Female Classics: Bauckholt statt Beethoven

Nr. 10 –

In klassischen Konzerten dreht sich alles um die Werke von Komponisten: meist weiss und tot. Das Female-Classics-Netzwerk setzt sich für mehr Diversität auf den Spielplänen ein.

Musikerinnen auf der Bühne beim Female-Classics-Festival 2022 in Zürich
Zum Beispiel Ethel Smyth (1858–1944): Aufführung des Streichquintetts der englischen Komponistin am Female-Classics-Festival 2022 in Zürich. Foto: Female Classics

Das Streichquartett von Luise Adolpha Le Beau, deutsche Komponistin der Romantik, zu hören an einem Freitagabend in einem Geigenatelier in Berns Süden, geht runter wie Honigmilch: weich, warm und bekömmlich. Ein «Streitgespräch» sei es, schrieb Le Beau in ihren Memoiren. Gestritten wird jedoch nur tonal. Das Werk ist auf keinem Tonträger zu finden, aber nach dem Konzert in Bern nächste Woche in Zürich nochmals live zu hören.

Anderer Saal, anderes Konzert: Das Programm ist nur anhand des Labels, vielleicht auch wegen des Flügels auf der Bühne als Klassik zu erkennen. Ansonsten könnte das auch eine Performance sein, viel Bewegung, aber wenig Klänge, tonale Akkorde schon gar nicht. Gespielt wird zum Beispiel Carola Bauckholts «When they go low we go high» von 2017 – nicht mit den Tasten, sondern allein mit den Saiten des Flügels. Oder Jessie Marinos Komposition «Rot Blau» von 2009, die den Flügel ganz aussen vor lässt und ihn durch einen Tisch, Handschuhe und zwei Perücken ersetzt. Einzig die minutiöse Koordination der beiden Pianistinnen erinnert an die Erarbeitung eines klassischen Stücks.

Die zwei Konzertabende könnten unterschiedlicher nicht sein, sind aber beide Teil des Female-Classics-Festivals. Das 2022 gegründete Festival hat eine Mission: Werke von Frauen aller Stile und Epochen endlich auf die Bühne zu bringen.

Seit der Saison 2018/19 wertet die englische Stiftung Donne, Women in Music, die sich für mehr Gendergerechtigkeit im Klassikbetrieb einsetzt, die Diversität der Konzertprogramme der grössten Orchester weltweit aus. Auch die Schweiz steht seit zwei Jahren mit dem Tonhalle-Orchester Zürich und dem Berner Symphonieorchester (BSO) auf der Liste. Das über die Jahre recht stabile Ergebnis: 95 Prozent aller programmierten Werke stammen von Männern, über drei Viertel von toten weissen Männern. Bach, Mozart, Beethoven natürlich, manchmal auch Dvořák oder Sibelius. Nicht nur Frauen, sondern auch alle anderen Geschlechter und Komponist:innen ausserhalb des Globalen Nordens bleiben aussen vor.

Man spielt, was man kennt

Die Zahlen erzählen viel über den Klassikbetrieb, vielleicht mehr als andere Faktoren wie die Anzahl Dirigentinnen oder Musikerinnen auf der Bühne. Zwar gibt es auch international gefeierte Starsolist:innen, schlussendlich steht aber das Schaffen der Komponisten im Zentrum des Geschehens. Ihnen gilt ein veritabler Geniekult, der zu einer der Klassik eigenen Repertoireschwerfälligkeit beiträgt: Bereits im Jugendorchester gewöhnt man sich an die Tonsprache der immer selben wenigen Komponisten, die in der professionellen Ausbildung und Musikforschung im Fokus stehen und in den grossen Konzerthäusern am häufigsten aufgeführt werden.

Deshalb erscheinen fürs Publikum und vor allem auch für die Ausführenden die Werke europäischer Männer als der zugänglichste Musikgenuss schlechthin. Man spielt gerne, was man kennt.

Während in der Popmusik die Diskussion rund um diversere Line-ups intensiv geführt wird und auch schon Folgen zeitigte, tut sich ausgerechnet die Musiksparte mit den höchsten Subventionszahlungen der öffentlichen Hand mit gendergerechter Programmierung sehr schwer. Die drei Argumente, die gegen die Aufführung von mehr Komponistinnen geäussert werden: Erstens gebe es kaum von Frauen komponierte Musik, und die wenigen Werke seien musikalisch kompliziert und auch technisch schwerer zugänglich. Zweitens wolle derart unbekannte Musik niemand hören, weshalb die Konzerthäuser nicht das Risiko auf sich nehmen könnten, sie zu programmieren. Drittens brauche ein Wandel sehr viel Zeit.

Raus aus der Nische

Meredith Kuliew, Initiantin von Female Classics, hält von dieser Argumentation nichts. Das Netzwerk ist nicht das erste, das sich mit Komponistinnen beschäftigt. Wie kaum ein anderes stellt es aber den politischen Kontext in den Vordergrund. Man will nicht Kultur von Frauen für Frauen als Nische bearbeiten, sondern beispielhaft vorangehen. «Es ist sogar für ein kleines Festival wie unseres möglich, hundert Prozent von Frauen komponierte Klassik zu spielen. Dann kann es doch für die grossen Konzerthäuser nicht so schwer sein, zu einem angemessenen Anteil dasselbe zu tun», sagt Kuliew. Dass es kaum Komponistinnen geben soll, hält sie für einen Mythos: «In allen Epochen haben Frauen komponiert. Heute sind viele ihrer Werke besser erforscht und einfacher zugänglich als noch vor vierzig Jahren, mit Partituren, die zum Teil gratis im Internet zu finden sind.»

Läuft man mit der Aufführung unbekannter Musik aber nicht Gefahr, das Publikum zu vergraulen? «Die Konzerthäuser versuchen sich alle seit Jahren in Innovation, kombinieren Klassik mit Film oder Slam Poetry», entgegnet die studierte Bratschistin. «Doch die etablierten Orchester holen eher eine E-Gitarre mit auf die Bühne, als dass sie das Stück einer Frau als abendfüllendes Programm wählen.» Dabei könnte gerade die finanziell weniger vom Publikum abhängige Klassik mit gutem Beispiel vorangehen. Auch eine Frauenquote als bindende Massnahme scheint Kuliew sinnvoll: «Häufig wird ein unbekanntes Stück vor der Pause mit einem bekannten Werk nach der Pause kombiniert. Warum kann denn Ersteres nicht von einer Frau stammen? Emilie Mayer zusammen mit Beethoven, zum Beispiel, das wäre auch die perfekte Kombination fürs Marketing.»

Dass Frauen nicht dazu geeignet wären, massenhaft Publikum anzuziehen, hält Kuliew für eine völlig überholte Idee. «Warum sollten wir Ethel Smyth oder Florence Price nicht genauso hypen, wie wir das bei Beethoven oder Mahler tun?», sagt sie. Immerhin hätten diese bewegte Leben geführt, ihr reichhaltiges Schaffen stehe dem ihrer männlichen Berufskollegen in nichts nach. Gerade bei hierarchisch organisierten Orchestern würde es eigentlich schon reichen, dass ein oder zwei Akteur:innen – die Intendantin und der Dirigent zum Beispiel – der von Frauen komponierten Musik ihr Gütesiegel verleihen, dann würde diese auch gespielt werden. «Weshalb sollten wir also noch weitere zwanzig Jahre darauf warten?», fragt Kuliew.

Jahrhundertealter Missstand

Anruf bei der Tonhalle und dem BSO: Dort ist die Thematik bekannt, und das Ungleichgewicht wird unisono bedauert. «Wir bemühen uns um die Korrektur eines Jahrhunderte währenden Missstands», sagt Florian Scholz, Intendant des BSO. In dieser Saison werden in Bern drei von Frauen komponierte Werke auf die Bühne gebracht, schon dieses Aufblitzen von Komponistinnen müsse dem Programm abgerungen werden. Er entscheide ja nicht im Alleingang, welche Werke gespielt würden, sagt Scholz: «Auch Dirigentinnen, mit denen ich zusammenarbeite, wollen eher Mahler aufführen anstelle einer zeitgenössischen Komponistin.»

Ähnliches lässt das Tonhalle-Orchester verlauten: «Natürlich kann es so nicht weitergehen», sagt die Intendantin Ilona Schmiel. Wichtigstes Kriterium sei aber immer die künstlerische Qualität des Gesamtprogramms, hinter dem «eine dramaturgische Aussage» stehen müsse. «Danach erst kommt die Frage, wer das Werk geschrieben hat.» Dass dies häufig ein männlicher Komponist sei, erklärt Schmiel auch mit der fehlenden Sichtbarkeit von Komponistinnen.

Gerade aber eine solche Logik führt dazu, dass weibliche Komponistinnen auch weiterhin in die Nische gedrängt werden – während männliche Künstlergenies Sichtbarkeit erhalten, die stets noch mehr Sichtbarkeit nach sich zieht. Auch die Tonhalle habe das Problem erkannt, sagt Schmiel: «Man kann diese Logik nur durchbrechen, indem wir einzelne Komponistinnen intensiv programmieren, wie wir das in der nächsten Saison mit Anna Thorvaldsdottir tun werden.» Beide Betriebe betonen, dass sie einen Wandel begrüssen würden und auch aktiv mitgestalten wollen. Dieser beanspruche aber Zeit und sei für etablierte Betriebe ungleich schwieriger als für ein Festival, das sich die Thematik explizit auf die Fahne schreibe.

Einig sind sich die grossen Häuser und das kleine Festival zumindest darin, dass Veränderung auf vielen Ebenen gleichzeitig stattfinden muss: von der Ausbildung über die Programmierung bis hin zum Publikum. Deswegen wird Female Classics nächstes Jahr kein Festival organisieren, sondern die Energien in Bildungsarbeit an Schulen und Hochschulen investieren. «Wir wollen nicht primär ein Festival sein, sondern ein Netzwerk», sagt Kuliew. Dezentral ansetzen, um langsam, aber stetig den ganzen Betrieb in Bewegung zu bringen, das sei die Idee. «Wir füllen jetzt die Bildungslücken, damit es uns in zehn Jahren nicht mehr braucht.»

Female Classics Festival: am 15. März 2024 in Winterthur und vom 17. bis 23. März 2024 in Zürich. www.femaleclassics.com/festival