Ein Traum der Welt: Die Allerweltsknarre

Nr. 10 –

Annette Hug entschlüsselt zwei Buchstaben

Das deutsche Wort «Sturmgewehr» ist noch nicht alt. Es kam gegen Ende des Zweiten Weltkriegs mit dem «StG 44» der Wehrmacht in Umlauf. Diese Waffe kombinierte die Vorteile von Gewehren und Maschinenpistolen. Sie traf auf weite Distanz genau und erlaubte es, auf kurze Distanz schnell viele Kugeln abzufeuern. Das erlebte ein russischer Soldat und Tüftler, der gegen die deutschen Truppen im Einsatz stand. Er wurde verwundet und arbeitete im Lazarett besessen an einem sowjetischen Gegenmodell. Dass er zum offiziellen Helden werden sollte, war ihm nicht vorbestimmt. Nur mit gefälschten Papieren hatte er das sibirische Dorf, in dem er unter Verbannten aufgewachsen war, verlassen können. Michail Kalaschnikow hiess er, und es gelang ihm, seine Vorgesetzten zu begeistern. Die «Automat Kalaschnikow 47» (AK-47) ging aber erst nach dem Krieg in Produktion.

Oliver Rohe, libanesisch-französischer Autor mit Jahrgang 1972, schildert in einer Erzählung das Leben des Erfinders Kalaschnikow und die Verbreitung der Waffe, die noch heute so bekannt ist, dass in den Kreuzworträtseln philippinischer Boulevardzeitungen nur eine Antwort möglich ist, wenn die Frage lautet: «Gewehr mit zwei Buchstaben?»

Die AK-47 wurde zuerst an sowjetische Bruderländer, dann auch an kommunistische und antikoloniale Bewegungen geliefert. Sie wurde zum Symbol der Befreiung, die diese Bewegungen versprachen. Aber bereits in den achtziger Jahren kämpften afghanische Mudschaheddin mit Kalaschnikows gegen sowjetische Truppen, die mit denselben Waffen ausgerüstet waren. Etwa zeitgleich verbreitete sich die AK-47 unter den Milizen des libanesischen Bürgerkriegs (1975–1990). Die Waffe bewährte sich in einer neuen Art von Krieg, der ein Land zerriss und in dem sich die kriegführenden Parteien vervielfachten. Dieser «moderne Krieg», schreibt Rohe, wurde «inmitten der Zivilisten geführt», sie waren sein «Hauptangriffsziel».

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion gerieten nicht nur Atomwaffenarsenale in Gefahr, geplündert und ausverkauft zu werden. Riesige Lager an Handfeuerwaffen gelangten auf den Weltmarkt. Verschiedene Varianten und Fälschungen der Kalaschnikow sind bis heute globale Verkaufsschlager.

Oliver Rohes Erzählung erhält eine zusätzliche Tiefe durch seinen Versroman «Chant balnéaire», einen «Badegesang», der 2023 auf Französisch erschienen ist. Darin folgt der Autor seinen Erinnerungen an die Jahre als Jugendlicher im libanesischen Bürgerkrieg. Mit Mutter und Schwester hatte er sich in einer leer stehenden Ferienanlage versteckt. Da war nicht klar, ob der Hausmeister mit der Knarre ein Beschützer oder ein Bewacher ist, wann er zum Feind wird, wie lange das Trinkwasser reicht, wer sich gerade in wen verliebt und bei welcher Miliz man anheuern würde, wenn man denn ins Alter käme. Es war eine Zeit, in der Kung-Fu-Filme von Jacky Chan auch im Libanon Kinder begeisterten. In Europa bildeten Namen wie «Beirut», «Dschumblat» und irgendwann auch «Hisbollah» ein kaum verstandenes Grundrauschen der Tagesnachrichten.

Oliver Rohe zeichnet in ganz unterschiedlichen Tonlagen die Vorgeschichte aktueller Formen von Kriegsführung nach. Er insistiert auf dem Erleben jener, die von Milizen und Armeen gezwungen werden, in Kampfzonen zu leben.

Annette Hug ist Autorin in Zürich. Sie empfiehlt das Buch «Meine jüngste Erfindung ist eine Maulwurfsfalle. Michail Kalaschnikow, sein Leben, sein Werk. Eine Erzählung» von Oliver Rohe, übersetzt von Till Bardoux (Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2014).