der jedes Jahr genau eine Woche Urlaub machte, mit dem Zwillingsbruder in der Holsteinischen Schweiz. Da müsste es hingehen, und man selbst eben auch, aber will man?

Der Konzern des ehemaligen Zürcher Ständerats Ruedi Noser, der im Initiativkomitee der zurückgezogenen Gletscherinitiative sass, will sein Vierzig-Jahr-Jubiläum mit einer Kreuzfahrt für alle Angestellten feiern. Doch hat der spendable Patron, fragt nicht nur der «Tages-Anzeiger», auch an die üble Klimabilanz einer solchen Reise gedacht? «Die Geschäftsleitung habe 2017 durchblicken lassen, diese Kreuzfahrt sei aus ökologischen Gründen die letzte, schreibt ein Mitarbeiter der Noser-Gruppe unserer Redaktion. Nun ist er schockiert, dass es 2024 erneut dazu kommt. Dies sehen aber nicht alle so. Eine Mehrheit der Belegschaft hat sich laut Noser in einer Umfrage für die Kreuzfahrt entschieden. Der Umweltaspekt sei aber ein ‹grosses Thema›. So soll dieses Jahr ein neueres Schiff zum Einsatz kommen – es ist allerdings auch ein grösseres.»

Auch sollen die Leute, bitte, mit dem Zug nach Genua zum Hafen kommen, wenn denn im Oktober nicht schon wieder Baustellen sind und die Anreise nicht eh aus den USA erfolgt.

Ich muss da immer an die zwei Freunde denken, die mein Morgenblatt am Münchner Flughafen mal fragte, ob sie denn keine ­Skrupel hätten, zum Motorradfahren nach Neuseeland zu fliegen. Doch, sagten die Freunde, schon, aber nach Neuseeland könne man ja nun nicht schwimmen, und damit ist zur Sache alles gesagt. Der Umweltaspekt ist ein grosses Thema, das eigene Bedürfnis ist ein grösseres, und das Gute ist, dass sich der Hinweis erübrigt, der ökologische Fussabdruck sei eine Erfindung der Energielobby, um die Verantwortung nach unten abzuschieben.

Deshalb steht auf der Hafermilchpackung von der schwedischen Hipsterfirma dick der «Climate Footprint» drauf, und die Frage, warum Hafermilch aus Schweden importiert werden muss, kann sich schön erübrigen.

Als sich Tucholsky, vielleicht im Nachtzug nach Paris, seine letzten Worte überlegte, kam er unter anderem auf: «Das war alles? Und: Ich habe es nicht so richtig verstanden.» Ich will mich nicht aufspielen, aber ich für meinen Teil habe es verstanden: Das ist alles, in der Tat.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.

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